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Swetlana Alexijewitsch, Literaturnobelpreisträgerin 2015
© dpa
Update

Swetlana Alexijewitsch in Berlin: Fast ganz Russland ist ein "kollektiver Putin"

Blitzbesuch in Berlin: Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch spricht über die Situation in ihrer Heimat Weißrussland und beim großen Nachbarn.

Zweimal an diesem strahlenden Samstagmittag, an dem Zehntausende rund um die Bundespressekonferenz am Schiffbauer Damm gegen das TTIP-Abkommen protestieren, spricht sie von Erschöpfung. Nicht Erschöpfung von der Reise, die Swetlana Alexijewitsch zwei Tage nach der Verkündung des Literaturnobelpreises aus ihrem Minsker Zuhause nach Berlin geführt hat.

Nicht Erschöpfung durch die Schwindelgefühle, die ihr weinend gratulierende Weißrussen und ein – mit stundenlanger Verspätung – anrufender Alexander Lukaschenko verschafften, der sich als ihr Erzfeind hörbar überwinden musste. Nein, Erschöpfung von den dreißig Jahren, in denen sie die Tausende von Monologen sammelte, die sich in ihren Büchern zu einem Weh- und Klagechor über die Schrecken eines sowjetischen Jahrhunderts auftürmen, das nicht vergehen will.

Erschöpfung auch durch die Bitterkeit, dass sich nichts zum Besseren wenden lasse. Besonders Russland bewegt sich für sie zurück „in finstere Zeiten“. All das ist für sie eine „Enttäuschung über die menschliche Natur“: „Warum ist unser Leiden nicht in Freiheit umgeschlagen? Allein über dieser Frage kann man verrückt werden.“ Aber die Auszeichnung, sagt sie, sei für sie auch ein Ansporn, mit der Disziplin des sowjetisch erzogenen Menschen an ihrem Projekt festzuhalten.

Die Verkrüppelung eines ganzen Jahrhunderts

Einen Tag vor den weißrussischen Präsidentenwahlen sieht sie wenig Grund, an Lukaschenkos Sieg zu zweifeln. Das Volk wolle es so, und die Opposition sei heillos zerstritten. Alexijewitsch erkennt im homo sovieticus die Verkrüppelung eines ganzen Jahrhunderts am Werk, über dem noch immer Stalin als Herrscher thront: „Für die Freiheit braucht es freie Menschen – und die gibt es nicht.“

Sie zitiert Warlam Schalamow: „Man kommt aus dem Lager als Henker und als Opfer zurück.“ Und obwohl sie, die russisch schreibende Autorin die Nationalgeschichten, Ökonomien und Mentalitäten von Russen, Weißrussen und Ukrainern genau unterscheiden kann, fällt ihr immer wieder das Gemeinsame auf.

"Einverständnis mit der dunklen Seite der Macht"

Das größte Problem bleibt indes Russland. „Geblieben sind bettelarme Menschen, die nur noch an die Größe ihres Landes glauben und sich von Feinden umgeben fühlen.“ Es gebe „einen kollektiven Putin“, der sich in 86 Prozent aller Köpfe eingenistet habe. Aber Menschen, musste sie begreifen, finden stets eine Rechtfertigung, sich nur mit dem eigenen Leben zu beschäftigen. Sie trösten sich damit, dass sie Kinder großzuziehen hätten, und leben „in einer Art Einverständnis mit der dunklen Seite der Macht“. Kurz: Sie verdrängen den politischen Teil ihrer Existenz.

Weißrussland sei vielleicht eine samtene Diktatur geworden. Aber auch wenn die Zahl der politischen Häftlinge abgenommen habe und Tod nicht mehr die erste Bedrohung darstelle, hätten sich die Methoden, das Leben von Menschen zu zerstören, nur gewandelt. „Wenn sie zwei Kinder haben und keine Arbeit“, erzählt sie von einer Lehrerin, die von ihr unterstützt wird, weil diese nicht einmal mehr als Putzfrau arbeiten darf, sei das existenziell.

Sie erzählt, wie sie in dem Dorf, in dem sie aufwuchs, vor allem von den Geschichten der Frauen beeindruckt war. Schreibend sucht sie nach dieser Welt, „in der das Mündliche viel ausgeprägter ist als das Schriftliche“. Dazu kommt, dass „ein einzelner Verstand unmöglich aufnehmen kann, was in den letzten Jahren geschehen ist“. Sich wie Tolstoi ein halbes Jahrhundert damit Zeit zu lassen, die Napoleonischen Kriege festzuhalten, sei nicht mehr möglich. Alles müsse möglichst schnell ausgesprochen werden.

Wem sie als Nobelpreisträgerin nachfolgt, weiß sie genau: Iwan Bunin, Boris Pasternak, Alexander Solschenizyn und Joseph Brodsky. Sie alle waren auf je eigene Weise zerfallen mit ihrem Land. Nur Michail Scholochow war vom Staat gelitten. In ihrer Demut weiß sie, dass das eine ebenso literarische wie staatsbürgerlicheVerpflichtung ist.

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