Antisemitismus in Deutschland: Die Feindseligkeit wächst weiter
Eine EU-Studie gibt Auskunft darüber, wie Juden in Deutschland Antisemitismus erleben.
Es sind Fälle, die in keiner offiziellen Statistik auftauchen. Ein antisemitischer Spruch auf der Straße, eine Beleidigung in den sozialen Medien, ein Fremder, der sich Juden auf der Straße bedrohlich nähert – solche Erlebnisse melden die meisten Betroffenen gar nicht erst der Polizei. Einer neuen Studie zufolge geben 41 Prozent der befragten Juden in Deutschland an, in den vergangenen zwölf Monaten in ihrem Alltag Antisemitismus erlebt zu haben. In den vergangenen fünf Jahren hat sogar jeder Zweite eine solche Erfahrung machen müssen. In keinem der anderen elf Länder war der Anteil derer, die sich mit Antisemitismus konfrontiert sahen und das nun berichteten, so hoch wie in Deutschland. Doch nur jeder Fünfte meldete den Vorfall bei der Polizei oder einer anderen Organisation.
Das geht aus der Studie „Erfahrungen und Wahrnehmungen von Antisemitismus“ hervor, die von der EU-Grundrechteagentur veröffentlicht wurde. Für die Studie wurden im Mai und Juni in zwölf EU- Staaten mehr als 16 000 Menschen befragt, die sich als jüdisch bezeichnen. Aus Deutschland nahmen 1233 Personen teil.
Von den befragten jüdischen Deutschen haben 29 Prozent in den vergangenen zwölf Monaten selbst miterlebt, wie andere Juden verbal beleidigt oder physisch angegriffen wurden. Fast ebenso viele (27 Prozent) haben ein Familienmitglied, das Opfer solcher Beleidigungen oder Angriffe geworden ist. Mehr als jeder zweite Jude in Deutschland macht sich Sorgen, ein Familienmitglied könnte im kommenden Jahr körperlich angegriffen werden. Dreiviertel der in Deutschland Befragten, die manchmal beispielsweise eine Kippa oder einen Davidstern tragen, gaben an, dies zumindest gelegentlich in der Öffentlichkeit zu vermeiden. Außerdem meiden 46 Prozent der Befragten bestimmte Gegenden in ihrem Umfeld, weil sie sich dort als Juden nicht sicher fühlen – auch hier liegt der Anteil in Deutschland deutlich höher als in den meisten anderen der elf EU-Staaten, in denen die Umfrage stattfand. In Deutschland sagen außerdem 55 Prozent der Befragten, ihnen werde „die ganze Zeit“ oder „häufig“ die Schuld für Handlungen der israelischen Regierung gegeben, weil sie Juden seien, weitere 30 Prozent erleben das „gelegentlich“. Auch hier steht Deutschland im Ländervergleich an der Spitze.
Extremistische Muslime
Auf die Frage nach den Tätern gaben in Deutschland 41 Prozent der von antisemitischen Vorfällen Betroffenen an, es handele sich um extremistische Muslime, 20 Prozent sahen Rechtsextreme als Täter, weitere 16 Prozent Linksextreme.
Die Studie zeigt aber auch, dass es oft nicht Fremde auf der Straße sind, die Juden in Deutschland antisemitisch beleidigen. Bei denjenigen, die in Deutschland Antisemitismus erlebten, war in einem Fünftel der Fälle ein Arbeitskollege oder Mitschüler der Täter. Ein weiteres Fünftel der Betroffenen machte diese Erfahrung mit einem Bekannten oder Freund.
Über die Situation für Juden in Berlin gibt die Studie keine Auskunft, hier sammelt jedoch die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) seit Jahren Daten. Allein zwischen Januar und Juni gab es 527 erfasste antisemitische Vorfälle.Im Vergleich zum Vorjahr waren vor allem Angriffe und Bedrohungen mit judenfeindlichem Hintergrund um 50 Prozent auf 18 Fälle gestiegen. „Es sind keine Tendenzen abzusehen, die die Ergebnisse aus dem ersten Halbjahr radikal verändern würden“, sagte ein Sprecher der RIAS mit Blick auf die aktuellen, noch unveröffentlichten Zahlen.
Für den Leiter der RIAS, Benjamin Steinitz, decken sich die Ergebnisse der EU-Studie mit seinen Erfahrungen in Berlin. Dass mehr als die Hälfte der befragten Juden in Deutschland berichten, für die Politik Israels verantwortlich gemacht zu werden, und fast jeder Dritte bereits beschimpft oder bedroht wurde, sei ein trauriger Spitzenwert. „Die Ergebnisse sollten Politik und Öffentlichkeit stark zu denken geben“, sagte er. Zwar artikuliere sich die Berliner Politik klar gegen Antisemitismus und fördere viele Projekte, aber gesellschaftlich würden Juden oft allein gelassen. „Die Zivilgesellschaft muss eine Kultur des Einschreitens entwickeln“, sagte Steinitz. Außerdem forderte er eine konsequentere Strafverfolgung von judenfeindlichen Taten. „Viel zu oft sind antisemitische Motive nicht Teil der staatsanwaltschaftlichen Begründung.“ Eine solche Änderung, so hofft Steinitz, könne zu höheren und abschreckenden Strafen führen.
Claudia von Salzen, Felix Hackenbruch
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