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Swetlana Alexandrowna Alexijewitsch
© dpa

Literatur-Nobelpreisträgerin im Interview: Swetlana Alexijewitsch: "Wir brauchen eine Perestroika"

Sie galt längst als Favoritin, jetzt erhält die Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch den Literaturnobelpreis. Vor vier Jahren sprach sie mit dem Tagesspiegel über Tschernobyl, Fukushima und die Selbstüberschätzung des Menschen.

Frau Alexijewitsch, in wenigen Tagen jährt sich zum 25. Mal die Katastrophe von Tschernobyl, über die Sie ein Buch geschrieben haben. Seltsam, dass die Welt in diesen Tagen wieder über ein Atomunglück spricht.
Nun, ich glaube nicht, dass Gott unsere Jubiläen verfolgt. Aber eine gewisse Symbolik hat dieser Zufall schon. Ich habe mir vor einigen Jahren in Japan ein Atomkraftwerk angesehen, in Hokkaido. Es sah wunderschön aus, strahlend weiß, direkt am Meer gelegen. Aber ich hatte sofort Bilder von Tschernobyl vor Augen. Abends sprach ich mit jungen japanischen Kraftwerksmitarbeitern. Sie sagten: Sehr berührend, was Sie da alles erzählen – aber Tschernobyl, das war in der Sowjetunion, ein totalitäres System, das ist alles nicht vergleichbar, bei uns wäre ein derartiges Unglück nicht möglich.

Weil betrunkene Kommunisten nicht mit Kernkraft umgehen können?
Genau das habe ich oft gehört, in vielen Ländern. Hinter diesem Denken steckt letztlich die Selbstüberschätzung des Menschen. Wir wollen uns nicht eingestehen, dass wir beschränkt in unseren Möglichkeiten sind. Deshalb ist Fukushima nach Tschernobyl die zweite atomare Lektion. Beim ersten Unglück schob man im Westen alles auf das russische Chaos. Diesmal sitzt der Schrecken tiefer. Wir begreifen, dass Atomunfälle nichts mit politischen Systemen zu tun haben.

Erinnern die Fernsehbilder aus Fukushima Sie an Tschernobyl?

Ja. Ich habe Freunde in Japan. Sie schreiben mir, dass sie sich betrogen fühlen, weil man ihnen nicht die volle Wahrheit sagt, ähnlich wie es bei uns damals war. Sie haben das Gefühl, dass die Regierung in erster Linie die Bevölkerung ruhigstellen will. Der Staat arbeitet, wie Staaten immer arbeiten: Sie schützen den Staat, nicht den Menschen. Bei allen Unterschieden sind sich Russen und Japaner in einer Hinsicht ähnlich: Das Individuum existiert hier wie dort nur als Teil eines größeren Ganzen – der Nation.

Bei allen Gemeinsamkeiten gibt es Unterschiede: In Tschernobyl wurden systematisch Menschen geopfert, um der Katastrophe Herr zu werden. Die Aufräumarbeiter waren völlig unzureichend ausgerüstet.
Man muss sich vor Augen halten, dass Tschernobyl der erste Unfall dieser Art war. Niemand verstand, was vor sich ging. Alle Probleme, die sich stellten, stellten sich zum ersten Mal. Wie verschließt man einen havarierten Reaktor? Niemand wusste es, alles wurde im Gang der Ereignisse entschieden. Ich weiß noch, dass bei meinem ersten Besuch in Tschernobyl überall Armeeangehörige waren, sie liefen mit geladenen Maschinenpistolen um den Reaktor herum und wussten nicht, worauf sie schießen sollten. Sie waren völlig überflüssig. Man hatte sie nach Tschernobyl geschickt, weil das die einzige Reaktion war, zu der das System fähig war: Man hielt die Katastrophe für einen Krieg.

Aber der Gegner war unsichtbar.
Hätte es sich um eine Atombombe gehandelt, dann hätte das Militär möglicherweise gewusst, was zu tun ist. Aber die militärische und die zivile Nutzung von Kernkraft galten als völlig verschiedene Dinge, kaum jemand verstand sofort, dass es im Grunde ein und dasselbe ist. Das war die Verwirrung, die in Tschernobyl herrschte, sie zwang die Menschen dazu, ständig umzudenken. In dieser Hinsicht sind die Menschen in Fukushima schon weiter – weil der Tschernobyl-Mensch bereits in der Welt ist.

Auch in ihrem gerade auf Deutsch wiederveröffentlichten Buch „Eine Chronik der Zukunft“ schreiben Sie darüber, dass Sie Zeugin wurden, wie der Vor-Tschernobyl-Mensch zum Tschernobyl-Mensch wurde. Was meinen Sie mit dem Begriff?
Der Tschernobyl-Mensch läuft nicht mehr mit Maschinenpistolen um Kernkraftwerke herum. Das Bewusstsein hat sich verändert, die Menschen waren zum Umdenken gezwungen. Damals, nach dem Unfall, liefen Soldaten durch die Dörfer der Sperrzone und sagten den Bauern: Wir werden jetzt euer Haus waschen, und euer Brennholz. Die Menschen waren fassungslos: Wer hatte jemals ein Haus gewaschen, ein Stück Brennholz? Die Soldaten sagten: Ihr müsst eure Milch weggießen. Heute könnte man jedem erklären, warum das nötig ist, damals verstand es niemand. Die Bauern sahen verständnislos die Soldaten an und sagten: Wieso, warum, was ist denn mit der Milch? Das Bild des Feindes wandelte sich, und das Bild des Todes. Man konnte ihn nicht hören, nicht sehen, er hatte keinen Geruch. Es war eine völlig neue Erfahrung, die die Menschen zutiefst verstörte. Über den Krieg gab es eine Million Bücher. Ich habe viele davon gelesen und auch selbst über den Krieg geschrieben, nachdem ich in Afghanistan war. Aber in Tschernobyl habe ich nicht verstanden, worüber ich schreiben muss. Ich war genau so verwirrt wie die Menschen in der Zone.

Weil Sie noch keine Wort hatten für das, was gerade passierte?
Ich erinnere mich an eine Szene: Soldaten evakuierten ein Dorf, und eine alte Frau wollte partout nicht gehen. Alle saßen schon im Bus, nur sie weigerte sich. Die Soldaten schlossen die Häuser ab, versiegelten sie. Plötzlich sah die alte Frau mich, sie lief auf mich zu und sagte: Töchterchen, warum soll ich gehen, ist denn das etwa ein Krieg? Ich weiß, wie Krieg aussieht: fremde Soldaten, Schüsse, Feuer – aber hier scheint die Sonne, die Vögel singen, was ist denn das für ein Krieg? Als ich ihr antwortete, formulierte ich den Gedanken auch für mich selbst zum ersten Mal: Ja, Großmütterchen, so ist jetzt der Krieg. Man erlebte ständig solche Szenen. Alle rangen um Worte. Die Menschen, mit denen ich für mein Buch sprach, sagten ständig Sätze wie: So etwas habe ich noch nie gesehen, noch nie gelesen, wie soll ich es dir schildern, wie beschreiben? Wie spricht man über Strahlung? Die Bauern in der Zone waren dazu gezwungen, sie erfanden atomare Märchen. Sie sagten: Ich habe die Strahlung gesehen, sie lag auf den Feldern wie ein weißes Tuch. Ein anderer sagte: Nein, die Strahlung ist grün, im Dorf habe ich grüne Pfützen gesehen.

Warum sind Sie damals nach Tschernobyl gefahren?
Ich lebte in Minsk, hatte vier Bücher geschrieben, über die Sowjetunion. Als der Unfall geschah, war mir klar, dass das ein massiver Schlag für das sowjetische System war. Alle sprachen nur noch über Tschernobyl, jeder kannte irgendjemanden, der dort im Einsatz war. Man stieg ins Taxi, und der Fahrer sagte: Die Vögel sind verrückt geworden, sie fliegen gegen die Scheiben und sterben, sie müssen Strahlung abbekommen haben. Das alles war so präsent, dass ich darüber schreiben musste, ich musste hin. Und als ich ankam, verstand ich: Das ist die Zukunft. Und wir sind nicht bereit für sie.

Sind wir es heute?
Tschernobyl ist bis heute nicht zu Ende gedacht. Das Unglück ist medizinisch erforscht, die Ursachen des Unfalls sind bekannt, aber die weltanschauliche Dimension wurde nicht durchdacht. Die Geisteswissenschaften haben sich kaum mit Tschernobyl beschäftigt. Wir haben uns in einer Kultur des Weinens erschöpft, ohne uns die wirklich ernsten Fragen zu stellen. Unsere gesamte Intelligenz hat das Nachdenken der Politik überlassen. Und der Kirche.

Worüber müssten wir denn nachdenken?
Ich glaube, dass die Atomkraft irgendwann der Vergangenheit angehören wird. Aber dazu braucht es eine Veränderung des Bewusstseins, es braucht eine Perestroika. Atomkraft ist eine sehr junge Energieform, und sie geht ihrer Idee nach auf das 19. Jahrhundert zurück, auf die Epoche der Aufklärung, auf die Vorstellung, dass der Mensch alles kann, dass er die Natur zähmen und beherrschen kann. Davon müssen wir uns lösen.

Ein ziemlich heftiger Angriff aufs menschliche Selbstbewusstsein.
Ja, und deshalb ist der Abschied von der Atomenergie nicht so sehr ein ökonomisches oder politisches Problem als vielmehr ein weltanschauliches. Ich glaube, die wichtigste Arbeit müssen die Philosophen leisten: Sie müssen ein völlig neues System der Argumentation ausarbeiten, eine neue Sprache. Denn unser Weltbild ist immer noch, dass wir im Zentrum der Ereignisse stehen, dass wir die Hauptsache sind. Als ich sah, wie die Leute die Sperrzone von Tschernobyl verließen, in die sie erst in 20 000 Jahren zurückkehren können, hat sich bei mir die Vorstellung vom Menschen als Herrscher der Welt in Luft ausgelöst. Und als ich im Fernsehen sah, wie der Tsunami in Japan Schiffe wie Streichholzschachteln hinwegfegte, hatte ich das gleiche Gefühl: Mein Gott, wie kommen wir nur darauf, dass wir die Herrscher sind?

Das Gespräch führte Jens Mühling.

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