Geflüchtete Kinder: Auf die Familie kommt es an
"World Vision" stellt am Freitag eine Studie zu minderjährigen Flüchtlingen vor. Sie illustriert ihre Ängste und Bedürfnisse - aber auch Hoffnungen.
Die Polizisten kämen bevorzugt nachts. Das hat ein Bekannter Jakob erzählt. Dann holten sie die Flüchtlingsfamilien ab, um sie sofort in ihre Herkunftsländer zurückzuschicken. "Ich schlafe jede Nacht mit Stress", sagt der Zehnjährige, der mit seiner Familie vor rund einem Jahr aus dem Kosovo nach Deutschland geflohen ist.
Erfahrungsberichte von neun Kindern aus sechs Ländern
Seine Ängste hat Jakob im Rahmen der Studie "Angekommen in Deutschland – wenn geflüchtete Kinder erzählen" geschildert. Die Erhebung hat das Kinderhilfswerk "World Vision" in Zusammenarbeit mit der Stiftung "Hoffnungsträger", der Goethe-Universität Frankfurt, dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und der Stiftung "Children for Tomorrow" durchgeführt; die Ergebnisse wurden am Freitag in Berlin vorgestellt. Neun Kinder im Alter von zehn bis 13 Jahren aus Afghanistan, Serbien, Syrien, Eritrea, dem Iran und dem Kosovo wurden dafür zu ihren Fluchterfahrungen befragt.
Mit den Kindern reden, nicht über sie
Dabei ging es sowohl um ihre Erlebnisse in den jeweiligen Herkunftsländern als auch darum, wie es den Kindern bisher in Deutschland ergangen ist. Die beteiligten Forscher haben sich bewusst dazu entschieden, die individuellen Perspektiven einzelner Kinder in den Mittelpunkt zu stellen. "Wir wollten die Kinder selbst zu Wort kommen lassen, mit ihnen, statt über sie reden", betonte Christoph Waffenschmidt, Vorstandsvorsitzender von "World Vision" Deutschland.
Eine "Pionierstudie"
Es sei problematisch, dass in der Öffentlichkeit meist von "Flüchtlingsströmen" geredet werde, sagte Katharina Gerarts, Leiterin des "World Vision"-Instituts. Es müsse auch um die individuellen Schicksale gehen. Bisher fokussiere sich der öffentliche Diskurs außerdem weitgehend auf unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Die Untersuchung sei insofern eine "Pionierstudie". Denn zum ersten Mal rückten die speziellen Bedürfnisse von Kindern in den Blickpunkt, die gemeinsam mit ihren Familien geflohen sind.
Das Kindeswohl als Handlungsmaxime
"Wir haben keine Daten zur Situation von geflüchteten Kindern und ihren Familien", sagte auch Sabine Andresen, Kindheits- und Jugendforscherin von der Goethe-Universität Frankfurt. Das Wohlbefinden der Kinder müsse die Handlungsmaxime sein. Das lege auch die UN-Kinderrechtskonvention fest.
Soziale Beziehungen sind zentral für Flüchtlingskinder
Dieses Wohlbefinden habe verschiedene Dimensionen, sagte Andresen weiter. Eine davon, die durch die Studie offengelegt worden sei: soziale Beziehungen. Im Gespräch mit den Forschern hätten die Kinder häufig von ihren Familien und Freunden geredet, sagte Andresen. Oft seien sie in großer Sorge um Familienmitglieder, von denen sie nicht wüssten, wie es ihnen gehe. Vor diesem Hintergrund sei es "hochproblematisch", dass Familienzusammenführungen in Deutschland verzögert oder verhindert würden. Es müsse gewährleistet sein, dass innerhalb der Familien der Kontakt aufrechterhalten werden könne.
Kinder haben "großen Willen zu lernen"
Ein weiterer zentraler Aspekt, sagte Andresen, sei die Schulbildung. Alle Kinder zeigten laut der Studie einen "sehr großen Willen zu lernen". Katharina Gerarts bestätigte das. Bis auf zwei Ausnahmen sei es bei allen Kindern möglich gewesen, die Gespräche für die Erhebung auf Deutsch zu führen. Ehrgeiz zeigt sich auch in den Zukunftsplänen mancher Kinder. Der zehnjährige Jakob aus dem Kosovo berichtete zum Beispiel, dass er später Lehrer werden wolle.
Forderungen nach Zugang zu Bildung und zum Gesundheitssystem
Basierend auf den Ergebnissen der Studie arbeiteten die Forscher eine Liste von Handlungsempfehlungen an Politik, Lobbyarbeit und Fachpraxis aus. So müssten möglichst schnell "verbindliche Alltagsroutinen, sichere Wohn-, Spiel- und Aufenthaltsräume" geschaffen werden, heißt es darin. Außerdem müssten schon bei der Ankunft der Kinder "Bildungszugänge gesichert werden". Insbesondere für traumatisierte Kinder sei zudem ein "niedrigschwelliger und unkomplizierter Zugang zum Gesundheitssystem" von großer Bedeutung.
Julia Beil