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Martin-Gropius-Bau: Lucian Freud in Berlin

Widerspenstiger Wunderknabe: Der Martin-Gropius-Bau zeigt Radierungen und ein einziges Gemälde von Lucian Freud.

Ein Mann und eine Frau blicken aus den Seiten eines Buches. Mit sinnlichen Lippen und sorgenvoller Stirn. Die beiden Porträts stammen aus der Werkstatt des ägyptischen Bildhauers Thutmoses, sind also über 3000 Jahre alt. Für „The Egyptian Book“ holt Lucian Freud mit wenigen Veränderungen das Werk des Künstlerkollegen in die Gegenwart und schält gleichzeitig die archaische Grundstruktur des Paares heraus.

„Closer“ heißt die Ausstellung im Martin-Gropius-Bau und die Radierungen von Lucian Freud aus der UBS Art Collection ziehen die Besucher in den Bann dieses maliziösen, widerspenstigen Werkes. Das Blatt „The Egyptian Book“ spannt die Brücke zwischen London und Berlin, Freuds alter und seiner neuen Heimat. Lucian Freud wurde 1922 in Berlin geboren. Sein Vater war der Architekt Ernst Ludwig Freud, ein Sohn des Psychoanalytikers Sigmund Freud. Die Familie wohnte in der Prinzregentenstraße 23, die Möbel hatte Ernst Ludwig Freud selbst entworfen. An den Wänden hingen Drucke des japanischen Holzschneiders Hokusai. Für verstörendere Eindrücke sorgte Sigmund Freud, als er seinem Enkel die „Vier Jahreszeiten“ von Pieter Bruegel schenkte. In Berlin besuchte Lucian Freud mit seiner Großmutter mehrmals das Ägyptische Museum. Später bekam er das Buch „Geschichte Ägyptens“ von James H. Brestead geschenkt und bewahrte es sein Leben lang auf. Die Radierung „The Egyptian Book“ zeigt Abbildungen daraus. Sie entstand 1994, 60 Jahre, nachdem die Familie Berlin hatte verlassen müssen.

Nach der Ankunft in England interessierte sich Lucian Freud zunächst eher für Pferde als für Kunst. Die Skulptur eines dreibeinigen Pferdes öffnete ihm die Türen der Central School of Arts and Crafts. Bald galt er als Wunderknabe, aber erst zehn Jahre später fand er zu seinem eigenen Stil.

Ernsthaft beschäftigte sich Freud ab 1982 mit der Radierungen

Die Radierungen überspringen die unsicheren Experimente der Malerei mit Surrealismus und Neuer Sachlichkeit. Ernsthaft beschäftigte sich Freud erst ab 1982 mit der Technik, als seine Malerei bereits durchgehärtet war. Anlass war die erste Monografie, die im Jahr seines 60. Geburtstags erscheinen sollte. Um sie zu finanzieren, porträtierte Freud den Autor, den englischen Kunsthistoriker Lawrence Gowing, und verkaufte die Grafik in einer Auflage von hundert Stück.

Von Lawrence Gowing stammen auch die Beobachtungen während des Modellsitzens. Der Kritiker, der selbst auch malte, musste sich zum Morgengrauen im Atelier einfinden, Freud legte Wert auf Pünktlichkeit. Für das Porträt wechselte der Künstler immer wieder seinen Standpunkt, sammelte Details des Gesichts aus verschiedenen Perspektiven, als würde er mit mehreren Kameras arbeiten. Alles Überflüssige ließ er weg. Als die Arbeit fertig war, fiel dem Porträtierten auf, dass in dem Bild seine Ohren fehlten.

Von da an bearbeitet Lucian Freud zeitgleich ein Motiv in der Malerei und in der Radierung. Aber er verkleinert den Ausschnitt und wechselt die Perspektive. Das Porträt von Lawrence Gowing erinnert in den Linien noch an Alberto Giacometti, für den Lucian Freud einst selbst in Paris Modell gesessen hatte. Für die Radierung übersetzt der Künstler die plastische Gestaltung des pastosen Farbauftrags aus der Malerei in eine Dramaturgie aus Linien und Leerflächen.

Ein Gemälde erlaubt den Vergleich der Techniken

Ein einzelnes Gemälde erlaubt in der Berliner Ausstellung den Vergleich zwischen den Techniken. Für „Double Portrait 1988–1990“ malt er Susanna Chancellor mit Pluto, seinem Windspiel. Der Hund schmiegt sich ganz eng in den Arm der Frau. Schon im alten Ägypten diente der Whippet als pfeilschneller Begleiter der Jäger. Hier wirken Tier und Mensch wie eine Einheit. Das Doppelporträt wuchs im Lauf von zwei Jahren. Weil ihm der Platz auf der Leinwand nicht reichte, musste Freud anstückeln, um den Hund vollständig darzustellen.

Anders in der Radierung. Da zoomt er den schlafenden Hund ganz nah heran, schneidet die Frau an, sodass nur noch Hand und Fuß von ihr zu sehen sind. Die Einzelheiten stehen repräsentativ für die entspannte Vertrautheit der Schlafenden. Die hellen Leerstellen lassen den Körper des Hundes leichter erscheinen, die Beine wirken wie von Röntgenstrahlen durchleuchtet, am Kopf des Jagdhundes verdichten sich die Linien hin zum dunklen Maul und der schwarzen Nase.

Weil Freud in seinen Radierungen den Hintergrund leer lässt, fehlt die erdige Schwere des Fleisches, die seine Malerei so provozierend wirken lässt. Selbst Sue Tilley, die üppige Angestellte bei einem Arbeitsamt, scheint träumend zu schweben. Leigh Bowery, der herausfordernde Performancekünstler, liegt schwer krank auf dem Bauch. Freuds Tochter Bella wirkt robust und dem Künstler auffällig ähnlich. Lucian Freud porträtierte immer wieder Menschen, die er gut kannte. Fast immer arbeitete er in seinem eigenen Studio. „Mein Werk ist rein autobiografisch“, wird er oft zitiert.

Der ungekämmte Lord blickt genervt

Bei der Arbeit an den Radierungen stellte der Künstler die Kupferplatten wie eine Leinwand senkrecht auf die Staffelei, erzählt die Kuratorin Mary Rozell. In der Druckerei experimentierte er manchmal einen Monat lang mit unterschiedlichen Abzügen, ehe er mit dem Resultat zufrieden war. Kontrolle sei ihm wichtig, schreibt der Biograf Lawrence Gowing. Die Blätter wirken leichter als die Malerei und verraten einen bissigen Humor.

Eines der wenigen Porträts, für das Lucian Freud sein Atelier verließ, zeigt seinen Anwalt Lord Goodman. Weil der Jurist zu beschäftig war, um lange Modell sitzen zu können, besuchte der Künstler ihn beim Frühstück zu Hause. Aus leichter Untersicht festgehalten, blickt der ungekämmte Lord entnervt sein Gegenüber an. Während sich die meisten Modelle der Aufmerksamkeit des Künstlers hingeben, leistet der Lord Widerstand. Freud macht sich lustig, indem er nachträglich den Pyjama blassgelb koloriert.

Bei seinem Selbstporträt allerdings vergeht ihm das Lachen. Mit 74 Jahren hat der einst blendend aussehende Womanizer ein schiefes Kauzgesicht bekommen. Die Haut wirkt durchlässig wie Zellstoff, ein Gewebe aus feinen Strichen. Ausnahmsweise ist der Hintergrund dunkel, der empfindliche Hals fast schwarz, als würde sich Freud in der Nacht auflösen. „Ich kann die Information, die ich bekomme, wenn ich mich anschaue, nicht akzeptieren – da wird es schwierig“, hat er einmal seine seltenen Selbstporträts erklärt.

„Self-Portrait: Reflection, 1996“ hängt am Ende der Ausstellung. Aber vielleicht ist das ganze beunruhigende Werk nur durch diesen ungemütlichen Blick auf die eigene Seele zu verstehen.

Martin-Gropius-Bau, bis 22. Oktober, täglich außer Dienstag von 10–19 Uhr

Simone Reber

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