Biologie: Der Mann, der schneller als Darwin war
Vor 100 Jahren starb Alfred Russel Wallace, Mitbegründer der Evolutionstheorie. Anders als Charles Darwin gestand er dem Menschen eine "übernatürliche" Sonderrolle zu.
Alfred Russel Wallace war der Indiana Jones der Naturforschung. Auf Expeditionen durchstreifte er die Tropenwälder der Erde, war Schmetterlingsfänger und Käfersammler, Weltreisender auf der Suche nach bunten Insekten, Paradiesvögeln und dem Orang-Utan. Zugleich aber war er ein Theoretiker. Er gilt als Begründer einer eigenen Wissenschaftsdisziplin, der Biogeografie, die sich mit der geografischen Verbreitung von Tieren und Pflanzen befasst. Nach ihm sind nicht nur viele Tierarten benannt; bis heute trägt eine geografische Faunenregion zwischen Asien und Australien (die Wallacea) und eine markante biogeografische Trennlinie, die Wallace-Linie, seinen Namen.
Vor allem jedoch hat Wallace eines der großen Geheimnisse der Biologie gelüftet und so gemeinsam mit Charles Darwin unser Denken über die Welt verändert. Denn unabhängig voneinander erkannten beide den der Evolution zugrunde liegenden Mechanismus, der Arten durch die Einwirkung natürlicher Auslese verändert und wandelt.
Wallace bereiste acht Jahre lang den malaiischen Archipel - allein
Tatsächlich ist Alfred Russel Wallace neben Darwin und Humboldt nicht nur eine der facettenreichsten Figuren im viktorianischen England, sondern auch einer der wichtigsten Naturforscher des 19. Jahrhunderts. Er machte sich zuerst durch seine vierjährige Feldforschung von 1848 bis 1852 am Amazonas einen Namen, bei der er als Erster dessen Zuflüsse Rio Negro und Rio Uaupes befuhr und präzise kartierte. Wallace reiste weitere acht Jahre, von 1854 bis 1862, kreuz und quer durch die Inselwelt des indo-australischen Archipels zwischen Malaysia und Neuguinea. Es war, nach eigener Aussage, das zentrale Ereignis seines Lebens. Dass er diese wohl gewagteste und erfolgreichste Ein-Mann-Expedition bis ans Ende der damals zugänglichen Welt überlebte und dann bei guter Gesundheit mehr als 90 Jahre alt wurde, ist bis heute erstaunlich.
Ebenso erstaunlich wie die Tatsache, dass er außer den weit mehr als 125 000 naturkundlichen Sammlungsobjekten von dieser Tropenreise auch die zentrale Theorie der Naturforschung mit zurückbrachte. Fernab im indo-australischen Archipel hatte Wallace Anfang 1858 mit seherischer Intuition jenen Mechanismus entdeckt, der die Entstehung von neuen Arten möglich macht. Mit dem Prinzip der natürlichen Auslese gelang ihm der Durchbruch beim Wettlauf um die Entwicklung der Evolutionstheorie.
Der 1823 in Wales in bescheidene Verhältnisse geborene Alfred Russel Wallace ging mit 14 von der Schule ab, wurde Landvermesser und Lehrer. Er war naturkundlicher Autodidakt, wurde indes zum erfolgreichen Autor, dessen Bücher man las, weil sich darin wissenschaftliche und populäre Darstellung in idealer Weise vereinigten. Er, der Amateur ohne akademischen Abschluss, erhielt die wichtigsten Auszeichnungen seiner Profession.
In späteren Jahren war Wallace erklärter Anhänger des damals weit verbreiteten Spiritismus und radikaler Sozialist, der sich für Landreformen und Menschenrechte einsetzte; aber auch jemand, der noch im hohen Alter über die Möglichkeit von Menschen auf dem Mars und unsere Stellung im Universum nachdachte. Noch zu Lebzeiten war Wallace einer der brillantesten und bemerkenswertesten Wissenschaftler, bei seinem Tod sicherlich der berühmteste britische „naturalist“.
Dennoch ist Wallace heute kaum noch bekannt, sein Wirken wurde zur Fußnote der Wissenschaftsgeschichte. Von einer regelrechten Darwin-Industrie an den Rand gedrängt, wurde er über ein Jahrhundert hinweg immer mehr vergessen und damit seine Rolle als Mit-Entdecker der natürlichen Selektion. Allenfalls ist das auffällige zeitliche Zusammentreffen mit Darwin bei der Entdeckung der Evolutionstheorie vermerkt. Viele seiner Arbeiten sind unbekannt, die wenigsten ins Deutsche übersetzt und heute noch verfügbar.
Der Naturforscher half mit seinen Erkenntnissen Darwin auf die Sprünge
Dabei sind Alfred Russel Wallace’ Beiträge zur Evolutionstheorie und Biologie ähnlich wichtig wie die Darwins. Wallace ist weitaus mehr als nur der Mann im Schatten Darwins oder gar der ewige Zweite. Im Französischen kennt man den Ausdruck eines „homme nécessaire“ zur Beschreibung einer historischen Gestalt, die im rechten Moment die Bühne der Geschichte betritt. Wallace verkörpert solch einen notwendigen Charakter. Notwendig, um Darwin gewissermaßen auf die Sprünge zu helfen, doch notwendig auch für uns heute, um die Entdeckung des Evolutionsgedanken und die Auseinandersetzungen um die Abstammungstheorie erst vollständig verständlich zu machen.
Wallace ist eine komplexere Persönlichkeit als bislang dargestellt. Sein Denken war vielschichtiger und sein Werk umfangreicher, als es lange gewürdigt wurde. Kein Wunder bei 21 Büchern und mehr als 760 Fachartikeln, zumal Wallace neben seinen naturkundlichen Arbeiten über ein erstaunlich breites Spektrum schrieb, vom Darwinismus und Spiritismus über weltweite Handelskrisen und Pockenschutzimpfungen bis zur Lebensmöglichkeit auf dem Mars.
Doch Wallace hat auch andere Seiten. Er war ruhelos und unorthodox, in vielen Lebenslagen; er verachtete und missachtete Konventionen, und wenn es sich nur um Verbotsschilder handelte, hinter denen er soziale Ungleichgewichte sah. Weder in politischen noch in religiösen Dingen vermochte er, anders als Darwin, zu schweigen. Gerade jenes mutige und unkonventionelle Denken, das Wallace einst die Evolution entdecken ließ, führte ihn später auch auf unsicheres Terrain und entlang abseitiger Wege.
Es muss eine höhere Instanz geben, die dem Menschen seine Einzigartigkeit verleiht, glaubte Wallace
Für Darwin waren auch wir, Homo sapiens, voll und ganz ein Produkt der Evolution durch natürliche Auslese, einschließlich unseres Gehirns und unseres Geistes. Für Wallace gab es daneben noch eine Art höhere Instanz. Denn wie für viele seiner Zeit, die vom Spiritismus und Theismus überzeugt waren, glaubte er, wenngleich jenseits jeglicher Konfession, an das Wirken eines Heiligen Geistes und an die Existenz eines Gottes. Wallace’ und Darwins Theorien zur Evolution und Selektion sind oft verblüffend ähnlich, aber sie sind keineswegs gleich. Dass sich ihre Auffassungen unterscheiden, ist wichtig. Denn jene Feinheiten vor allem hinsichtlich der Stellung des Menschen beleuchten die zentrale Frage danach, wie wir die Natur sehen.
Darwins materialistisch genannte Sichtweise fasst den Menschen als Teil der Natur auf; Wallace wollte uns dagegen eine Sonderstellung einräumen. Kurioserweise ist allein Darwins Auffassung der Evolution im Bewusstsein geblieben, dagegen wurde die Ansicht Wallace’ beinahe vergessen, obgleich seine Skepsis von vielen bis heute geteilt wird. Kurios ist überdies, dass Wallace’ kritische Befähigung ihn gerade in solchen Punkten von Darwin abweichen lässt, die bis heute am meisten umstritten sind, wenn sie nicht ganz abgelehnt werden.
Wallace’ Denken bleibt paradox, weil er ebenso vehement für die natürliche Selektion als Ausdruck eines agnostischen Materialismus stritt wie er als Spiritualist ihr Grenzen zog. Was uns Wallace heute einerseits problematisch, andererseits wieder sympathisch macht, ist sein geradezu verzweifelter Versuch, die materialistische Darwin’sche Sicht mit einem erstrebenswerten, aber vielleicht unerreichbaren Humanismus zu versöhnen.
Dieses Bemühen und seine eigenwillige Sichtweise auf das, was Leben ist und hervorbringt, sind es, die Wallace zu jener missverstandenen, weil widersprüchlichen und verwirrenden, weil vielschichtigen Persönlichkeit machen. Daher dürfen wir ihn nicht nur als Mitentdecker des Evolutionsgedankens und als Begründer der Biogeografie wahrnehmen. Nicht nur als jemanden, der Beiträge zu Selektion und Adaptation, zu Mimikry und der heutigen Ökologie liefert.
Für Wallace ist der Spiritualismus so wichtig wie die Entstehung der Arten und ihre Verteilung auf dem Globus.. Deshalb führt er einerseits eine Umwälzung im Denken der westlichen Welt an, die materialistische Evolutionstheorie. Andererseits steht er auch für eine frühe Gegenbewegung dazu. So reich und umfangreich Wallace' Werk ist, so voller Widersprüche ist seine Person letztlich. In ihr spiegeln sich die Widersprüche und Rätsel seiner Zeit, die bis in unsere reichen.
Der Autor ist Wissenschaftler am Museum für Naturkunde in Berlin. Von ihm erschien im Verlag Galiani Berlin unter dem Titel „Am Ende des Archipels“ die erste deutsche Biografie zu Alfred Russel Wallace, die er am Donnerstag, den 7. November um 19 Uhr im Naturkundemuseum, Invalidenstraße 43, vorstellen wird. Eintritt 3,50 €, erm. 2,- €.
Matthias Glaubrecht