Interview mit der Literaturnobelpreisträgerin: Swetlana Alexijewitsch: „Russlands Intelligenz ist im Schockzustand“
Am 10. Dezember wird Swetlana Alexijewitsch in Stockholm mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Im Tagesspiegel-Interview spricht sie über den „roten Menschen“, Putins Erfolg und starke Frauen.
Die weißrussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch, 1948 geboren, erhält am 10. Dezember den Literaturnobelpreis, „für ihr vielstimmiges Werk, das dem Leiden und dem Mut in unserer Zeit ein Denkmal setzt“. In ihren Büchern, die auf Interviews mit Veteranen der Roten Armee oder Tschernobyl-Opfern basieren, fängt sie die Lebenswelten der Sowjetunion und der postsowjetischen Staaten ein. Zu ihren bekanntesten Werken zählen „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ (1983) und „Zinkjungen“(1989. Ihr jüngstes Buch „Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus“ erschien 2013. Nach Aufenthalten in Paris und Berlin lebt Alexijewitsch seit 2011 wieder in Weißrussland.
Frau Alexijewitsch, ist ein friedliches Zusammenleben mit Russland nach der Annexion der Krim, der Aggression im Donbass und Putins anfänglichem Alleingang mit Luftschlägen in Syrien noch möglich?
Aufgepasst, in der Ukraine ist es nur ruhig um den Konflikt geworden, aber dieser Krieg ist noch nicht beendet. Er kann jederzeit zurückkehren.
Weshalb regt sich dagegen in Russland kaum Widerstand?
Die Intelligenzija befindet sich in einem Schockzustand, sie kann das alles nicht verstehen. Und das Volk unterstützt leider tatsächlich Putin. Alle sind einfach glücklich, dass wir endlich wieder ein großes Imperium sind, vor dem die Welt wieder Angst hat.
Beginnt damit eine neue Gewaltspirale?
Ich fürchte, ja. Gerade war ich in der Ukraine und habe mit Flüchtlingen gesprochen, die ihre Häuser verlassen und wegfahren mussten und nun zurück in den Donbass wollen, um dort gegen die Russen zu kämpfen. Das kann man verstehen, aber für mich ist Gewalt eine dunkle Macht. Niemand kann abschätzen, wie das alles enden wird.
Halten Sie die Sanktionen des Westens gegen Russland für den richtigen Weg?
Es ist eine eigenartige Entscheidung. Aber außer Sanktionen sehe ich keine Möglichkeit, denn wenn der Westen auch in den Waffengang einsteigt, haben wir den Dritten Weltkrieg.
Bisher hat die Geschichte gezeigt, dass die Russen bereit sind, für den Sieg ihrer Idee zu hungern und zu sterben. Wie sollen da Sanktionen etwas bringen?
Das stimmt, deshalb ist es auch mit Sanktionen ein Kreuz. Dies ist die Folge einer ideologischen Gehirnwäsche.
Ist daran der kommunistische Kult vom „roten Menschen“ schuld, dessen Ende Sie im Originaltitel Ihres jüngsten Buches „Secondhand-Zeit“ erwähnen? Oder reicht es weiter zurück in den russischen Imperialismus der Zarenzeit?
Der imperiale Traum ist in jedem Russen lebendig. Entscheidender Faktor ist jedoch jener „rote Mensch“. In den 90er Jahren dachten wir Demokratieaktivisten, der Kommunismus sei überwunden. Es war ein Trugschluss. Denn der „rote Mensch“ glaubte an Ideale, ein neues Leben. Für die neue demokratische Zeit existierte kein intellektueller Überbau. Bei Putin gibt es wieder einen. Und er ist dauernd im Fernsehen präsent, man zeigt, was er tut und weshalb er es tut. Er bietet den Menschen eine Erklärung, erläutert ihnen seine Weltsicht. Wir Demokraten haben dies alles unterlassen.
In „Secondhand-Zeit“ beschreiben Sie, wie schnell die Wende über die Bürger der UdSSR hereinbrach und welche Traumata dies zur Folge hatte.
Das Volk wurde beraubt. Es fühlt sich erniedrigt und betrogen. Die Menschen wurden aggressiv. Ich konnte dies während meiner Reisen feststellen, die ich über Jahre hinweg für dieses Buch unternahm. Damals dachte ich mir, es werde bestimmt schlimm enden. Doch meine Freunde sagten: Nein, wir sind doch auf demokratischem Wege, alles wird gut sein. Doch es kam anders.
Ist der Grund für diese Aggression im „roten Menschen“ verankert?
Klar! Alle haben mir erzählt, dass sie früher im Sozialismus geachtet wurden. Auf der Arbeit, überall wurde ideologisch eingetrichtert, der „rote Mensch“ sei ein wichtiger Mensch dieses Sowjetstaates.
Meinen Sie mit dem „roten Menschen“ den Homo Sovieticus?
Ja, aber mir gefällt das Wort Homo Sovieticus nicht. Wissen Sie, mein Vater war ein überzeugter Kommunist, alle meine Verwandten lebten in dieser Welt des „roten Menschen“. Der Ausdruck Homo Sovieticus klingt kalt, aber es sind einfach auch verlorene Existenzen, weil sie viel Tragisches durchmachen mussten. Hinter jedem „roten Menschen“ stand eine schöne „rote Idee“, ein Ideal. Ich habe vier Jahrzehnte über diese Leute geschrieben – wie sie lebten, wie sie litten, was sie dachten und wie das alles zusammengebracht.
Wie haben Sie den ,roten Menschen' in sich selbst überwunden, Frau Alexijewitsch?
Der „rote Mensch“ ist nicht gestorben – gilt das nach der Maidan-Revolution auch für die Ukraine?
Der „rote Mensch“ bevölkert den ganzen postsowjetischen Raum. Es ist nicht so, dass sich das an einem Tag ändert. Die Leute wurden in diesem System erzogen. Alle haben dieselben Bücher gelesen, dasselbe gelernt, sie sind mit diesen Idealen aufgewachsen.
Es ist also keine Generationenfrage?
Die jungen Ukrainer wollen natürlich ein neues Leben. Der Maidan hat vieles verändert. Zur Ehren-Allee der Maidan-Opfer in Kiew pilgern Menschen jeden Alters, auch Kommunisten, und sie sagen mit Stolz: Ja, wir sind bereit, dafür zu sterben, wir sind dafür gestorben, wir wollen in Freiheit leben!
Sind Sie optimistisch, dass dies in der Ukraine gelingt?
Der Wille ist da, aber die internationale Staatengemeinschaft muss der Ukraine dabei sehr gut helfen. Wenn die Ukraine beginnt, wirklich besser zu leben, gewinnt sie diesen Krieg. Das ist viel mehr wert als ein militärischer Sieg gegen die Russen im Donbass.
Wann haben Sie den „roten Menschen“ in sich selbst überwunden?
Während des Afghanistankriegs. Für mich starb dort die Idee des Sozialismus. Mein Vater glaubte sehr an diese Ideale, er hat mich in diesem Sinne erzogen. Er und seine Freunde waren gute, einfache Leute. Sie waren glaubwürdig, denn sie hatten nichts davon. Für mich war die Verabschiedung von diesen Idealen ein langer, schwieriger Prozess.
Gibt es ein einschneidendes Erlebnis, das Ihre Zweifel nährte?
Als ich das Buch „Zinkjungen“ über den Afghanistankrieg schrieb, habe ich ein Spital besucht und einer Frau ein Spielzeug gegeben, sie hatte ein Kind an der Brust. Es hatte weder Hände noch Beine. Ich war schockiert. Sie sagte mir: „Das haben deine Russen gemacht! Die sowjetischen Hitlerfaschisten.“ Eine der Episoden, die mich zur Selbstbefreiung getrieben haben.
Die Helden Ihrer Bücher sind öfter Frauen als Männer. Und oft sind sie sehr lebenstüchtig. Weshalb sind Frauen im postsowjetischen Raum so stark?
Die Männer verstehen nur, Kriege zu führen. Das ganze Land haben schon immer die Frauen getragen, die Kinder haben sie größtenteils alleine aufgezogen. Nach der Wende sind die Männer sitzen geblieben und klagten darüber, dass sie ihre Arbeit verloren haben. Aber die Frauen haben etwas Neues gelernt, sind mit diesen bunt gemusterten Taschen durch die ganze Welt gefahren, haben Waren getauscht, verkauft und als Händlerinnen Geld verdient.
Hat der Kult des „roten Menschen“ die Frauen in Russland so stark gemacht?
Nein, die Frauen waren immer stärker. Das ist mir klar geworden, als ich mein erstes Buch „Der Krieg hat nichts Weibliches“ über Sowjetfrauen im Zweiten Weltkrieg schrieb. Millionen von Frauen zogen bei uns in den Krieg und starben. Millionen! Das ist einzigartig in der Menschheitsgeschichte. Ja, die russische Frau ist ein sehr starker Mensch!
Ihr nächstes Buch wird von der Liebe handeln. Ist sie im postsowjetischen Raum anders als im Westen?
Ich weiß es nicht, ich habe nicht lang genug bei euch gelebt (lächelt). Ich will mich jetzt existenziellen Themen zuzuwenden: Liebe, Tod. Aber zum Wesentlichen vorzudringen, das ist sehr schwierig. Bei euch ist das Leben anders. Natürlich gibt es Gemeinsames: Überall weinen Frauen, wenn sie betrogen und verlassen werden.
Was lernen wir in diesem neuen Buch über die Russen, Ukrainer und Weißrussen?
Im Moment sammle ich erst Material. Ich kann nur sagen, dass es mir sehr schwer fällt, dieses Buch zu schreiben.
Könnte der Nobelpreis ihre Arbeit zusätzlich erschweren? Sie sind jetzt berühmt, das könnte Ihre Unmittelbarkeit im Kontakt mit Menschen schwächen.
Ich hoffe sehr, dass das nicht eintrifft. Wichtige internationale Auszeichnungen habe ich ja schon häufiger erhalten. Immer, wenn ich zu Leuten gehe, gehe ich nicht als große Schriftstellerin, sondern als einfacher Mensch, der sich unterhalten und etwas erfahren will. Nicht nur über den Krieg, sondern vor allem über das Leben.
Seit Kurzem leben Sie wieder in Minsk …
Sobald das möglich war, bin ich aus dem Exil zurückgekehrt. Als Aleksander Lukaschenko wieder damit begann, mit dem Westen zu spielen, und die Situation in Weißrussland etwas leichter wurde, kehrte ich zurück.
Waren Sie der Freiheit überdrüssig? Fehlte Ihnen die Diktatur? Ist ein Autoritarismus, wie ihn Lukaschenko pflegt, Ihrer Literatur gar indirekt förderlich?
Nein, ich brauche keine Diktatur. Aber ich sehnte mich immer nach Hause, ich wollte nie in Westeuropa bleiben. Und mein literarisches Genre verlangt danach, mit den Leuten zusammenzuleben, täglich mit ihnen zu sprechen, mit ihnen zu feiern und zu tanzen.
Wollen Sie mit Ihrer Literatur etwas verändern?
Ich will einfach darüber schreiben, wer wir waren und was mit uns geschah. Ich will über diese schreckliche Erfahrung erzählen. Denn die Idee des Kommunismus ist nicht tot. Sie lebt weiter. Und ich will zeigen, wie diese Idee jetzt in Russland umgesetzt wird und was sie bewirkt.
Das Gespräch führte Paul Flückiger.