Vor Linken-Europaparteitag: "Bei der Europawahl droht ein weiterer Rechtsruck"
Wie EU-skeptisch ist Die Linke? "Unsere Kritik unterscheidet sich von der Kritik der Rechten fundamental", sagt Europa-Politiker Martin Schirdewan im Interview.
Herr Schirdewan, haben Sie eine Gelbweste?
(lacht) Nein, habe ich nicht. Ich habe zwar einen Führerschein, aber ich bin kein Autofahrer. In der Großstadt braucht man erfahrungsgemäß kein Auto.
Und für den Straßenprotest brauchen Sie auch keine?
Ich empfinde Solidarität für die Leute, die im Moment gegen soziale Ungleichheit auf die Straße gehen, in Frankreich, aber auch in anderen Ländern Europas. Die sozialen Ungleichheiten haben enorm zugenommen. Die Politik, die dem zugrunde liegt, muss auch adressiert werden. Es ist völlig in Ordnung, wenn sich die Leute gegen die inakzeptable Situation zur Wehr setzen, in die sie immer häufiger gebracht werden.
Die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht glaubt, die Gelbwesten-Proteste ließen sich auf Deutschland übertragen. Wie sehen Sie das?
Wir sollten im vor uns liegenden Europa-Wahlkampf durchaus mit Protesten arbeiten. Wir müssen mit einem rebellischen, einem widerständischen Wahlkampf versuchen, die Leute zu erreichen. Ob die Proteste der Gelbwesten jetzt eins zu eins übertragbar sind, da bin ich eher skeptisch. Ich sehe in Deutschland nicht das Potenzial, dass jedes Wochenende Zehntausende auf die Straße gehen.
Wie europa-skeptisch ist Die Linke?
Wir kämpfen für einen grundlegenden Politikwechsel auf europäischer Ebene – und haben da als Linke auch schon viel erreicht. Die Situation von Whistleblowern wurde verbessert, wir haben Verbraucherschutz-Initiativen durchgesetzt, Arbeitnehmer-Rechte gestärkt, gegen das Steuerdumping von Unternehmen gekämpft. Wir machen eine klare linke Europa-Politik. Und die ist natürlich so ausgerichtet, dass da eine Kritik mitschwingt an der herrschenden Politik. Das ist doch selbstverständlich.
Die Linke hat in der Vergangenheit dezidiert auch mit Europa-Skepsis Stimmung gemacht. Vor der letzten Europawahl hat der frühere Parteivorsitzende Oskar Lafontaine der Linken eine Debatte um den Euro aufgedrückt. Ist die Partei inzwischen weniger kritisch mit der EU?
Kritik muss da geäußert werden, wo sie berechtigt ist. Wir tun das, beispielsweise wenn es um das Demokratiedefizit auf europäischer Ebene geht, um den Einfluss des Lobbyismus. Da muss man den Finger in die Wunde legen. Trotzdem hat mittlerweile eine Akzentverschiebung dahingehend eingesetzt, dass das Verständnis herrscht in der Gesellschaft, dass sich viele politische Fragen nur noch international lösen lassen. Und damit oft auch auf europäischer Ebene. Das teilen auch wir als Linke. Wir reden ja nicht nur von Krieg und Frieden oder vom Klimawandel, wer möchte das denn noch national lösen? Wir reden auch davon, dass transnationale Konzerne hunderte Milliarden von Euro jährlich prellen. Dem muss durch ein internationales Steuersystem entgegengetreten werden. Auch die Arbeit der Gewerkschaften muss internationalisiert werden.
Die EU hat die Banken gerettet und tut zu wenig für die Menschen - richtig oder falsch?
Absolut richtig.
Viele rechte Parteien punkten mit anti-europäischer Stimmung. Wie groß ist die Gefahr, dass Die Linke hier in eine Art Überbietungswettbewerb gerät?
Diese Gefahr sehe ich überhaupt nicht. Unsere Kritik an der EU unterscheidet sich fundamental von der, die von rechter Seite geäußert wird. Wir verteidigen demokratische Werte, Bürgerrechte und Freiheitswerte. Unser Ansatz ist immer der einer internationalen Solidarität. Wir sind klar dagegen, Rassismus und Nationalismus wieder salonfähig zu machen. Dass die Rechte europaweit an Kraft und vielleicht auch politischer Durchsetzungsfähigkeit gewinnen könnte, macht mir große Sorgen.
Was befürchten Sie konkret?
Schon jetzt gehören jenseits der konservativen Abgeordneten rund 20 Prozent der Parlamentarier europafeindlichen Rechtsaußen-Parteien an. Da gibt es im Moment Versuche zu sammeln, initiiert vor allem vom US-amerikanischen Publizisten Stephen Bannon. Der Lega-Nord-Politiker Salvini hat sich angeschlossen, Ungarns Präsident Orbán sympathisiert. Auch andere, wie FPÖ-Chef Strache, die hier in Deutschland von der AfD als natürliche Verbündete angesehen werden, wollen sich offenbar anschließen. Wenn es der Rechten gelingt, im nächsten Europaparlament mit einer großen gemeinsamen Fraktion zu arbeiten, droht ein weiterer Rechtsruck, auch in der praktischen Politik der EU.
Welche Rolle wird das Thema Flüchtlinge im Wahlkampf spielen? Wie positionieren Sie sich in dieser Diskussion, die ja auch Die Linke intern immer wieder beschäftigt hat, persönlich?
Es wird Versuche gerade von rechts geben, das Thema zu instrumentalisieren und Geflüchtete als Sündenböcke zu benennen. Ich finde, Die Linke hat als Partei eine gute Position erarbeitet: Wir treten für eine offene und solidarische Gesellschaft ein. Das schließt die Bekämpfung von Fluchtursachen ebenso ein wie das Eintreten für offene Fluchtkorridore, damit die Leute nicht ihrem fatalen Schicksal überlassen bleiben.
Der Parteivorstand hat am Wochenende den Entwurf des Europawahlprogramms entschärft. Es fehlt jetzt die Passage, laut der die Grundlagen der EU „militaristisch, neoliberal und undemokratisch“ seien. Wird es auf dem Parteitag dennoch Debatten geben, ob die Kritik an der EU nicht doch deutlicher formuliert werden muss?
Die Diskussion im Parteivorstand war sehr konstruktiv. Entsprechend erwarte ich das für den Parteitag. Dass es in der Partei unterschiedliche Facetten bei der Sicht auf die europäische Integration gibt, ist ja ganz klar. Das gehört zu so einem demokratischen Laden dazu.
Martin Schirdewan (43) ist designierter Spitzenkandidat der Linkspartei zur Europawahl - gemeinsam mit der NRW-Politikerin Özlem Demirel. Offiziell gewählt werden soll am Wochenende in Bonn. Schirdewan war für die parteinahe Rosa-Luxemburg-Stiftung tätig in Brüssel, Athen und Madrid und zog im Herbst 2017 - als Nachfolger des in den Bundestag gewählten Fabio de Masi - als Nachrücker ins Europaparlament ein. Martin Schirdewan ist Enkel des KPD/SED-Politikers Karl Schirdewan.