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Großer Zapfenstreich für Christian Wulff: Abschied in Wut und Würde

Vielleicht musste diese Affäre genau so enden: mit einer trotzigen Unschuldsbekundung des Unterlegenen und mit letzten Mäkeleien seiner Jäger, die am Ende ihrem Opfer immer ähnlicher wurden.

Gut, dass es jetzt gleich vorbei ist. Der Oberstleutnant salutiert vor dem roten Podest. „Herr Bundespräsident, melde den Großen Zapfenstreich zu Ihren Ehren angetreten.“ Christian Wulff neigt knapp den Kopf. „Danke schön“, sagt er. Eine Soldatin tritt vor mit der Urkunde. „Danke schön“, sagt Christian Wulff wieder. Das mit der Soldatin ist eine Premiere, wegen Weltfrauentag.

Wulff schaut über die angetretene Ehrenformation mit ihren Gewehren und Fackeln und Trommeln hinweg auf das Schloss. Bellevue ist hell angestrahlt, es spiegelt sich im Teich des Schlossgartens. Von vorne aus dem Tiergarten dröhnen die Vuvuzelas herüber. Ein empörter Teil des Volks steuert seinen Teil zum Abschied bei, ein paar Hundert sind gekommen. „Er soll’n Tritt in’n Popo kriegen!“, schimpft eine jüngere Frau in ein Reportermikrofon. Würde und Wut liegen im lautstarken Wettstreit miteinander an diesem letzten Abend. Es hat ja schon in den Tagen vor diesem Zapfenstreich noch reichlich Aufgeregtheiten gegeben, demonstrative Absagen von gar nicht Eingeladenen ebenso wie mäklerische Kommentare darüber, dass so einer wenigstens auf die militärischen Ehren zu verzichten hätte. Wulff mochte nicht verzichten. Aber vielleicht muss diese Affäre genau so enden: mit einer trotzigen Unschuldskundgebung des Unterlegenen und mit letzten Mäkeleien seiner Jäger, die am Ende ihrem Opfer immer ähnlicher wurden in kleinlicher Rechthaberei. Hans-Jochen Vogel hat ihm sogar zu gemeinnütziger Arbeit geraten. Man muss wohl ein sozialdemokratischer Protestant sein, um auf solche Ideen zu kommen.

Aber vielleicht muss eine Affäre wirklich so enden, die am 13. Dezember 2011 mit der „Bild“-Schlagzeile „Hat Wulff das Parlament getäuscht?“ anfing. Jawohl, hat er, wie man mittlerweile antworten muss, auch wenn jenen Privatkredit fürs Einfamilienhaus in Großburgwedel formal nicht der Freund und Unternehmer Egon Geerckens gegenzeichnete, sondern dessen Frau. Hätte Wulff damals den Fehler sofort eingestanden und sich entschuldigt – wer weiß, ob er nicht heute noch im Schloss Bellevue Diplomatenhände schütteln würde. Doch der Ertappte wand sich. Was folgte, ist sattsam bekannt, von der Kriegserklärung auf der Mailbox von „Bild“-Chef Kai Diekmann bis zum Urlaub auf Sylt, angeblich in bar dem Freund David Groenewold zurückgezahlt aus Schwiegermutters Erspartem.

Als sich am 16. Februar der Staatsanwalt im Präsidialamt ankündigte, war der Rücktritt fällig. Dass er „Fehler gemacht“ habe, aber „immer aufrichtig“ war, wollte da längst keiner mehr hören. Dass das eine stimmte und das andere nicht, war auch schon lange egal. Am Donnerstagabend ist von Fehlern keine Rede. Aber Aufrichtigkeit wäre auch die falsche Beschreibung für den Empfang im Schloss. Nur den Vertretern der Migranten darf man das Bedauern ungebrochen abnehmen. Wie eine Mauer, sagt einer, der dabei war, haben Kenan Kolat, der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde Deutschlands, und andere um Wulff herum gestanden. „Der Islam gehört auch zu Deutschland“ – er hätte der Präsident ihrer Herzen bleiben können. So aber hält jetzt der vorläufige Hausherr eine kurze Rede.

Horst Seehofer, als amtierender Bundesratspräsident automatisch der Stellvertreter des Staatsoberhaupts, spricht von „Abschied und Dank zugleich“, würdigt Wulffs Eintreten für die „Vielfalt der Traditionen und Kulturen“, die deutsch-polnischen sowie die Beziehungen zu Israel, für das bürgerschaftliche Engagement und für den Zusammenhalt. Sie haben Deutschland würdig in der Welt vertreten“, sagt Seehofer und wünscht dem Ehepaar Wulff und der Familie „alles Gute und für Ihre neuen Ziele Glück und Gottes Segen“. Dann dankt Wulff.

Wulff wirkt erschöpft.

Er hat den dreijährigen Sohn Linus auf dem Arm. Wulffs Mundwinkel sind eingefallen, ein angestrengter, aber gefasster Mann. Er dankt zuvörderst denen, die gekommen sind, dann vor allem den Bürgern, dazu der Regierung, dem Bundesrat sowie dem Verteidigungsminister. Thomas de Maizière hat ihm diesen Zapfenstreich angeboten, gerade weil und obwohl darüber viele die Nase rümpfen. De Maizière ist aber erstens Preuße, und zweitens kennt er vielleicht die spätmittelalterliche Theorie von den zwei Körpern des Königs: dem irdischen, der sterblich ist, und dem ewigen, der die Würde und die Bedeutung des Amtes repräsentiert. Auch ein unwürdiger König, sagt diese Theorie, ist immer noch ein König. Gerade wer die Würde des Amtes achtet, achtet auf würdigen Abschied.

Ob Christian Wulff diese Theorie kennt, ist ungewiss; jedenfalls kennt er aber aus Hannover, wo der nämlich ein Museum hat, den Dichter und Zeichner Wilhelm Busch. „Diesen Anlass hätte ich mir für das Jahr 2015 vorstellen können“, sagt Wulff, aber Busch habe ja schon gewusst: „Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt.“ Der Spruch passt in vielerlei Hinsicht. Denn es wird ja noch einiges mehr verabschiedet an diesem Abend als Christian Wilhelm Walter Wulff, geboren 1959 in Osnabrück, studierter Jurist und gelernter Berufspolitiker.

Vorerst diskreditiert ist zum Beispiel jenes Modell einer Besetzung des höchsten Staatsamts, das seit der sozial-liberalen Wahl von Gustav Heinemann gängige Praxis war: die Abstimmung in der Bundesversammlung als Vorschein neuer Koalitionen oder Machtkundgebung der herrschenden Mehrheit. Merkel hat dieses Modell zwei Mal durchexerziert – Horst Köhler sollte Vorbote und Hausprediger einer neoliberalen Reformkoalition werden, Wulff war als etwas langweiliger, aber zuverlässiger Parteifunktionär eingeplant. Zwei Mal ging das Kalkül daneben.

In der Logik des lernfähigen Systems Angela Merkel war der überparteiliche Kandidat eine zwingende Schlussfolgerung. Ihr Pech, dass daraus schon wieder eine politische Demonstration wurde, diesmal der Brüchigkeit ihrer eigenen Koalition. Ihren Abschied nimmt an diesem Abend ganz nebenbei auch eine politische Generation in der CDU. Helmut Kohls Enkel haben sein Erbe nie angetreten. Sie sind mittlerweile alle ausgestiegen: Matthias Wissmann und Roland Koch in die Wirtschaft, Peter Müller zu Gericht, Günther Oettinger nach Brüssel. Wulff war mit der Jüngste im legendären „Andenpakt“. Wenigstens er schien sich zu behaupten; ausgerechnet der Mann, der kokett erklärt hatte, Kanzler traue er sich nicht zu. Das ist keine vier Jahre her.

Wulff hat sich das eisige Schweigen selbst zuzuschreiben.

Das Licht vom Schloss und das Flackern der Fackeln fällt auf die Reihen der Ehrengäste. Keiner der vier Altpräsidenten ist gekommen, mit verschiedener Begründung. Dafür ist fast das ganze Kabinett da. Angela Merkel sitzt neben Bettina Wulff. Manchmal tauschen die beiden ein paar Worte, Merkel wirkt ernst, Bettina Wulff ist von heiterer Freundlichkeit wie eigentlich immer. An ihrer anderen Seite, bevor der Bundestagspräsident Norbert Lammert ins Bild kommt, sitzt eine zweite junge Frau. Annalena Wulff ist 19 Jahre alt, sie steckt gerade im Abitur. Man kennt die junge Frau vielleicht noch von einem anderen Bild. Auch vor zwei Jahren war sie dunkel gekleidet, und eine Flamme warf Lichter auf ihr Gesicht. Annalena stand neben ihrem Vater am ewigen Feuer in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Sie hat vor den Augen der ganzen Welt ein sehr persönliches Zeichen der gemeinsamen Verantwortung der Generationen in Deutschland für die Geschichte gesetzt.

Jetzt dröhnen die Tröten und Pfiffe der Demonstranten auch in ihre Ohren. „Schande, Schande!“ rufen sie im Chor. Der Krawall ist ohrenbetäubend hier im Schlossgarten. Schwer vorzustellen, wie der jungen Frau zumute ist. Es hat sich in den letzten Monaten kein Mitglied der Familie Wulff öffentlich zu Wort gemeldet, niemand hat um Zurückhaltung gebeten, niemand sich zur Wehr gesetzt gegen all die Angriffe und Nachforschungen und den doch eher billigen Spott über zum Beispiel das kleinbürgerliche Klinkerhäuschen in Großburgwedel. Es gibt, mit anderen Worten, an diesem Abend ein paar Menschen im Schlosspark, die Mitgefühl ganz gut gebrauchten könnten.

Was den Hauptdarsteller da vorn auf dem Podest angeht, sind die Meinungen in diesem Punkt allerdings nahezu einhellig. Selten war ein von einer Affäre heimgesuchter Politiker vom ersten Moment an so von allen Parteifreunden verlassen. Das eisige Schweigen hat sich Wulff selbst zuzuschreiben. Zu uneinsichtig seine öffentlichen Auftritte: Dass da einer als normale Freundschaftsdienste zu verkaufen versuchte, was doch so augenfällig nach geschmeidiger Einflussnahme aussah, brachte die ganze politische Klasse in Verruf. Zu ungeschickt auch seine Verteidigung: „Provinziell“ nennt das einer, der selbst mal aus der Provinz nach Berlin gekommen ist.

Aber vielleicht wird man später, mit einigem Abstand, feststellen, dass dieser Christian Wulff unbeabsichtigt und paradoxerweise das Amt des Bundespräsidenten schärfer konturiert hat als viele seiner Vorgänger. Wann hätte die ganze Republik je so ausgiebig darüber debattiert, was sie von ihrem Staatsoberhaupt erwartet? Gerade weil er dem Amt in den letzten Wochen so penetrant nicht gewachsen war, gerade weil seine Verfehlungen nicht groß und offensichtlich waren, sondern immer an der Grenze zwischen noch Erlaubtem und schon Unanständigem, ergibt die Summe aus dieser Affäre ein neues, altes Ideal.

Unser Bundespräsident soll kein Trickser sein, sondern lieber ein etwas zu anständiger Kerl. Einer zum Aufschauen. Darin steckt etwas Verlogenes – wir, das Volk der Steuerquittungsjäger und Rabattkartensammler, wollen nicht von einem allzu Unseresgleichen repräsentiert werden. Aber der Amtssitz ist nicht zufällig ein Schloss. Der Bundespräsident ist der zivile Nachfahr des gerechten Königs. Dessen Gerechtigkeit zeigt sich darin, dass er seine Möglichkeiten nicht missbraucht. Wulff hat das nie begriffen. Es ist der tiefere Grund seines Scheiterns: Ausgerechnet der erste Mann im Staat darf nicht tun, was doch jeder macht. Zwei Soldaten eskortieren Christian und Bettina Wulff ins Schloss zurück. Sie sind gerade an der Freitreppe, da fängt endlich jemand an zu applaudieren. Das Klatschen geht fast unter im Lärm der Demonstranten. Aber Wulff hört es. Er dreht sich um, ein kurzes Winken. Schon gut, dass es jetzt vorbei ist.

Robert Birnbaum, Antje Sirleschtov

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