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Swetlana Alexijewitsch
© picture alliance / dpa

Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch: Die Stimmen der Verstummten

Swetlana Alexijewitsch portraitiert in ihrem Werk das sowjetische Jahrhundert und die Zeit danach. In ihren "Romanen in Stimmen" lässt sie jene erzählen, die sonst vergessen werden.

Nach zwanzig Jahren Arbeit mit dokumentarischem Material, gesteht sie in einem kleinen Text anstelle einer autobiografischen Notiz, habe sie erkannt, dass Kunst vieles missverstehe, was Menschen betreffe. Im anschließenden Kommentar zu einem Buch voller Liebesgeschichten aus den unterschiedlichsten Generationen erläutert Swetlana Alexijewitsch, worum es sich handelt: „Dass sich alles in Erinnerung verwandelt. Dass jedes Leben auf seine eigene Weise interessant ist. Dass man ohne den Tod das Leben nicht versteht. (…) Dass menschliche Geheimnisse zerbrechlich und gnadenlos sind. Dass Schmerz Kunst ist. Dass unser kleiner Tod nicht fern ist.“ Und um ihren Katalog von Gründen mit einem dramaturgischen Höhepunkt abzuschließen: „Dass alles Russische voller Trauer ist.“ Dies festzuhalten, im Originalton der Beteiligten, verdichtet und montiert, soll nicht sein, was sich unter Literatur verstehen ließe? Literatur, die einen emphatischen Anspruch darauf erhebt, Kunst zu sein

Die weißrussische Autorin, 1948 in der galizisch-ukrainischen Stadt Iwano-Frankiwsk als Tochter einer ukrainischen Lehrerin und eines weißrussischen Schuldirektors geboren, hat eine eigenwillige Auffassung davon, was dokumentarisch geprägtes Erzählen ausmacht. Welchen Pakt mit dem Leser es in Bezug auf die vorgetragenen Fakten schließt. Welche Freiheiten es sich im Arrangieren der Details nehmen darf. Und vor allem: welche Effekte dadurch entstehen, dass sich der Leser nicht bloß informiert fühlt, sondern auch mitreißen lässt. Kurz: Er kann in Swetlana Alexijewitschs Bücher eintauchen wie in einen Roman, der auf etwas Umfassenderes aus ist als das einzelne Schicksal.

Auszeichnung für "vielstimmiges Werk"

Nicht umsonst nennt sie ihre Bücher „Romane in Stimmen“. Andernfalls wäre der Literaturnobelpreis wenig geeignet, auf ein Universum hinzuweisen, das seine journalistischen Wurzeln ebenso hinter sich lässt wie das Terrain des ehemaligen Sowjetreichs, in dem es weitgehend angesiedelt ist. Die Schwedische Akademie verleiht ihr die Auszeichnung jedenfalls für ein „vielstimmiges Werk“, das „dem Leid und dem Mut unserer Epoche ein Denkmal“ setzt.

Swetlana Alexijewitsch, die in Minsk Journalismus studierte, darf sich zugutehalten, dass sie 1985 gleich mit ihrem ersten offiziell erschienenen Buch „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ an den Gemäuern einer untergehenden Weltmacht rüttelte. (Eine erste Arbeit aus dem Jahr 1976 zur sowjetischen Nachkriegsära durfte wegen der Kritik an der sowjetischen Wohnsitz- und Passpolitik erst nicht erscheinen und wurde von ihr dann zurückgezogen, weil sie das Buch für zu journalistisch hielt.) Der Widerstand, der ihrer Art von oral history für die eingesammelten Bekenntnisse von Rotarmistinnen des Zweiten Weltkriegs entgegengebracht wurde, war zunächst noch heftiger. Er konnte aber nicht von Dauer sein.

Für ihre Dokumentation einer Wirklichkeit, die in der offiziellen Geschichtsschreibung nicht vorkam, wurde sie vor Gericht gestellt. Sie war angeklagt, die „Ehre des Großen Vaterländischen Krieges“ beschmutzt zu haben, wurde ihrer Redakteursstelle in der Hauptstadt enthoben und ein Jahr lang in die Provinz an der polnischen Grenze strafversetzt. Wie hilflos der Versuch war, sie mundtot zu machen, zeigt auch die Tatsache, dass eine erste Fassung ihres 2008 revidierten Buches 1987 im Ostberliner Henschel Verlag erschien. Eine halbe Ewigkeit, bevor sie im vereinten Deutschland bekannt wurde, 2011 ein Jahr als DAAD-Stipendiatin in Berlin verbrachte und 2013 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt.

Inzwischen ist sie, wie in ihrem jüngsten Werk „Secondhand-Zeit“ (2013) längst dabei, das „Leben auf den Trümmern des Sozialismus“ nachzuzeichnen. Mehrere Jahre reiste sie durch Länder, die eigenständige Staaten geworden und zu ihren jeweiligen Sprachen zurückgekehrt waren, auch durch Turkmenistan und Kasachstan. Und überall entdeckte sie den homo sovieticus: „Wir alle, die Menschen aus dem Sozialismus, ähneln einander und sind andere Menschen – wir haben unsere eigenen Begriffe, unsere eigenen Vorstellungen von Gut und Böse, von Helden und Märtyrern.“

"Wir haben uns in einer Kultur des Weinens erschöpft."

Jenseits der alltäglichen Lebensspuren, die sie in ihrer Literatur archiviert, gibt es aber auch Verweise auf Schutzheilige, die auf ihre Weise mit den Schrecken des sowjetischen Jahrhunderts fertig zu werden versuchten. Ihr Buch über die Rotarmistinnen schmückt eine Zeile des großen Dichters Ossip Mandelstam, der 1938 im Gulag ums Leben kam. Und ihre Recherche nach der verlorenen sozialistischen Zeit sucht Beistand bei Warlam Schalamow, der seine 17 Jahre in stalinistischen Lagern in Erzählungen von geradezu surrealer Nüchternheit verwandelte. Bei allem, was auch Schalamows Texte an authentischem Material enthalten, bilden sie doch so etwas wie die fiktionale Ergänzung ihres Werks.

Alexijewitschs bewegendstes Buch ist bis heute „Tschernobyl – Eine Chronik der Zukunft“ (1997). Elf Jahre nach der Nuklearkatastrophe protokollierte sie die Folgen dieser realen Dystopie. Als sie Jahre vorher zu ersten Erkundungen an den Unglücksort fuhr, begriff sie auf einmal: „Das ist die Zukunft. Und wir sind nicht bereit für sie.“ Im Gespräch mit dieser Zeitung erklärte sie Jens Mühling, dass Tschernobyl auch ein Vierteljahrhundert später eine intellektuelle Herausforderung bleibe: „Die Ursachen des Unfalls sind bekannt, aber die weltanschauliche Dimension wurde nicht durchdacht. Die Geisteswissenschaften haben sich kaum mit Tschernobyl beschäftigt. Wir haben uns in einer Kultur des Weinens erschöpft."

Ihre Bücher sind in Weißrussland verboten

Mit ihrem Buch leistet sie Hilfestellung beim Verstehen eines Anthropozän, das den Menschen einerseits ins Zentrum naturgeschichtlicher Prozesse rückt und ihn andererseits an deren Peripherie verweist: „Als ich sah, wie die Leute die Sperrzone von Tschernobyl verließen, in die sie erst in 20 000 Jahren zurückkehren können, hat sich bei mir die Vorstellung vom Menschen als Herrscher der Welt in Luft aufgelöst.“

Zu dem, was sie die Enzyklopädie ihrer Generation von „Gorbatschow-Menschen“ nennt, gehört überdies das Afghanistankriegstrauma. Ihm geht sie in „Zinkjungen“ nach. „Im Banne des Todes“ wiederum erzählt sie vom erschreckenden Anstieg der Selbstmordrate in Russland, den sie unter anderem mit einem ideologischen Vakuum erklärt.

In Minsk, wo die 67-Jährige beim Bügeln von der Auszeichnung erfuhr, wird sie nun sicherer als bisher leben können – ganz gegen die Absichten von Präsident Alexander Lukaschenko, der ihre Bücher von den Lehrplänen streichen und verbieten ließ. Die weißrussische Regierung „wird nun gezwungen sein, mir zuzuhören“, sagte sie dem „Svenska Dagbladet“. Alle anderen haben die Gelegenheit, es nun ganz und gar freiwillig zu tun – und als großen Gewinn zu erleben.

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