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Lucian Freud in Wien: So viel Fleisch, so viel Delikatesse

Im Kunsthistorischen Museum hängen die Werke des 2011 verstorbenen Lucian Freud derzeit in direkter Nachbarschaft zu den Alten Meistern. Das ist berechtigt, denn der Enkel des Psychoanalytikers Siegmund Freud gehört zu den großen Meistern der figürlichen Malerei im 20. Jahrhundert. Er war ein Unnachgiebiger mit chirurgisch genauem Blick.

Ist das schöne Malerei? Nein, darum geht es nicht. Das Selbstbildnis, das den Künstler vollkommen nackt zeigt – bis auf die offenen Stiefeln an den Füßen als Schutz vor Bodensplittern –, könnte man sogar als hässlich, zumindest erbarmungswürdig bezeichnen. Lucian Freud war gnadenlos mit sich. Das Bild entstand 1993, in seinem siebzigsten Lebensjahr, ein gealterter Künstler mit Palette in der einen und Spachtel in der anderen Hand, ein Ritter von der traurigen Gestalt. Doch was weit mehr zählt als Schönheit: Die Malerei ist meisterlich. Und so hängt sie drei Monate lang im Allerheiligsten der Wiener Ausstellungshäuser, im Kunsthistorischen Museum, in unmittelbarer Nachbarschaft von Rubens, Rembrandt, Tizian. Ein Ritterschlag, den der Künstler nicht mehr erlebt hat. Er verstarb über den Vorbereitungen der Ausstellung im Sommer vor zwei Jahren.

Lucian Freud und Wien, das war immer schon eine komplizierte Angelegenheit, um es vorsichtig zu formulieren. Immer wieder hatten sich die diversen Häuser der Stadt vergeblich um den Künstler bemüht. Nur einmal gab er nach und entlieh einige Blätter in eine Ausstellung zeitgenössischer britischer Zeichenkunst in der Albertina. Jasper Sharp, der Kurator für Zeitgenössisches am Kunsthistorischen Museum, brach schließlich den Bann. Er überzeugte den Maler, sich mit einer ganzen Ausstellung der einstigen Wirkungsstätte seines Großvaters zu stellen, des Psychoanalytikers Sigmund Freud. Zehn Jahre übrigens, nachdem sein Freund Francis Bacon am gleichen Ort ausstellen durfte. Überzeugend dürfte auch gewirkt haben, dass sich im Kunsthistorischen Museum jene Werke als Original befinden, an die er Erinnerungen noch aus Berliner Kindertagen besaß.

Seine Familie – der jüngste Sohn Sigmund Freuds, der Architekt Ernst Freud, war nach Studium und Heirat in Berlin sesshaft geworden – lebte in den Zwanzigern nahe dem Tiergarten in der Regentenstraße. Zwei Jahreszeitenbilder von Pieter Breughel hingen dort als Reproduktionen an der Wand: „Jäger im Schnee“ und „Die Heimkehr der Herde“. Der Großvater hatte sie dem Enkel als Geschenk aus Wien mitgebracht. Die Originale befinden sich nun in einem Nachbarsaal der Ausstellung. Ein Kreis schließt sich. 1933 musste die Familie unter dem Druck der Nazis aus Berlin nach Großbritannien emigrieren. Der damals zehnjährige Lucian sprach fortan nicht mehr Deutsch. Vier Tanten starben in Konzentrationslagern.

Diese tragische Vergangenheit schwingt auch in der jetzigen Ausstellung mit. Das Museum zelebriert zweifellos die Werke des großen britischen Malers, doch zugleich soll diese Ehrerbietung eine Stadt rehabilitieren, mit der Freud bis ins hohe Alter gehadert hat. Das nach dem Großvater benannte Museum in der Berggasse Nummer 19, wo der Psychoanalytiker bis zur eigenen Emigration seine Praxis hatte, zieht mit einer eigenen Ausstellung nach. Parallel zur Malereischau präsentiert es Fotografien aus dem Atelier des Künstlers, aufgenommen von seinem Assistenten David Dawson, der ihm ebenfalls Modell saß. Die Aufnahmen sind eine Rarität, denn der Maler ließ sich nur höchst ungern bei der Arbeit fotografieren. Das eiserne Bettgestell, die weißen Fensterläden, der braune Dielenboden, die auf vielen Bildern immer wiederkehren, sind hier als Momentaufnahmen zu entdecken. Der Künstler selbst malte über Jahre an einem Werk. So auch am letzten, einem unvollendet gebliebenen Doppelporträt von Dawson zusammen mit seinem Hund Eli.

Die Ausstellung im Kunsthistorischen Museum zieht den großen Bogen. Sie umfasst 70 Jahre Schaffenszeit, beginnend mit dem ersten Selbstporträt des gerade 21-Jährigen von 1943. Ernst blickt der junge Mann den Betrachter an: das ovale Gesicht, die lange Nase, der schmale Mund, die hohe Stirn – die Ähnlichkeit mit dem Großvater ist unverkennbar. Freud bediente sich damals noch eines feinen Zobelhaarpinsels, jedes Detail erscheint akribisch genau. Die Beklommenheit im ganzen Ausdruck wird dadurch gesteigert. Erst in den Fünfzigern wechselt er zu den groben Schweineborstenpinseln, die seine später typisch lockere Malweise befördern sollten und die Fleischlichkeit seiner nackten Modelle nochmals betonte.

Das Porträt wird zu Freuds besonderem Sujet, ja seinem Element, das erweist sich schon mit den ersten Bildern. Auf seine Art betreibt er ebenfalls Analyse, ist Psychologe. Doch spiegelt sich in der Darstellung von Freunden, Nachbarn, Geliebten, eigenen Kindern, seiner selbst auch die eigene Verfassung, spielt die besondere Beziehung herein. Allein neun der 43 nun gezeigten Werke sind Selbstporträts. Besonders berühren die Bildnisse seiner Frauen: die schwangere Kitty Garman, die er 1951 bald nach Vollendung des Gemäldes verlässt, Lady Caroline Blackwood, die Guinness-Erbin, mit der er ein Jahr später nach Paris durchbrennt, und schließlich 1960/61 Bernadine Coverly kurz vor der Geburt der gemeinsamen Tochter Bella. Der Blick des Malers umfängt sie zwar mit großer Zärtlichkeit, doch wird sein unnachgiebiges Interesse an Inkarnat, Lagerung der Körperglieder, Verteilung von Masse genauso sichtbar. Bald schon beginnt er seine Akte Nacktporträts zu nennen. Mit diesem Terminus definiert er einen neuen Bildtypus für sich. In ihrer Unnachgiebigkeit machten die Porträts Lucian Freud weltberühmt. Wer heute über figurative Malerei spricht, kommt an seiner Kunst nicht mehr vorbei.

Die gleiche Neugier, die Freud dem Menschen entgegenbringt, gilt auch den Tieren und Pflanzen. Alpenveilchen etwa faszinierten ihn: „Sie gehen so dramatisch zugrunde, als ob sie sich füllen und überlaufen würden. Sie gehen zu Boden – die Stängel eine Pampe, die Blattnerven hat.“ Freuds Art, das Vegetative in allen Dingen zu sehen, verstört bis heute. Ob nun eine Bananenstaude, der Blick aus seinem Fenster in Paddington auf den Sperrmüll im Hinterhof oder die üppigen Rundungen einer Frau – der Künstler seziert die einzelnen Elemente chirurgisch genau und fügt sie dann zusammen mit dem Blick eines großen Humanisten.

Geradezu schockierend zeigt sich diese sanfte Härte in den vier Gemälden, für die ihm Sue Tilley zwischen 1994 und 1996 Modell saß. Ihre imposante Fülligkeit macht sie zum Monument. Berühmt wurde nicht zuletzt der exorbitante Preis, den ein privater Sammler, der Oligarch Roman Abramovic, 2008 bei Christie’s in New York zahlte: 33,6 Millionen Dollar für das Werk eines noch lebenden Künstlers, ein Rekord. Das eigens für Sue Tilley angeschaffte Sofa bringt ihre drallen Proportionen nur noch mehr zur Geltung. Freud malt die städtische Angestellte, deren Funktion der Künstler ausnahmsweise auch im Titel nennt, hingegossen wie eine Venus aus alter Zeit und schreibt damit die Kunstgeschichte der großen Göttinnenbilder fort.

Zwei der vier Bilder von Sue Tilley sind nun auch in Wien zu sehen. Staunend lässt sich der Besucher auf die samtbezogenen Museumsbänke niedersinken: so viel Fleisch, so viel gemalte Delikatesse. Mit Freud bewegt sich der Betrachter vor und zurück in der Zeit. Selbst hier im Kunsthistorischen Museum löst sich der Anachronismus seiner künstlerischen Position nicht auf. Zwischen den Alten Meistern wirkte er wie ein verlaufener Gast aus der Gegenwart, in der Umgebung zeitgenössischer Maler wie ein Wiedergänger aus der Vergangenheit. Die Kanonisierung in der großen Kunstgeschichte gelingt in Wien zwar nicht, doch der Blick für die singuläre Position des Malers, die empathische Kraft seiner Porträts wird umso mehr geschärft.

Kunsthistorisches Museum Wien, bis 6. Januar 2014; Katalog 39,95 €.

Nicola Kuhn

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