Leben in der Leistungsgesellschaft: Begabte Kinder oder was Eltern wollen
"Jeder will ein begabtes Kind", sagt eine Mutter. "Ich vermesse keine Kinder", die Psychologin. Manchmal scheint es, als habe Begabung keine Minute mehr zu verlieren. Dabei sollen Kinder glücklich sein. Was heißt Begabung eigentlich?
Es muss kalt sein in Nowosibirsk, und ehrlich gesagt, man hat schon überhaupt keine Lust mehr, sich um die Begabung zu kümmern. Lauter hässliche Wörter stehen im Weg. Wörter wie Potenzial und Ressource, wie Leistungsrendite. Sie erinnern eher an Aktienhandel als an eine Leichtigkeit beim Tanzen. Junge Models haben Potenzial, junge Fußballer ebenfalls. Kinder haben Begabungsressourcen und können, wie eine kürzlich veröffentlichte Studie zeigte, bereits im Alter weniger Monate auf ihre Eignung für Mathematik getestet und systematisch gefördert werden. Es scheint, die Begabung hat keine Minute mehr zu verlieren. Zumindest wenn es nach einem international renommierten Begabungsforscher wie Professor Albert Ziegler geht.
Leben in einer Leistungsgesellschaft
Der Lehrstuhlinhaber für Pädagogische Psychologie an der Universität Erlangen fordert Strenge, und er lobt Nowosibirsk, genauer die dortige Schule für mathematisch begabte Kinder, wo man um 7.15 Uhr frühstückt, um 8.30 Uhr mit dem Unterricht beginnt und – minus drei Pausen – durchhält bis abends fünf vor halb zehn. Würde man das Pensum mit dem unserer Schüler vergleichen, schreibt der Professor in einem Aufsatz über „Förderung und Exzellenz“, sei klar, warum das deutsche Mathe-Team „chancenlos“ sei.
Chancenlos. Noch so ein Wort, das so tut, als sei Begabung nichts anderes als die Voraussetzung für Leistung, ein unerbittlicher Arbeitsauftrag, der keine Freistunden duldet. In seinem Schatten lauert die Beschämung. Wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum es oft schwierig ist, über Begabung zu reden. Warum häufig der Eindruck von Enge und Ängstlichkeit zu spüren ist.
"Jeder will ein begabtes Kind"
Eine führende Mitarbeiterin der bedeutendsten Begabtenstiftung des Landes zum Beispiel spricht über Begabung als Auftrag zu Verantwortung und gesellschaftlicher Teilhabe. Sie spricht über Gerechtigkeit, über die Begabung als Chance. Gefragt, was sie am meisten beeindrucke, antwortet sie „Mut“, und in der Auswahlsituation sei es „der Mut, zu sich zu stehen“. Es ist ein strahlendes Bild, und doch weht ein kühler Luftzug, der selbst die Erwähnung der kleinsten Schwäche verbietet.
Eine Doktorandin der Kunstgeschichte kennt das innere Diktat. Immer sei ihr alles leichtgefallen, sagt sie. Und jetzt? Jetzt wird sie 30, und die Promotion ist nicht fertig. Allein der Gedanke daran belastet sie. Es werde aussehen, als sei sie aus dem Tritt gekommen und habe den Kontakt zur Spitzengruppe verloren, sagt sie und lächelt entschuldigend. Die Phrase sei ihr peinlich, aber es falle ihr im Augenblick keine andere Erklärung ein. „Wir leben nun mal in einer Leistungsgesellschaft.“ Dieser Satz wiederholt sich. Er klingt nicht immer resigniert.
Die Mutter eines lernstarken kleinen Jungen spricht ihn triumphierend aus. Sie hält es für die Signatur der Verlierer, in seiner Gegenwart zu frösteln, für ein Zeichen von Neid und Missgunst denen gegenüber, die den Wettbewerbsvorteil auf ihrer Seite haben. Nun muss man sagen, dass es sich bei dieser Mutter um eine geradezu fanatische Anhängerin der 130-Punkte-IQ-Hochbegabungsgrenze handelt. Sie sei dem Schicksal dankbar, erzählt sie in der Pause einer Informationsveranstaltung eines Berliner Instituts für Hochbegabtenförderung, dass es ihr durch eine Fehlgeburt vor langer Zeit ein behindertes Kind genommen und wenige Jahre später einen Sohn mit einem IQ-Wert in den 140ern geschenkt habe. „Diese Dankbarkeit ist doch natürlich“, blafft die Mutter. „Jeder will ein begabtes Kind.“
„Ich vermesse keine Kinder“
In Wahrheit ist es nicht so schlimm. Die für Intelligenzdiagnostik zuständige Psychologin an der CJD Braunschweig jedenfalls, einem durch das Christliche Jugenddorfwerk Deutschland e. V. getragenen und auf individuelle Begabungsförderung spezialisierten Schulverbund, warnt davor, sich auf extreme Fälle zu beschränken. Sie kenne selbstverständlich solche Leute, sagt sie: Eltern, die ihr Kind dazu benutzen, sich narzisstisch aufzuwerten, und entsprechend säuerlich reagieren, wenn sich beim Test herausstellt, dass für die kindliche Ungeduld eben doch kein hoher IQ verantwortlich ist. „Schrecklich.“ Die Psychologin gruselt sich.
Ihrer Erfahrung nach ist diese Haltung aber nicht mehrheitsfähig. „Die meisten Eltern wünschen sich ein normalbegabtes Kind“, sagt sie. Ihr selbst sei es völlig egal, ob ein Kind begabt ist oder nicht. Sie möge ein Kind nicht lieber, bloß weil es hochbegabt ist. Und sie ermittle hier auch nicht den Intelligenzquotienten, sondern versuche herauszufinden, was da für Kind vor ihr sitzt. „Ich vermesse keine Kinder“, sagt die Psychologin ruhig und entschieden und erwähnt, dass sie niemals das mathematische Gleichheitszeichen im Zusammenhang mit Intelligenzquotienten benutzt.
Wie Talente berühren
Jenes fehlende Gleichheitszeichen ist der erste zärtliche Gedanke. Ein offenes Fenster im stickigen Raum der Konkurrenz. Man blickt hindurch und erkennt vielleicht das Entscheidende: dass es nämlich keine exakten Definitionen gibt. Dass Begabung ein Konstrukt ist, ein Erklärungsversuch. Man kann sie nicht messen, nicht fotografieren. Zu sehen ist nicht die Begabung, sondern Roger Federer, der einen Volley spielt und dazu schwebt wie ein Tänzer. Ein pickliger Teenager, der den Chemielehrer mit einer seiner täglichen Nachfragen in Verlegenheit bringt. Die Aufzählung könnte weitergehen.
Jeder Mensch trägt Bilder mit sich herum. Das einer jungen Schauspielerin etwa. In der Rolle der Johanna von Orleans steht sie auf der Bühne des Deutschen Theaters in Berlin und rührt ihre Zuschauer zu Tränen. Genau genommen sieht man sie nicht selbst, sondern hört, wie eine ihrer ehemaligen Lehrerinnen auf der Schauspielschule, die Schriftstellerin und Professorin für Verssprache Ines Geipel, von ihr erzählt.
Rotz und Wasser habe sie heulen müssen, sagt Ines Geipel. Sie habe gar nicht aufhören können, draußen, nach der Vorstellung. So stark und überwältigend sei es gewesen. Dieses Es, das man hilfloserweise auch „die Verlorenheit der Figur“ und „Einsamkeit“ nennen könnte. In Gestalt Kathleens Morgeneyers habe es dagestanden, ganz schlicht und mit im Grunde nichts in der Hand. „Und doch“, sagt Ines Geipel, „alles war da.“
Schattenseiten von Leistungsdenken
Es ist ein sehr grauer Nachmittag, und dass es angenehm ist, dieser Beschwörung einer Begabung zuzuhören, liegt daran, dass das Wort Begabung darin nicht vorkommt. Ines Geipel meidet den Begriff. Sie sagt Schönheit stattdessen. Gefragt nach ihren eigenen Talenten, sendet sie einen zögerlichen Blick. Als sei das Wort ein Schatten. „Verknüpft mit Konflikt“, mit dem Leistungsbefehl des Vaters, mit dem Zwangsdoping in der DDR, mit Verrat und einem jungen Mädchen, das den Auftrag hatte, stark und unverwundbar zu sein. „In der Schule hatte ich alles Einser“, sagt Ines Geipel, „aber es hat keine Rolle gespielt. Genauso wenig wie der Weltrekord, der zu Hause auch keine Rolle gespielt hat.“ Es habe nie genügt. Bestimmt könne man verstehen, dass jemand mit einer solchen Leistungsthematik Druck nicht mag und Auswahlsituationen auch nicht, und dass so jemand in der Rolle als Professorin der Ernst-Busch-Hochschule am liebsten den Kopf einzieht, wenn er mitentscheiden soll, ob ein Mensch angenommen wird oder nicht.
Eine Denkgeschwindigkeit. Eine Markierung auf der Gauß’schen Normalverteilungskurve oder die Kunst der Kathleen Morgeneyer, in der Rolle der Johanna langsam einen Arm zu heben. Die Art und Weise, über das Phänomen der Begabung zu sprechen, verrät viel über den dazugehörigen Blick auf die Welt. Wie schaut jemand auf Menschen und das, was sie mitbringen? Schaut er überhaupt auf einzelne Menschen, erzählt er beispielsweise von der Sehnsucht eines Sparkassenangestellten nach Maria Callas, oder zeigt er auf ein Boot mit afrikanischen Flüchtlingen und sagt „wir vergeuden Potenzial“?
Was Begabung überhaupt bedeutet
Der Begabungsdiskurs gleicht einem Minenfeld. Und es kann niemanden überraschen, dass sich Experten hier selbst über den groben historischen Werdegang nicht einig werden. Während ein Forscher wie Albert Ziegler die Geschichte des modernen Begabungsbegriffs als Prozess einer „allmählichen Verwissenschaftlichung“ erklärt, der die ersten wichtigen Impulse aus der Leistungsethik des Protestantismus, der Renaissance und deren „Gedanken der sinnvollen Nutzung von Begabung“ empfängt, betont der Pädagogikprofessor Timo Hoyer die historischen Brüche. Aber vielleicht erst einmal ganz einfach am Wort entlang.
Im jedem guten Wörterbuch steht: Begabung kommt von begaben, was nichts anderes als beschenken heißt. Begabt kann man in diesem Sinn mit allem Möglichen sein. In den Worten des Dichters Johann Balthasar Schupp waren Adam und Eva im Stand ihrer Unschuld „mit dem Ebenbild Gottes begabt“. Die Einwohner Salzburgs hingegen waren, dem sensiblen Empfinden Thomas Bernhards nach, „mit großer Gemeinheit und Niederträchtigkeit begabt“. Begabt sein lässt sich mit Geld und Schönheit, mit Witz und Klugheit und einem guten Gehör. Der Clou ist: Diese ursprünglich antike und dann mittelalterliche Idee der Gabe gehört keiner Person.
Anders als den heutigen auf Pisa-Studien und frühkindliche Förderung fixierten Zeiten hat die Frage, wie (ungewöhnlich gute) Leistungen erklärt und auf ihre Bedingungen hin befragt werden können, die Menschen lange Zeit nicht interessiert. Timo Hoyer stellt diesen Gedankensprung heraus: „Wo wir überdurchschnittliche Lern- und Leistungsvoraussetzungen“ sehen, erkennt „der in Kategorien des Seins denkende Mensch der Antike das Erwachsensein im Kind.“ Der kleine Wolfgang Amadeus wäre in der Antike kein Wunderkind, sondern ein weiser, alter Künstler im Körper eines Kindes gewesen. Die Geschenke der Götter, die mittelalterlichen Zeichen des Heiligen Geistes verlangen keine Arbeit, sie entwickeln sich nicht und sie konnten den Menschen in jedem Alter heimsuchen. „Begabung“, sagt Hoyer, „ist dagegen ein einigermaßen junger Begriff.“
Gemeint ist die Kategorie, das Substantiv, das – großgeschrieben – zum ersten Mal Ende des 19. Jahrhunderts die Diskurse prägt. Der Name Francis Galton gehört an diese Stelle. Galton, Naturforscher und ein Cousin des berühmten Charles Darwin, legte 1869 die Studie Hereditary Genius vor, in der er nachzuweisen trachtet, dass geistige Eigenschaften ebenso wie körperliche Merkmale erblich sind. Dazu führte Galton statistische Analysen durch. Er untersuchte die Stammbäume zahlreicher zu beruflichem Ansehen gekommener Familien und fand heraus, dass unter Verwandten ersten bis dritten Grades die berufliche Eminenz tatsächlich überdurchschnittlich häufig war. Galtons Arbeit gilt als Pioniertat der Intelligenzforschung, und sie öffnet zugleich den Weg für die Züchtungsfantasien der Eugenik. Es liege im Interesse der Verbesserung „unserer Rasse“, Einfluss auf die Auswahl derer zu nehmen sei, die sich fortpflanzen, forderte Galton.
Der Wunsch nach einer Elite
Eine monströse Tür, durch welche die moderne Kategorie der Begabung die Szene betritt. Sie gehört jetzt in den Menschen hinein und wird im selben Moment zur Eigenschaft der sogenannten „Rasse“. In diesem Wahnsystem ist die Begabung stets in Gefahr. Man muss sie beschützen, glaubt die Eugenik, muss die Begabung vor Mischung mit der Minderwertigkeit bewahren. Man erkennt, wie die Begabungs-Kategorie zu einem vollkommen leeren und geistlosen Begriff verkommt, die bei den Nazis zur perversen Eigenschaft „des Blutes“ verdummt, und, um die entsprechende Terminologie zu zitieren, „wertvolle Rassen“ von „minderwertigen und unbegabten“ scheidet.
Begabung jemals ein offenes und großzügiges Wort werden kann? Die heftige Abwehr und tiefe Skepsis der 1970er und 80er Jahre, die von Begabung weder als Geschenk der Götter noch als Angelegenheit des Erbmaterials wissen und sie auch sonst nicht mit besonderer Aufmerksamkeit behandeln wollten, ist verständlich. In den 90ern etablierte sich, was heute im Fokus von Hochbegabungsforschung steht. Der sich verschärfende Wettbewerb, heißt es, verlange nach einer Elite.
Dazu habe die Forschung, „verschiedene empirische Versuche unternommen, das prototypische Bild des Begabten im öffentlichen Bewusstsein zu identifizieren“. Das war, man hört es am Tonfall, noch einmal Professor Ziegler, der in seinem Buch „Hochbegabung“ die Kriterien auflistet, die vermeintlich unstrittig sind: das Exzellenzkriterium (die außergewöhnliche Leistung), das Seltenheitskriterium (also der Umstand, dass die wenigsten können, was der Hochbegabte kann), das der Produktivität und der Beweisbarkeit im Test. Als fünftes Kriterium kommt noch „das Wertkriterium“ hinzu, das, um es mit eigenen Worten zu sagen, die Hochbegabung dazu verpflichtet, sich nicht der Herstellung von Soufflés, sondern der Physik zu widmen.
Kinder sollen glücklich sein
Es ist offensichtlich, diese Forschung hat keine Scheu davor, herrisch aufzutreten. Sie trennt zwischen denen, die der Hochleistungsmannschaft angehören, und den anderen. Es sei eine geschlossene Welt, sagt Timo Hoyer, der Begabung ganz anders, nämlich als Zuschreibung und Etikettierung versteht. Er hegt tiefes Unbehagen gegenüber diesem Etikett, das vor allem dazu diene, „über Begabung und nicht mit Begabten zu sprechen“. „Tatsächlich wissen wir noch wenig“, sagt Hoyer, Autor des Buches „Begabung“ und mitverantwortlich für eine Langzeitstudie in mehreren Modellklassen für hochbegabt getestete Kinder.
Fast nichts wisse man etwa über die soziokulturellen Folgen. Wie wirkt es auf Kinder, wenn man ihnen sagt, sie seien hochbegabt und unterschieden sich dadurch von so genannten normalen Kindern? Die Antwort darauf lautet, dass sich eine typische Reaktion ebenso wenig findet wie eine abschließende Definition von Begabung. Was sich jedoch sagen lasse, so Timo Hoyer: „Die meisten der Kinder, und übrigens auch die meisten Eltern, wollen die Zuschreibung nicht.“ Sie wollen Unterstützung, und dass die Schule Spaß macht, aber ein Label, das nicht. Gebeten, sich selbst zu beschreiben, antwortet die kleine Sophie im Interview mit den Pädagogen mit einer schlichten, eleganten Skizze: „Ein Mädchen, das blonde Haare hat, das zehn Jahre alt ist, nicht mehr lange, und halt gut in der Schule ist.“ Auch Sophie braucht kein Etikett, um die zu sein, die sie ist.
Elisabeth Wagner
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