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Swetlana Alexandrowna Alexijewitsch
© REUTERS
Update

Nobelpreis für Literatur 2015: Swetlana Alexijewitsch: "Nun muss die Regierung mir zuhören".

Die Weißrussin Swetlana Alexijewitsch erhält den Nobelpreis für Literatur. Bundespräsident Joachim Gauck und Außenminister Frank-Walter Steinmeier gratulieren der Schriftstellerin und Dissidentin. Und die weißrussische Opposition twittert: "Wir haben den Nobelpreis".

Die Reaktionen auf den Literaturnobelpreis für die Weißrussin Swetlana Alexijewitsch sind überwiegend positiv, vor allem ihr Mut und ihr Kampf für die Meinungsfreiheit sowie ihre Kunst, den Verstummten eine Stimme zu geben werden gewürdigt. Die Journalistin und Schriftstellerin werde für ihr "vielstimmiges Werk" geehrt, welches "dem Leid und dem Mut unserer Epoche ein Denkmal" setze, teilte die Schwedische Akademie der Wissenschaften am Donnerstag in Stockholm mit. Akademie-Chefin Sara Danius sagte: „Sie hält sich im Hintergrund. Das einzige, das sie wirklich interessiert, sind die Stimmen. Echte Stimmen von echten Menschen.“

"Ich werde mir auf jeden Fall Freiheit kaufen"

Alexijewitsch sagte dem schwedischen Fernsehsender SVT kurz nach der Bekanntgabe am Telefon, es sei eine Ehre, in einer Reihe mit großen Schriftstellern wie Boris Pasternak zu stehen. „Es ist enorm, diesen Preis zu bekommen.“ Seit der Machtübernahme von Alexander Lukaschenko dürfen ihre Bücher in Weißrussland nicht erscheinen. „Die Behörden tun so, als ob es mich nicht gäbe“, erklärte die Schriftstellerin vor Journalisten in Minsk. „Ich werde nicht gedruckt, ich darf nirgendwo auftreten.“ Durch den Nobelpreis werde die Regierung "nun gezwungen sein, mir zuzuhören", sagte sie der Zeitung "Svenska Dagbladet". Der russische Kulturminister Wladimir Medinski habe ihr gratuliert, der weißrussische Präsident Lukaschenko noch nicht.

"Der Preis ist nicht für mich, sondern für unsere Kultur, für unser kleines Land, das im Laufe der Geschichte in ein Mahlwerk geraten ist", fügte sie im TV-Interview hinzu hinzu. Vor einem totalitären System dürften keine Zugeständnisse gemacht werden. Was sie mit dem Preisgeld anfange, wisse sie noch nicht. "Ich werde mir auf jeden Fall Freiheit kaufen. Denn ich brauche viel Zeit, um ein neues Buch zu schreiben - fünf bis zehn Jahre." Sie habe aber zwei neue Ideen für Bücher. Als die 67-jährige Autorin den Anruf des Komitees erhielt, war sie gerade beim Bügeln.

Jahrelange Favoritin

Swetlana Alexijewitsch galt bei den Buchmachern bis zuletzt als Favoritin, auch in den Vorjahren gehörte sie zu den meistgenannten Anwärtern. Die gebürtige Ukrainerin, Jahrgang 1948, aufgewachsen in Weißrussland, hat sich mit Werken wie "Der Krieg hat kein weibliches Gesicht" (1985) über Rotarmistinnen im Zweiten Weltkrieg und "Die letzten Zeugen" über die Geschichte ihrer Familie im Krieg und unter Stalin einen Namen gemacht. Auch schrieb sie über den sowjetischen Afghanistankrieg ("Zinkjungen", auf deutsch 1992 erschienen) und die Atomkraft-Katastrophe in Tschernobyl.

Immer wieder befasste sich die mittlerweile wieder in Minsk lebende Schriftstellerin  mit der Mentalitäts- und Gefühlsgeschichte der Sowjetunion seit dem Zweiten Weltkrieg, befragte Zeitzeugen und Landsleute - etliche ihrer dokumentarischen Bücher wurden verfilmt. Bis zur Perestroika sah sich die gelernte Journalistin, die zunächst als Lehrerin gearbeitet hatte, als angebliche "Nestbeschmutzerin" und Dissidentin wiederholt Schikanen ausgesetzt. Ende der achtziger Jahre konnte sie eine Zeitlang ungehindert in Weißrussland arbeiten, lebte dann aber eine Weile im Ausland, unter anderem als DAAD-Stipendiatin in Berlin, und kehrte zu den Protesten gegen Wahlfälschung 2010 nach Minsk zurück.

Bundespräsident Gauck gratuliert persönlich

„In Ihren Büchern wird spürbar, was es bedeutet, als Mensch unter Menschen zu leiden, wie Unrechtssysteme Menschen deformieren und welche Kraft im Erinnern liegt, als Hoffnung für eine menschlichere Zukunft,“ beglückwünschte Bundespräsident Joachim Gauck die Nobelpreisträgerin. Dafür sei er ihr als Repräsentant Deutschlands und auch persönlich dankbar. Zu den ersten Gratulanten zählte auch der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier. „Die Stockholmer Jury hat eine mutige Entscheidung getroffen, denn sie hat völlig zu Recht das von Ihnen neu geschaffene Genre der „Stimmencollage“ als große Literatur unserer Zeit anerkannt“, schrieb er an die weißrussische Autorin. Seit Jahrzehnten schreibe sie immer neue Kapitel an ihrem großen Vorhaben, Menschen eine Stimme zu verleihen, die sonst nur als „Sandkorn der Geschichte“ aufscheinen würden. Die beiden hatten im Mai dieses Jahres gemeinsam auf einem Podium in Berlin gesessen. Marieluise Beck und Ulle Schauws von den Bündnisgrünen würdigten außerdem, dass die Schriftstellerin "den Frauen, Müttern, Schwestern und Töchtern" einen besonderen Platz in ihren Büchern einräumt. "Obwohl Frauen in der Sowjetunion formal gleichberechtig waren, sind sie damals wie heute von ihrer tatsächlichen Gleichstellung noch weit entfernt."

Ihre in über 30 Sprachen übersetzten und vielfach ausgezeichneten Bücher sind auf Deutsch bei Hanser erschienen. Verleger Karsten Kredel nannte ihre Bücher "eine Chronik des homo sovieticus, für die sie ein eigenes, zwischen Belletristik und Dokumentation liegendes Genre geprägt hat. Swetlana Alexijewitsch widmet sich menschlichen Stimmen, Erfahrungen und Schicksalen, die in den großen kollektiven Utopien keinen Platz haben. Diesen Stimmen, und damit dem Menschlichen selbst, verschafft sie in ihrem Werk einen literarischen Resonanzraum.“ Auch der frühere Hanser-Chef, Michael Krüer, lobte die Vergabe an Alexijewitsch. „Sie ist eine sehr kämpferische, tolle Person. Sie wird eine große Ikone der Widerstandsbewegung werden. Ihre Bücher hat sie alle unter den ärgsten Bedingungen geschrieben, nun ist sie eine berühmte Frau und als solche weithin unantastbar.“ Das biete ihr die Möglichkeit, die ganzen oppositionellen Bewegungen zu koordinieren. Das mit dem Literaturnobelpreis verbundene Geld könne sie dafür gut gebrauchen.

Reaktionen enthalten viel Lob und Anerkennung

Der Börsenverein des deutschen Buchhandels begrüßte die Entscheidung ebenfalls. Alexijewitsch sei "eine große Schriftstellerin, Erzählerin und Chronistin", sagte Vorsteher Heinrich Riethmüller. "Sie setzt in ihrem Werk auf das Wort und die Freiheit und nutzt ihre schriftstellerische Kraft selbstlos und mutig, um den stumm gemachten und vergessenen Menschen eine Stimme zu geben." Aus der weißrussischen Opposition kamen erste Reaktionen bei Twitter. "Eine fantastische Nachricht", twitterte Andrej Sannikow, weißrussischer Dissident und Oppositionspolitiker. "Wir haben den Nobelpreis", hieß es vom oppositionellen weißrussischen Internetportal charter97.org. Auch Nikolai Tscherginez vom staatstreuen Schriftstellverband äußerte sich: „Wir gratulieren. Frau Alexijewitsch ging immer ihren Weg. Die Preisverleihung ist ein Meilenstein für unsere Literatur und für ganz Weißrussland." Und Boris Satschenko, Vositzender des weißrussische Schriftstellerverbands, hofft, dass das weltweite Interesse an modernen Autoren aus Weißrussland nun steigt.

Das Internationale Auschwitz Komitee nennt Alexijewitsch „eine herzliche und mutige Kämpferin für die Menschen, die autoritäre Regime hinter sich zurücklassen. Sie hat ihnen zugehört, Worte für ihre Erinnerungen und Gefühle gefunden und ihnen so ihre Würde zurückgegeben", sagte Christoph Heubner, der Vizepräsident des Komitees. Der Literaturkritiker Denis Scheck spricht von einer „idealen Wahl“: „Mit ihr wird eine Jägerin des verlorenen O-Tons der Geschichte ausgezeichnet“. Der Stockholmer Jury werde oft vorgeworfen, eher Gesinnungsentscheidungen zu treffen als literarische, sagte wiederum der „Spiegel“-Literaturchef und neue Gastgeber des „Literarischen Quartetts“ Volker Weidermann. Alexijewitsch führe "auf großartige Weise in ihrem Werk literarische Kraft und politische Notwendigkeit zusammen. Sie schreibt über die russische Geschichte, aber mit ihrem Blick auf die Vergangenheit erklärt sie uns Russland und die Kriege von heute.“

Falscher Twitter-Account twittert über Preis für Alexijewitsch

2013 hatte Alexijewitsch den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten. Sie zeichne "die Lebenswelten ihrer Mitmenschen aus Weißrussland, Russland und der Ukraine nach" und verleihe deren Leid und deren Leidenschaften "in Demut und Großzügigkeit" Ausdruck, hieß es in der Jurybegründung. Zuletzt erschien im Jahr 2013 ihr Buch "Secondhand-Zeit" über das postsowjetische Russland auf der Suche nach einer neuen Identität. Auch dieses Buch entstand nach ihrer "Roman in Stimmen" - Methode. Hanser-Chef Jo Lendle hob diese Arbeitsweise besonders hervor. „Alexijewitsch schreibt Romane in Stimmen - indem sie sich einzelnen Menschen zuwendet, fasst sie die großen Bewegungen der Geschichte im Abbild des einzelnen Schicksals“, sagte Lendle in München. Die Preisträgerin mache sich „Körnchen für Körnchen, Krume für Krume auf die Suche nach den Spuren politischer Veränderung“.

Aufregung gab es kurz nach der Bekanntgabe um 13 Uhr wegen eines schon zuvor abgesetzten Tweets. Ein Twitteraccount unter Alexijewitschs Namen hatte schon gegen 11 Uhr verkündet, sie sei die Gewinnerin in diesem Jahr. Nach wenigen Minuten stellte sich jedoch heraus, dass es sich um den Fake-Account eines italienischen Journalisten handelt.

Sie selbst nannte sich einmal eine Geisel ihrer Zeit: "Wer im Irrenhaus lebt, schreibt und redet nur darüber." Anlässlich der Atomkatastrophe im japanischen Fukushima sagte sie im Tagesspiegel: "Tschernobyl ist bis heute nicht zu Ende gedacht. ... Wir haben uns in einer Kultur des Weinens erschöpft, ohne uns die wirklich ernsten Fragen zu stellen."

Alexijewitsch ist erst die 14. Frau, die die Auszeichnung gewinnt. 2014 bekam der Franzose Patrick Modiano den mit acht Millionen Kronen (etwa 850 000 Euro) dotierten Preis. "Modiano beherrscht die Kunst der Erinnerung, mit der er die unbegreiflichsten menschlichen Schicksale wachgerufen hat.", begründete das Komitee seine Entscheidung. Der Literaturnobelpreis wird seit 1901 von der Schwedischen Akademie vergeben, wie der Stifter und Wissenschaftler Alfred Nobel es in seinem Testament festhielt. Zu den bekannten Preisträgern gehören unter anderem Thomas Mann, Herta Müller und Günther Grass.

Seit Anfang der Woche haben Jurys in Stockholm schon Nobelpreise für Medizin, Physik und Chemie verkündet. Am Freitag wird der Träger des Friedensnobelpreises bekannt gegeben. Alle Preise werden am 10. Dezember, dem Todestag Alfred Nobels, verliehen. (Tsp)

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