Entfesselter Rassismus in der Coronakrise: „Er sagte, man müsse mich mit Sagrotan einsprühen“
Sie werden beleidigt, bespuckt, attackiert. In Deutschland häufen sich Angriffe auf Menschen asiatischer Herkunft. Eine Betroffene berichtet von ihrer Angst.
Zunächst fiel es ihr in der U-Bahn auf. Menschen, die sich nach dem Einsteigen zu ihr setzten oder direkt gegenüber, standen wieder auf, sobald sie bemerkten, wer da neben ihnen war. Wechselten den Wagen, stellten sich zur Not ins Fahrradabteil, bloß um ihr nicht nah sein zu müssen. Beim ersten Mal hielt sie es für Zufall. Nach dem fünften Mal nicht mehr.
Ein Freund, dem sie davon erzählte, meinte: „Na ja, die Leute fürchten sich halt. Das musst du verstehen.“ Und sie brauche nicht zu erwarten, dass Deutsche Asiaten irgendwie auseinanderhalten können. Sie sagt, das war nicht die Reaktion, die man sich von einem Freund erhofft.
Victoria Kure-Wu, 32, geboren in Bielefeld, wohnhaft in Berlin-Schöneberg, sagt auch, sie sei froh, dass sie inzwischen im Homeoffice arbeite. Dort könne sie zumindest niemand anpöbeln. Wagt sie sich doch vor die Tür, gehe sie „innerlich geduckt“ durch die Straßen. Angespannt und in Erwartung, dass „Menschen mich anschauen und in mir etwas sehen, das ihnen Angst macht“. Und dass diese Menschen dann aggressiv werden.
Seit das Coronavirus Deutschland erreicht hat, hat der Rassismus gegen Menschen, die selbst oder deren Vorfahren aus Asien stammen oder die im weitesten Sinne für Asiaten gehalten werden, enorm zugenommen. Es gibt Beleidigungen, Drohungen, körperliche Angriffe. Weil das Virus, nach derzeitigem Stand, zuerst in der chinesischen Millionenmetropole Wuhan auftrat, werden Menschen asiatischer Herkunft in Deutschland als Schuldige ausgemacht, als potenzielle Überträger, als ansteckende Gefahr.
Victoria Kure-Wu ist auf dem Bürgersteig, drei Minuten Fußweg von ihrer Wohnung entfernt, von einem Fremden angesprochen worden. Er sagte: „Dich sollte man mit Sagrotan einsprühen!“ Sie erschrak, ging erst weiter, drehte sich um, entschied dann, nichts zu erwidern, der Mann war größer als sie und wirkte körperlich überlegen. An einem Dienstag Mitte April sitzt sie abends auf einer Parkbank in ihrer Nachbarschaft und sagt: „Es ist ein Drecksgefühl, sich nicht wehren zu können.“
Der Drang, einer Minderheit die Schuld an der Verbreitung des Virus zu geben, lässt sich nicht nur in Deutschland beobachten – er ist so global wie die Pandemie selbst. Nur die Vorzeichen variieren. In Indien behaupten Hindu-Nationalisten, Muslime würden das Virus absichtlich verbreiten, um dem Land zu schaden, warnen vor „Corona-Dschihad“.
US-Präsident Trump nutzt die Pandemie, um härter gegen lateinamerikanische Migranten vorzugehen. Im südchinesischen Guangzhou gelten Menschen afrikanischer Herkunft als Krankheitsherde, Schwarze erfahren dort Diskriminierungen vom Restaurantverbot bis zum Passentzug. Häufig baut die Rollenverteilung, wer schützenswert und wer Sündenbock ist, auf lange eingespielten Ausgrenzungsmustern vor Ort auf.
Kure-Wus Mutter ist Japanerin, ihr Vater aus Taiwan, sie kamen vor 40 Jahren nach Deutschland. Übers Internet ist Victoria mit anderen Betroffenen vernetzt. Die berichten, wie sie auf der Straße angefeindet werden. Ein koreanisches Paar wurde vergangene Woche in Leipzig an einer Bushaltestelle von mehreren jungen Frauen als „Schlitzaugen“ und Hundefresser beschimpft, eine rief „Sieg Heil“ und zeigte den Hitlergruß.
Es existiert ein Video von diesem Vorfall, es liegt dem Tagesspiegel vor. Darauf sieht man auch, wie eines der Opfer bespuckt wird. Passanten, die vorbeikommen, greifen nicht ein.
Auf Facebook findet Kure-Wu etliche solcher Berichte. Erfährt von Verwünschungen, Drohbriefen, Hakenkreuz-Schmierereien an asiatischen Restaurants. Vielleicht, denkt sie manchmal, sollte sie sich das nicht alles durchlesen. Kann doch nicht gesund sein für die eigene Psyche. Aber andererseits: Wenn nicht mal sie das liest, wer dann?
Nach der Begegnung mit dem Mann, der wünschte, man würde sie mit Sagrotan einsprühen, hat sich Kure-Wu überlegt, einen Schlagring zu kaufen, für den Fall der Fälle. Sie erzählte einem Kollegen davon, der war schockiert und sagte: „Du weißt schon, dass du damit dauerhaft jemanden verletzen kannst?“ Da habe sie sich über sich selbst erschrocken und die Idee verworfen.
Was es jetzt bräuchte, sagt sie, wäre eine zentrale Anlaufstelle, eine Webseite, auf der sich Betroffene von Corona-Rassismus austauschen können, Zuspruch erhalten, auch einen Überblick über Hilfsangebote und Ansprechpartner finden. Victoria Kure-Wu hat Design studiert, entwirft Konzepte für Webseiten. Als die Bundesregierung vergangenen Monat einen Hackathon initiierte, einen Online-Wettbewerb, in dem Freiwillige Ideen für IT-Projekte im Kampf gegen Corona entwickeln, reichte Kure-Wu gemeinsam mit einigen Mitstreitern ein Konzept für ebensolch eine Webseite ein. Den Siegerprojekten wurde Förderung in Aussicht gestellt.
„Unser Vorschlag hat es nicht einmal unter die 200 vorderen Plätze geschafft“, sagt sie. Und dass sie in ihrer Enttäuschung dann nachgeschaut habe, wie die Jury des Wettbewerbs besetzt war: mit Politikern, hohen Beamten und Unternehmern, oder eben auch: mit lauter Peters und Benjamins, Katjas und Philipps. „Das könnte eine Erklärung sein.“
Ihre Webseite wollen sie jetzt trotzdem bauen. Weitere Freiwillige haben sich dem Projekt angeschlossen, im Mai soll ichbinkeinvirus.org online gehen.
Vor Corona, sagt Victoria Kure-Wu, habe sie auch schon Rassismus erlebt. Asiaten gelten in Deutschland im Zweifel als fleißig, diszipliniert, gehorsam. Das ist ebenfalls stigmatisierend, fühlt sich unangenehm an und setzt unter Druck. Aber dieser Rassismus sei für Außenstehende nicht so offensichtlich wie jener, unter dem etwa Menschen türkischer oder arabischer Herkunft leiden.
Diese Tatsache, berichten auch Opferorganisationen, hat dazu geführt, dass Rassismus gegen Asiaten wenig beachtet wurde. Dass er quasi nebenher existierte, weil es Drängenderes zu bekämpfen gab.
Victoria Kure-Wu wurde einmal gefragt, ob sie mit ihren Augen anders sehe, so mehr mit Panoramablick, nach oben und unten begrenzt. Auf Tinder verrieten ihr Männer, sie wollten „schon immer mal eine Asiatin im Bett haben“, erkundigten sich, ob sie auch schön devot sei.
Sie erlebte augenfälligen Rassismus wie den im Fall ihres früheren Chefs, der sich einen ihrer Texte mit dem Kommentar „Mal gucken, ob dir das Projekt Integration gelungen ist“ vornahm, mit dem Rotstift angebliche Fehler markierte und das Ganze mit dem Fazit „Sechs, setzen“ an alle Kollegen verschickte.
Meist war der Rassismus jedoch subtiler, schwer zu greifen oder gar zu belegen. „Ich werde niemals erfahren, ob es an meinem Nachnamen liegt, dass ich in Berlin noch nie eine Wohnung als Hauptmieter bekommen habe.“ Als sie vor Jahren nebenher in einem Callcenter arbeitete, stellte sie sich irgendwann nur noch mit Carola Müller vor, das schreckte weniger ab.
Der anti-asiatische Rassismus, der schon immer existierte, tritt jetzt enthemmter zutage, sagt Sina Schindler vom Verein „korientation“, einem Netzwerk für asiatisch-deutsche Menschen. Dass die Übergriffe ein so erschreckendes Ausmaß annehmen, liege auch daran, dass sich Täter sicher fühlten. Dass sie glauben, ihren Hass derzeit konsequenzlos ausleben zu können – in Form von Drohungen, Beleidigungen, körperlichen Attacken. Schindler berichtet von Menschen, die in Arztpraxen abgewiesen werden, weil sie asiatisch aussehen.
Beigetragen zur Verrohung des Klimas hätten auch die Medien, die mit stereotypen Darstellungen diffuse Ängste weckten, das Virus zu einer Gefahr aus Asien stilisierten. Es begann Anfang Februar, Deutschland hatte gerade seinen sechsten offiziellen Corona-Fall, als der „Spiegel“ seine Titelgeschichte über das Virus mit einem asiatischen Mann im Schutzanzug bebilderte, dazu der Slogan „Made in China“, in gelber Schrift. Die „Bild“ fragte, ob man jetzt noch Glückskekse essen könne.
Seitdem, sagt Schindler, werden Artikel über das Virus in Deutschland immer wieder mit Fotos asiatischer Menschen bebildert. Selbst für einen Bericht zur Frage, warum Adidas während der Pandemie keine Gewerbesteuer zahlen will, muss ein Asiate mit Mundschutz herhalten. Schindler sagt: Wir erleben jetzt, dass mediales Framing sehr reale Konsequenzen hat. Auch schwere Gewalttaten seien inzwischen denkbar.
„Einige Ältere sind verunsichert, ziehen sich aus Angst vor Angriffen zurück.“ Unter den Jüngeren nimmt sie dagegen etwas anderes wahr: den Wunsch nach Austausch, den Drang, sich zusammenzuschließen und aktiv zu werden. Sich dem Rassismus entgegenzustellen.
Auch die Mehrheitsgesellschaft erkenne zunehmend das Problem. „Im Grunde ist es wie mit dem Virus selbst: Von vielen wird es nicht ernst genommen. Jetzt zeigt sich aber immer deutlicher, wie bedrohlich die Folgen sind.“
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Zu den Ausflüchten, die Betroffene zu hören bekommen, wenn sie auf Rassismus hinweisen, gehört auch: War doch lustig gemeint. Zum Beispiel vergangenes Jahr, als die Baumarktkette Hornbach in ihrer Fernsehwerbung eine asiatische Frau zeigte, die lustvoll an getragener Unterwäsche roch. Oder diesen März, als Franziska van Almsick in einer Quizshow saß und – als der Themenbereich Asien an die Reihe kam – unvermittelt mit künstlich piepsiger Stimme „Ching, Chang, Chong“ einwarf.
Victoria Kure-Wu, die Webseiten-Konzepterin aus Schöneberg, sagt, viele Deutsche wüssten womöglich nicht, dass es sich bei der Redewendung um eine Beleidigung gegen Asiaten handelt. „Aber können sie es nicht wenigstens ernst nehmen, wenn Betroffene sich davon verletzt fühlen und es dann ansprechen?“
In diesen Wochen sei sie von Bekannten ohne Migrationshintergrund öfters enttäuscht worden. Statt Solidarität gab es Beschwichtigungen wie „Mir ist das auch schon mal passiert“ oder „Das hast du wohl in den falschen Hals gekriegt“. Manche fühlen sich angegriffen, wenn Kure-Wu, um ihre eigene Situation zu beschreiben, von Mehrheitsdeutschen als „Weißen“ spricht. Das sei doch ebenfalls Rassismus.
Zu Hause in Bielefeld ist auch ihre Mutter kürzlich angefeindet worden. Auf einem Markt verfolgten sie acht Jugendliche, skandierten „Corona“. Sie machte ein Foto von ihnen, ging zur Polizei, die Beamten haben den Jugendlichen Platzverweise erteilt.
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Kure-Wu sagt: „Wir haben uns nichts zuschulden kommen lassen.“ Sie selbst bekam zu Unizeiten ein Stipendium von der „Studienstiftung des deutschen Volkes“, erhielt Preise für ihre Arbeiten. „Irgendwie habe ich mir erhofft, dass das reichen sollte, um dazuzugehören.“
Auf der anderen Seite, sagt sie, sei es schon seltsam, dass sie sich überhaupt in der Pflicht fühle, auf die makellose Biografie ihrer Familie hinzuweisen. Irgendwie belegen zu wollen, dass sie ja versuche, die gute Ausländerin zu sein. Wie nach dem rechten Attentat von Hanau im Februar. Als die Mutter eines der Erschossenen von einem Fernsehteam interviewt wurde, war das Erste, was sie sagte: „Ich kannte alle Opfer. Keines von ihnen war arbeitslos.“
Vor einigen Tagen bat Kure-Wu Freunde um Tipps: Wer könne Musik von Menschen asiatischer Herkunft empfehlen? Sie wolle sich zu Hause „etwas verbundener fühlen mit irgendwas“.
Es ist ein Reflex, sagt sie jetzt beim Gespräch auf der Parkbank. „Wenn ihr mich nicht haben wollt, wenn ich mich nicht mit Deutschland identifizieren darf, dann brauche ich eben eine Alternative.“ Das Problem sei halt, dass sie in Ostwestfalen aufgewachsen ist. Sie war lange im Schützenverein, kann Luftgewehr und Armbrust schießen. Ging jedes Jahr am Weltspartag zur Sparkasse, liebte das Karussell auf dem Weihnachtsmarkt. „Die asiatische Kultur, die muss ich erst für mich entdecken, das muss ich jetzt nachholen.“ Auf Netflix hat sie einige Filme gefunden, „Crazy Rich Asians“, „Tigertail“ – völlig andere Dramaturgie, sagt sie. Aber sehr reizvoll.
Update 29.05: Die Seite ichbinkeinvirus.org, auf der sich Betroffene von Corona-Rassismus austauschen können und einen Überblick über Hilfsangebote und Ansprechpartner finden, ist jetzt online.