Proteste in Frankreich: Soziologe hält Gelbwesten-Bewegung für nicht exportierbar
Die protestierenden Gelbwesten sind zu französisch, um jenseits der Grenzen Erfolg zu haben, meint der Soziologe Dieter Rucht. Und prophezeit ihr baldiges Ende.
Der Soziologe Dieter Rucht hält die Protestbewegung der Gelbwesten in Frankreich für spezifisch französisch; sie werde "kaum in anderen Ländern Fuß fassen". "Spezifisch national" sei zum Beispiel die soziale und ökonomische Situation derer, die sie tragen und die vor allem außerhalb der großen Ballungszentren leben, schreibt Rucht in seiner neuen Studie "Die Gelbwestenbewegung - Stand und Perspektiven", die dem Tagesspiegel vorliegt.
Weite Teile der Bevölkerung seien trotz höheren Mindestlohns als in Deutschland und früherem Renteneintritt sozial "eher prekär" abgesichert. Zudem werde das Leben im ländlichen Frankreich immer schwieriger, weil Frankreich, das fast doppelt so groß wie Deutschland sei, aber nicht einmal halb so dicht besiedelt, die Infrastruktur auf dem Land abbaue oder verfallen lasse.
Nicht völlig abgehängt, aber ärmer als der Schnitt
Der in der unteren Mittelschicht weit verbreitete Eindruck, man lebe schlechter als früher und dabei gehe es nicht gerecht zu, werde durch ökonomische Daten gestützt. Eine weitere Rolle spiele der französische Zentralismus, gegen den die Gelbwesten eine Verteilung der Macht von oben nach unten fordern. Sie fordern Referenden, Bürgerversammlungen oder die Abschaffung von Institutionen wie dem Senat. Der monarchisch-pompöse Politikstil des Staatspräsidenten Emmanuel Macron wirke dabei verstärkend, er habe "die Kluft zwischen Regierung und Regierten" vergrößert.
Rucht beschäftigt sich seit den späten 1970er Jahren mit Protest und sozialen und politischen Bewegungen. Bis 2011 leitete er eine Forschungsgruppe zu Bürgerschaft und politischer Mobilisierung in Europa am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).
Die "gilets jaunes", die seit Oktober 2018 das westliche Nachbarland Deutschlands in Atem halten, protestierten anfangs gegen Erhöhung der Benzinpreise wegen steigender Steuern, beim ersten landesweiten Auftritt am 17. November gingen 282.000 Französinnen und Franzosen in den neongelben Warnwesten auf die Straße, die in Frankreich in jedem Auto vorgeschrieben sind. Die meisten von ihnen gehören, wie Rucht unter Hinweis auf französische Studien rekapituliert, den "classes populaires" an, sind also auf deutsch "kleine Leute". 33 Prozent sind Angestellte, 14 Prozent Arbeiterinnen und Arbeiter, ein Zehntel arbeitet im Handwerk und Kleinhandel. Ihr mittleres Einkommen liegt etwa 30 Prozent unter dem Schnitt der Gesamtbevölkerung, 54 Prozent sind Männer, also ein etwas höherer Anteil als im Bevölkerungsschnitt. Die Bewegung #aufstehen der Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht hatte an diesem Wochenende auch in Deutschland zu sozialem Protest nach französischem Vorbild aufgerufen. An der Aktion "Bunte Westen" beteiligten sich in 14 Städten etwa 2000 Menschen.
Frankreichs Empörte sind eher links als rechts
Die Gelbwesten sind, so Rucht, "eine Bewegung derer, die nach Einkommen und Ausbildung eher zur unteren Hälfte der Bevölkerung, aber nicht zu den ganz Marginalisierten gehören". Die Erhöhung der Kaufkraft ist denn auch eine zentrale und von allen akzeptierte Forderung der Gelbwesten, während viele andere Wünsche, wie Rucht schreibt, inzwischen nur von einigen geteilt würden oder mit anderen in Widerspruch stünden. Die Bezeichnung "Wutbürger" passe weniger auf sie. Die Gelbwesten kämen vor allem von unten und erschreckten gutsituiertes Bürgertum eher, als es anzuziehen. Er bescheinigt der Bewegung auch, eher links denn rechts zu stehen. Während sich ein Drittel der Gelbwesten in einer Befragung weder rechts noch links verorten wollte, zählten sich von den übrigen zwei Dritteln 42 Prozent zur gemäßigten Linken, 15 Prozent bezeichneten sich als extrem links, sechs Prozent als Mitte. Rechts sortierten sich 12 - die gemäßigt Rechten - beziehungsweise 5,4 Prozent - die extremen - ein. Die Gelbwesten seien zwar anti-elitär, aber das verbinde sich nicht mit einer "Stilisierung des Volkes als einer reinen und authentischen Kraft", es werde weder eine ruhmreiche nationale Vergangenheit verklärt, noch Heimat oder Tradition. Fremdenhass sei in einer derart breiten Bewegung "mit Sicherheit vorhanden, aber bislang in öffentlichen Äußerungen von Gelbwesten kaum prominent zutage getreten".
Es fehlen Führung und Strategien
Rucht ist allerdings skeptisch, ob die Gelbwesten Zukunft haben. Er stellt einige untypische Entwicklungen fest: Ihr erster nationaler Aufschlag Mitte November mit 3000 Protestorten und fast 300.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern war auch ihr größter, danach nahmen die Zahlen deutlich ab und erst während der letzten Samstagsproteste wieder langsam zu. Sie hätten auch immer noch keine Führungsstrukturen oder charismatische Persönlichkeiten, es herrsche "strukturelles Chaos". Dabei seien Struktur und Strategie schon deshalb notwendig, um der Politik von Zuckerbrot und Peitsche der Regierung Macron etwas entgegenzusetzen, die teils Forderungen der Gelbwesten erfüllt, sie andererseits mit oft brutalen Polizeieinsätzen und verbalen Angriffen traktiert.
Es sei deshalb unrealistisch zu glauben, schreibt Bewegungskenner Rucht, "die Bewegung könne sich in ihrer derzeitigen Form als eine relevante politische Kraft über Monate oder gar Jahre erhalten". Selbst wenn sie es schaffe, ihren "ohnehin prekären Zusammenhalt" zu wahren, sei sie in Gefahr, mangels Perspektive "zu versanden". "Für weitaus naheliegender halte ich jedoch ein vorzeitiges Ende der Bewegung, weil sie sich entlang einer Reihe von Streitfragen (links oder rechts; friedlich oder militant; Bewegung oder Partei; moderate Reformen oder grundlegende politische Umwälzung) in ihre Einzelteile zerlegen wird."