Nobelpreis für Medizin: Lebensretter für Millionen
Die höchste Ehrung für medizinische Forschung geht an drei Wissenschaftler, die Mittel gegen Malaria und Wurminfektionen entwickelt haben.
Sein Preis solle jene ehren, deren Entdeckung oder Erfindung „im vergangenen Jahr den größten Nutzen für die Menschheit“ erbracht habe. So legte es Alfred Nobel 1895 in seinem Testament fest. Im Gegensatz dazu zeichnet der Nobelpreis heute oft Grundlagenforschung aus, deren „Nutzen für die Menschheit“ mitunter gering ausfällt. Dieses Jahr ist das anders: Der Nobelpreis für „Physiologie oder Medizin“ (so Nobels Formulierung) geht an drei Forscher, die Millionen Menschen in armen Ländern das Leben gerettet oder vor entstellenden Parasitenkrankheiten bewahrt haben. Mehr „Nutzen“ geht kaum – verknüpft mit der politischen Botschaft, vernachlässigte tropische Krankheiten ernst zu nehmen, auch wenn sie im Bewusstsein der Industrienationen kaum eine Rolle spielen.
Eine Hälfte des mit 850 000 Euro dotierten Preises geht an die chinesische Arzneiforscherin Youyou Tu. Es ist der erste Nobelpreis für Forschung, die ausschließlich in China erfolgte. Tus Arbeit war fast vergessen, bis sie 2011 den Lasker-Preis erhielt, den „amerikanischen Medizin-Nobelpreis“.
Der Beginn ihrer Forschung fällt in die Zeit der von Mao gesteuerten Kulturrevolution, in der Intellektuelle wie Tu zu den „stinkenden alten Neun“ zählten, der untersten gesellschaftlichen Kategorie. Die geächteten Forscher erhielten am 23. Mai 1967 den Geheimauftrag, ein Medikament gegen Malaria zu entwickeln. Hintergrund war ein Hilferuf Nordvietnams. Die mit China verbündeten Nordvietnamesen verloren mehr Soldaten durch Malaria als in Kämpfen gegen den Süden und die Amerikaner.
Das "große Schatzhaus" der Kräutermedizin
Zusammen mit einem Team von mehreren hundert Mitarbeitern durchforstete Tu an der Pekinger Akademie für chinesische Medizin das „große Schatzhaus“ (Mao) der überlieferten chinesischen Kräutermedizin. Sie sammelte und sichtete an die 2000 Rezepturen. 1971 hatte ihre Forschergruppe 380 Auszüge aus 200 Arzneipflanzen gewonnen. Als aussichtsreich erwies sich in Versuchen an Mäusen ein Extrakt aus Einjährigem Beifuß (Artemisia annua), einem „Unkraut“. Schon vor 2000 Jahren wurde Beifuß in einer chinesischen Medizinschrift erwähnt, weil die Pflanze Hämorrhoiden lindern sollte. Spätere Quellen erwähnten eine Wirkung gegen periodische Fieberschübe, ein Kennzeichen der Malaria.
Tu und ihre Mitarbeiter machten vor mehr als 40 Jahren etwas, was heute als „translationale Medizin“ in aller Munde ist, nämlich eine Arzneimittel-Entwicklung vom Labor bis zum Krankenbett. Sie fanden einen Wirkstoff, später im Westen als Artemisinin bezeichnet, bestimmten seinen chemischen Aufbau (um ihn später zu verbessern) und testeten die Substanz an Patienten. Und, im Fall von Tu, an sich selbst. Sie war Artemisinin-Versuchsperson Nummer eins. „Ich hatte die Verantwortung“, sagte sie dazu.
Trotzdem stirbt in jeder Minute ein Mensch an Malaria
Dabei bediente die Wissenschaftlerin sich moderner westlicher Forschungsmethoden. Mit der als „Traditionelle Chinesische Medizin“ (TCM) bezeichneten Heilmethode hat ihre Arbeit daher nichts zu tun, betont Paul Unschuld, Sinologe und Experte für traditionelle chinesische Medizin an der Berliner Charité.
Heute sind Kombinationspräparate mit Artemisinin-Abkömmlingen das Rückgrat der Malaria-Behandlung. Mit Hilfe der raschen und selbst in schweren Fällen heilsamen Therapie gelang es, die Zahl der Malaria-Todesfälle von rund einer Million noch vor wenigen Jahren auf heute unter 500 000 zu drücken. „Trotzdem stirbt noch jede Minute ein Mensch in Afrika an Malaria“, sagt der Tropenmediziner Jürgen May vom Hamburger Bernhard-Nocht-Institut.
Ein möglicherweise wachsendes Problem sind erste Fälle von Artemisinin-resistenter Malaria in Südostasien. „Wir habe noch zehn Jahre Zeit“, sagt Peter Seeberger, der am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Potsdam an Herstellungsverfahren für Artemisinin forscht. „Dann brauchen wir etwas Neues.“ Dabei gibt es für den Wirkstoff ein noch weitgehend unbekanntes Potenzial, denn er könnte auch in der Krebsbehandlung nützlich sein.
Bauern ließen selbst fruchtbare Äcker zurück
Die andere Hälfte des Preises teilen sich der Japaner Satoshi Omura und der gebürtige Ire William Campbell. Sie haben das Anti-Parasitikum Avermectin entdeckt und zu Ivermectin weiterentwickelt. Das Mittel unterbricht die Übertragungskette von Infektionen, die durch Spul- und Fadenwürmer übertragen werden. Zu diesen armutsassoziierten Krankheiten zählen unter anderem Flussblindheit und Elephantiasis.
In einigen Gebieten Afrikas, nahe der schnellfließenden Flüsse, war in den 1970er Jahren beinahe jeder zweite Erwachsene erblindet. Wen die Kriebelmücke noch nicht erwischt hatte, der flüchtete und ließ selbst fruchtbare Äcker zurück. Die Mücke überträgt mit ihrem Biss mikroskopisch kleine Larven des Wurms Onchocerca volvulus von Mensch zu Mensch. Es bilden sich kleine Knoten, in denen sie heranreifen. Millionenfach überschwemmt der Wurm den Körper, verursacht Juckreiz, Ausschläge, Sehstörungen bis zur Erblindung. Mehr als 270 000 solcher Erblindungen sind dokumentiert. Der Parasit brachte die Wirtschaft in diesen Gebieten zum Erliegen.
Die Entdeckung begann neben einem Golfplatz
Ähnlich dramatisch ist die Situation für jene, die sich über Mücken mit den Larven der Würmer Wucheria bancrofti und Brugia malayi anstecken – etwa eine Milliarde Menschen vor allem in ländlichen Regionen und in den Slums der Metropolen Afrikas sind gefährdet. Wird der Parasit nicht kontrolliert, wandert er ins lymphatische System und kann dort Jahre überdauern. Neben Genitalien sind Arme und Beine oftmals so angeschwollen, dass die Patienten auf den ersten Blick erkennbar sind. „Elefantenmann-Syndrom“ nennt man das Leiden deshalb auch und wer es hat, wird in vielen Fällen aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Zu Armut und Schmerzen kommt die Isolation hinzu.
Dass beide Krankheiten heute viel seltener sind, verdanken die Ärmsten der Armen einer Entdeckung, die neben einem Golfplatz im japanischen Ito begann. Satoshi Omura, ein Mikrobiologe am Kitasato-Institut in Japan, wollte neue Arten von Streptomyces finden und sammelte deshalb Bodenproben. Aus Tausenden Kulturen filterte er jene 50 heraus, deren Waffen gegen andere Bakterien besonders vielversprechend für die Medizin waren. Darunter war der Bodenkeim Streptomyces avermitilis. Er bildet ein Stoffwechselprodukt namens Avermectin.
„Wir sind sehr froh, dass wir Artemisinin und Ivermectin haben.“
Omura schickte seine Proben an William Campbell, einen Parasitologen, der zu dieser Zeit in den Forschungslabors von Merck Sharp and Dohme (MSD) in den USA arbeitete. Campbell entdeckte, dass Avermectin parasitäre Erkrankungen in Haus- und Nutztieren sehr erfolgreich bekämpfen konnte – und entwickelte es zu Ivermectin weiter. Dieses Mittel sei außergewöhnlich wirksam gegen viele Parasiten im Darm und in anderen Organen. Es bekämpfe die Würmer dauerhaft und sei gut verträglich, heißt es in der Mitteilung des Nobelpreiskomitees. Es eliminiert die Larven ganz oder fast vollständig, unterbricht damit die Übertragungskette und muss nur zwei Mal pro Jahr genommen werden.
Mit Hilfe von Ivermectin will die Weltgesundheitsorganisation Elephantiasis und Flussblindheit bis 2020 ganz ausrotten. Der Effekt ist vor Ort spürbar. „Ich kooperiere seit fast 25 Jahren mit dem Albert-Schweitzer-Krankenhaus in Lambaréné in Gabun. Heute diagnostizieren wir dort kaum noch neue Fälle“, sagt Peter Gottfried Kremsner vom Uniklinikum Tübingen. Nebenbei wirke Ivermectin gegen andere Parasiten wie Krätzemilben und Läuse. „Wir sind sehr froh, dass wir Artemisinin und Ivermectin haben.“
17 vernachlässigte Tropenkrankheiten zählt die WHO auf
Selbstverständlich ist der Erfolg nicht, betont der Tropenmediziner Peter Hotez vom Baylor College of Medicine in Texas und wissenschaftlicher Gesandter von Obama. „Die Menschen schliefen noch vor zehn Jahren praktisch ein, wenn wir ihnen von solchen Leiden erzählten. Erst als wir sie unter dem Namen „vernachlässigte Tropenkrankheiten“ zusammenfassten, ging es vorwärts.“
17 solcher Krankheiten zählt die Weltgesundheitsorganisation auf. Elephantiasis und Flussblindheit könnten die ersten von der Liste werden, die die Welt bis 2020 ausrottet. Die Pharmaindustrie – unter anderem MSD – spendet Medikamente, globale Netzwerke haben sich dem Ziel verschrieben, die Mittel zu den Betroffenen zu bringen. 400 Millionen Menschen konnten so bereits behandelt werden, für gerade einmal einen halben Euro pro Jahr. „Um die Krankheiten ganz verschwinden zu lassen, sollten es 1,2 Milliarden Menschen sein“, sagt Hotez. Wenn man die dauerhaften Behinderungen und die Todesfälle durch vernachlässigte Tropenkrankheiten zusammenzähle, seien sie so bedeutsam wie die großen Drei: HIV, Malaria und Tuberkulose. Jeder Dollar, jeder Euro, der in ihre Bekämpfung investiert werde, sei gleichzeitig Entwicklungshilfe. Schließlich sei Gesundheit die Voraussetzung dafür, zur Schule oder Arbeit zu gehen und so der Armut zu entkommen.