Nobelpreis für Physik: Ausgezeichnete Neutrinoforschung
Neutrinos, die "Chamäleons" unter den Elementarteilchen, sind nicht masselos. Für diese Entdeckung bekommen der Japaner Takaaki Kajita und der Kanadier Arthur McDonald den Nobelpreis.
Der Nobelpreis für Physik geht in diesem Jahr an den Japaner Takaaki Kajita und den Kanadier Arthur McDonald für den Nachweis, dass Neutrinos eine Masse besitzen. Das teilte die Königlich-Schwedische Akademie der Wissenschaften in Stockholm mit. Die höchste Auszeichnung für Physiker ist mit umgerechnet etwa 850.000 Euro (8 Millionen Schwedischen Kronen) dotiert.
„Diese Entdeckung betrifft eines der fundamentalsten Teilchen im Universum", sagte Gunnar Ingelman, von der Uni Uppsala, Mitglied im Nobelpreiskomitee, dem Tagesspiegel. "Die Sonne würde ohne Neutrinos nicht funktionieren." Die Verteilung von Materie im Universum sowie die Entstehung von Galaxien beruhe auf Prozessen, in die Neutrinos involviert sind. "Diese Entdeckung hat also eine enorme Bedeutung, auch wenn wir uns im Alltag noch keine Gedanken darüber machen müssen.“
„Alle 10 bis 20 Jahre stellen Neutrinos unser Weltbild auf den Kopf", sagte Arnulf Quadt von der Deutschen Physikalischen Gesellschaft dem Tagesspiegel. "Alle Lehrbücher, die ich im Schrank habe, behaupten, sie wären masselos.“ Eine technologische Anwendung für diese Entdeckung zu finden, sei schwer. "Aber es wäre etwa denkbar, in der Zukunft mit Neutrinos Informationen zu übertragen - etwa durch den Erdkern hindurch.“
Wechselbalg aus der Sonne
„Der diesjährige Preis handelt von Zustandsveränderungen von einigen der am reichlichsten vorhandenen Bewohner des Universums“, sagte Göran Hansson, Generalsekretär der Akademie. Die Ergebnisse der beiden Wissenschaftler seien der Schlüssel für die Experimente gewesen, bei denen gezeigt wurde, dass Neutrinos ihre Zustände verändern können, hieß es in der Begründung. Diese Metamorphosen wiederum seien ohne Masse nicht möglich.
Neutrinos sind elektrisch neutrale Elementarteilchen. Ihre Masse ist sehr gering. „Für über ein halbes Jahrhundert haben wir gedacht, dass Neutrinos keine Masse haben“, sagte Nobeljurorin Olga Botner. "Die Entdeckung ändert das Grundverständnis von dem Aufbau von Masse und kann sich als entscheidend für das Verständnis des Universums herausstellen", schreibt das Nobelkomitee in einer Stellungnahme. Damit sei ein Rätsel gelöst, das Forscher seit Jahrzehnten beschäftige. Als der österreichische Physiker und Nobelpreisträger von 1945 Wolfgang Pauli die Existenz von Neutrinos postulierte, um den Erhalt von Energie beim radioaktiven Zerfall zu erklären, glaubte er selbst nicht recht an die Existenz dieser Teilchen: "Ich habe etwas Schreckliches getan", schrieb er 1930 in einem Brief an Physiker-Kollegen. "Ich habe ein Teilchen postuliert, dass nicht detektiert werden kann." Denn obwohl Neutrinos ständig entstehen, in Nuklearreaktionen in der Sonne, in der Atmosphäre durch kosmische Strahlung und sogar beim Kaliumzerfall im menschlichen Körper, gelang der experimentelle Nachweis der Teilchen erst 1956 den späteren Nobelpreisträgern Frederick Reines und Clyde Cowan.
Das Rätselraten um die Neutrinos war damit aber längst nicht vorbei. Als Forscher nachrechneten, wieviele Neutrinos die Sonne produziert, und dann maßen,wie viele davon auf der Erde ankommen, fehlten zwei Drittel. Verschwanden die Neutrinos auf dem Weg zur Erde?
Metamorphose auf dem Weg zur Erde
Die jetzigen Nobelpreisträger fanden die Erklärung. Die Neutrinos gingen nicht verloren, sondern veränderten sich nur. Takaaki Kajita beobachtete 1998, dass Neutrinos aus der Atmosphäre auf ihrem Weg in einen Detektor in Japan (Super-Kamiokande) ihre Identität wechseln. Das Super-Kamiokande Observatorium liegt 1000 Meter tief in der Erde in einer ehemaligen Zinkmine, 250 Kilometer nördwestlich von Tokyo, um gegen kosmische Strahlung abgeschirmt zu sein, was die Neutrinomessung stören würde. Es besteht aus einem 40 Meter hohen Tank, gefüllt mit 50.000 Tonnen besonders sauberem Wasser. Um Neutrinos nachzuweisen, starren Physiker im Grunde gebannt in diesen Tank und halten mit Strahlendetektoren Ausschau nach winzigen Spuren, die die Neutrinos darin hinterlassen, der Tscherenkow-Strahlung, einem blauen Lichtblitz. Die Ausbeute für all den Aufwand: Etwa drei Lichtblitzen pro Tag, drei Neutrinos. Ein mühsames Geschäft.
Auch das Sudbury Neutrino Observatory in Ontario liegt in einer Nickelmine, hat allerdings einen Tank voll mit "schwerem" Wasser (Deuterium), das anders als normales Wasser ein zusätzliches Neutron in jedem Wasserstoff-Atomkern hat. Dort entdeckte Arthur McDonald drei Jahre später, dass auch die Neutrinos aus der Sonne auf dem Weg zur Erde nicht verschwinden, sondern nur eine andere Identität annehmen. Treffen die Neutrinos im Wasser nämlich auf ein Atom oder ein Elektron, entstehen geladene Teilchen. "Muons", wenn ein Muon-Neutrino der Verursacher der Kollision ist, und Elektronen, wenn es ein Elektron-Neutrino war. Insgesamt können Neutrinos, vom Nobelkomitee als "Chamäleons des Weltalls" bezeichnet, drei verschiedene Zustände, so genannten Identitäten, annehmen: Elektron-, Myon- und Tau-Neutrinos. Im Deuterium-Detektor lassen sich die verschiedenen Neutrinos anhand der Intensität und anderer Eigenschaften der Tscherenkow-Strahlung erkennen, die sie im schweren Wasser verursachen.
Fast ohne Masse aber zusammen so schwer wie alle Sterne
Damit die Neutrinos den Zustand wechseln können, müssen sie aber der Theorie nach Masse haben. Das hat zur Folge, dass die alten Standard-Modelle, die von masselosen Neutrinos ausgingen, die fundamentalen Bestandteile des Universums noch nicht vollständig erklären. Denn vernachlässigen kann man die Neutrinos dabei nicht, sie sind (nach Photonen), die häufigsten Partikel im Kosmos. „Jede Sekunde passieren Milliarden von Neutrinos unseren Körper“, sagt Olga Botner vom Nobelkomitee. Sie werden durch die Kernreaktionen in der Sonne aber auch in einer Reaktion zwischen kosmischer Strahlung in der Erdatmosphäre produziert. Kaum etwas kann sie stoppen, was es den Physikern so schwer macht, sie zu messen und zu untersuchen.
In der Quantenphysik werden Neutrinos sowohl als Teilchen als auch als Wellen beschrieben. Solange die drei Wellen der drei Neutrinotypen im gleichen Rhythmus schwingen, lassen sich die drei Zustände nicht unterscheiden. Aber wenn die Neutrinos durchs All wandern, gerät der Rhythmus durcheinander, so dass die drei Typen von Neutrinos erkennbar werden. Je nachdem, wo sich ein Neutrino gerade befindet und wie die drei Wellen sich gerade zueinander verhalten, nimmt das Neutrino einen der drei unterschiedlichen Zustände an. Das wiederum lässt Rückschlüsse auf die Masse der Neutrinos zu, die als sehr gering eingeschätzt wird, auch wenn es noch niemandem gelungen ist, sie direkt zu messen. Da es aber sehr viele Neutrinos gibt, spielen sie in der Summe für das Verständnis des Universums eine große Rolle. "Das Gewicht aller Neutrinos wird als etwa so groß geschätzt, wie das Gewicht aller sichtbaren Sterne des Universums zusammen", schreibt das Nobelkomitee.
Die feierliche Überreichung der Auszeichnungen findet traditionsgemäß am 10. Dezember statt, dem Todestag des Preisstifters Alfred Nobel.
Im vergangenen Jahr ging der Nobelpreis für Physik an Isamu Akasaki von der Meijo University in Nagaoya, Hiroshi Amano von der Nagoya University und Shuji Nakamura von der University of Californa in Santa Barbara, USA, für ihre Entdeckung von Leuchtdioden, die blaues Licht abgeben und damit zu energiesparenden Lichtquellen beitragen. (mit dpa)