Giacometti-Film „Final Portrait“: Ein verlöschender Vulkan
Stanley Tuccis „Final Portrait“ ist einer der besten Atelierfilme aller Zeiten. Geoffrey Rush glänzt als Alberto Giacometti.
Das Genre des Atelierfilms ist ziemlich neu, vielleicht gibt es den Atelierfilm auch nicht mehr lange, aber in diesem Sommer sind es gleich zwei: zuerst Stanley Tuccis „Final Portrait“ und dann „Rodin“ von Jacques Doillon. Ein Künstlerfilm ist etwas ganz anderes als ein Atelierfilm. In einem Atelierfilm spielt dieses die Hauptrolle, wenn nicht die erste, so doch zumindest die zweite.
Die erste spielt wahrscheinlich Alberto Giacometti selbst, der so lebte, wie es allen Künstlern vor Augen steht, zumal wenn Erfolg und Geld sie auf zudringliche Weise ignorieren. Giacometti dagegen weiß sich belästigt vom Erfolg und vom Geld gleichermaßen. Fürchtet den Erfolg! Man muss der Welt nichts mehr beweisen, aber ist das noch ein Leben? Und er ist es eben gewohnt zu arbeiten. Also fragt er einen jungen Amerikaner, der schon ein paar nicht ganz unkluge Aufsätze über ihn geschrieben hat, ob er für ihn Modell sitzen würde. Das ist 1964 in Paris.
Was für eine Auszeichnung: Der Meister persönlich erwählt unter allen Gesichtern der Welt dieses vollkommen alltägliche eines vergleichsweise vollkommen alltäglichen Menschen. Der Schriftsteller und Publizist James Lord (Armie Hammer) ist ergriffen, wenn es nur nicht zu lange dauere, den er fliege übermorgen zurück nach Amerika. Perfekt!, sagt der Künstler, zwei, drei Stunden, mehr nicht.
Das Atelier als Lebewesen
Als Regisseur Stanley Tucci wusste, dass er diesen Film drehen würde, dachte er sofort an Geoffrey Rush. Geoffrey Rush, der vor fast 20 Jahren mit „Shine“ über Nacht berühmt wurde. Er spielte nichts als Glut: Der hochbegabte Pianist David Helfgott führt ein Leben in der Psychiatrie, nicht zuletzt weil sein Vater die Symptome von Genialität und Wahnsinn nur ungenügend auseinanderhalten konnte. In jedem Augenblick tanzte Rush, den außerhalb des australischen Theaters niemand kannte, auf seinem eigenen Vulkan.
Hier nun, 20 Jahre später, ist er ein verlöschender Vulkan, der manchmal noch ein paar Schwefelwolken aufsteigen lässt, oder nein, die Rauchschwaden kommen aus Giacomettis Zigarette und sie sind mitunter das Einzige im Raum, was sich bewegt. Das ist großartig! James Merifield, der Szenenbildner von „Final Portrait“, hat die Vermutung geäußert, dass es sich bei Giacomettis Atelier um ein Lebewesen handele und er hoffe, dass man seinen Pulsschlag hören könne. Mister Merifield, man kann! Ungefähr so: Bum ... nichts ... bum ... nichts ... nichts ... bum. Und eben das macht „Final Portrait“ ganz gewiss zu einem der besten Atelierfilme aller Zeiten. Man könnte das auch mehr philosophisch erklären. Kino ist eine Kunst der Zeit, in diesem Fall währt sie genau 90 Minuten. Aber zwischendurch steht sie öfter mal still: Zum Raum wird hier die Zeit! Und genau das sollte in einem Atelier passieren.
Wir befinden uns im Paris des Jahres 1964, aber in dieser Höhle, auch Atelier genannt, sieht es aus wie bei der Bohème um 1900, und Giacometti selbst wirkt, als trage er dieses alte Tweedsacko und die Hose auch seit 1900, ohne sie jemals abgelegt zu haben. Es gibt Menschen, die wohnen in ihren Sachen. Und überall stehen Giacomettis Strich-Skulpturen, die die Existenzialisten für ungemein existenziell hielten. Die Surrealisten hatten Giacometti zuvor wegen inakzeptabler realistischer Tendenzen rausgeschmissen.
Ab und zu lugt Rush-Giacometti missvergnügt hinter seiner Staffelei hervor und auf sein schriftstellerndes Modell, dessen Flug ... Wann ging der noch mal? Der Maler macht ein Gesicht latenter Bedrängnis, was da auf der Leinwand erschien, hat noch nichts zu tun mit dem, was dort erscheinen sollte. Aber er braucht gar nicht zu bitten, der junge Mann kennt seine Verpflichtung. Er bucht um. Ich buche um!, wird zum Hauptsatz der nächsten Wochen.
Nichts ist ungerechter als die Kunst, die Zeit, das Leben
Das Kunstwerk, der Kunstschriftsteller hätte es wissen können, nimmt sich die Zeit, die es braucht. Und niemand hat darauf weniger Einfluss als der Künstler selbst. Das bestätigen ihm auch die Menschen, die in den Umkreis des Ateliers gehören, in dem dieser wohlgekleidete Amerikaner wie ein Außerirdischer wirkt. Da ist etwa Giacomettis – vom Mann aus betrachtet – alte Ehefrau, gespielt von Sylvie Testud! Im gleichen Jahr, als plötzlich alle wussten, wer Geoffrey Rush ist, wussten auch viele, wer Sylvie Testud ist: In „Der Klang der Stille“ war sie die Tochter gehörloser Eltern, jetzt spielt sie eine dezent frustrierte Ehefrau, die sich bei ihrem Mann einen Mantel erbetteln muss, während er seinem neuen Modell, das im Nebenberuf als Prostituierte arbeitet, einen Sportwagen schenkt. Nichts ist ungerechter als die Kunst, die Zeit und das Leben. Die Zuhälter, die Giacomettis Atelier verwüsten, sind allerdings der Auffassung, dass die Kleine (Clémence Poésy) im Hauptberuf als Prostituierte arbeitet, und zwar zu wenig. Giacometti leistet den Jungen großzügig Schadensersatz, bezahlt unaufgefordert für Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen.
Welche Zukunft? Das Porträt des Amerikaners wird sein letztes Bild, er schenkt es ihm. 1990 wird es für 20 Millionen Dollar verkauft.
Cinemaxx Potsd. Platz, Filmtheater am Friedrichshain, OmU: Hackesche Höfe, Cinema Paris Kulturbrauerei, Passage
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