Sigmund Freud und die Psychoanalyse: Aus dem Souterrain der Psyche
Sigmund Freuds Lehre ist aus den deutschen Universitäten fast verschwunden. Warum die Psychoanalyse aber keineswegs erledigt ist.
Keine Wissenschaft der Moderne ist auf derart erbitterten Widerstand der Zeitgenossen gestoßen wie die Psychoanalyse. Sigmund Freud selbst hat seine Lehre als Auslöser einer Kränkung beschrieben, die dem Ich die unerfreuliche Einsicht vermittelt, dass es nicht Herr im eigenen Haus ist. Diesem Bild gemäß setzt die Psychoanalyse die Enttäuschungserfahrungen fort, die neuzeitliche Wissenschaften dem Menschen bereiteten: mit Kopernikus ist die kosmische Zentralposition der Erde, mit Kant die Zuverlässigkeit unserer sinnlichen Wahrnehmung, mit Darwin die Sonderstellung des Individuums in der Schöpfung fraglich geworden. Freuds Lehrsystem beseitigt nun die letzte der modernen Illusionen, den Glauben an die Reinheit des menschlichen Seelenlebens und die Dominanz unseres Bewusstseins.
Was es zutage fördert, sind Ansichten aus dem Souterrain der Psyche. Das Wissen über das Unbewusste offenbart eine unerfreuliche Botschaft: wer Traum und Neurose, die krankheitsbildende Macht der Verdrängung und die Ursprünge des moralischen Kontrollsystems, die Anatomie von Angst und Wahn, die Spannung zwischen Vernunft und Sexualität, zwischen Lebens- und Todestrieb untersucht, der erkennt, dass der rationale Mensch eine Erfindung von eindrucksvoller Wirkungsmacht, aber geringer psychologischer Stimmigkeit ist.
Freud hat die schwierigen Wege, die ihn seit 1890 von seinen frühen hypnotischen Behandlungsmethoden zu neuen Therapieformen führten, rückblickend gern mit romantischen Metaphern beschrieben. Seine Exkursionen ins Seelenleben galten ihm als Abstieg in die dunkle Unterwelt des Unbewussten, als Reise ins Innere eines Berges, in dem nicht nur Gold, sondern ebenso Schmutz und Schlamm zu finden waren. Auch wenn solche Bilder im Zeichen der Verklärung stehen, besitzen sie einen wahren Kern. Sie spiegeln nämlich das Gefühl der Einsamkeit, das den Vater der Psychoanalyse über viele Jahre begleitete, die Angst vor dem Versagen seiner Hypothesen und der schroffen Verurteilung durch die gesamte medizinische Wissenschaft.
Dass Freud zahlreiche seiner Erkenntnisse durch die Selbstanalyse gewann, machte die Last noch drückender. Denn die Netze der neuen Theorie wurden aus dem intimsten persönlichen Erfahrungsmaterial ihres Begründers gewebt, und ihre Lehre stützte sich auf eine befremdliche Doppelkonstellation: Arzt und Patient, Gelehrter und Kranker waren hier eins. Das rückte die Psychoanalyse in die Nähe von Malerei, Musik und Literatur, deren Werke sich aus der subjektiven psychischen Erfahrungswelt ihrer Schöpfer speisen. Freuds Wissenschaft bildete in diesem Sinne ein Kunstwerk, das vom Seelenhaushalt seines Produzenten geprägt wurde.
Es steht außer Frage, dass Freuds Lehre heute in vielen Punkten historisch überholt ist. Ihr Geschlechterbild, ihr Verständnis abweichender sexueller Praktiken, ihre Vernachlässigung körperlicher Symptome und ihre Kulturtheorie waren geprägt von der Epoche des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Freuds Neigung zu strenger Dogmatik lässt sich heute nur begreifen, wenn man den gesellschaftlichen Puritanismus des viktorianischen Zeitalters berücksichtigt, gegen den sie aufgeboten wurde. George Steiner hat vom „ungeprüften Glauben“ gesprochen, der sich „im Herzen der psychoanalytischen Methode“ niedergelassen habe. Es ist der Glaube an die Allmacht des Triebes, der aus allen Zeichen der Sprache und des Alltags, aus Kunst und Religion abgeleitet werden kann.
Dem feinen Gespür für die Widersprüche des menschlichen Seelenlebens stand bei Freud ein merkwürdiger Hang zur einseitigen Begründung von Symptomenkomplexen und Heilungsverfahren gegenüber. Noch heute bemängeln Kritiker wie Jeffrey Moussaieff Masson und Michel Onfray in der Linie seines abtrünnigen Schülers C. G. Jung, dass Freuds Hypothesen nicht breit genug fundiert und seine Lehre dogmatisch auf die Allgegenwart des Triebs fixiert sei. Und dennoch kann man die kulturhistorische Leistung nicht leugnen, die die Psychoanalyse als Teil der Moderne, als Instrument ihrer Deutung und ihr Motor zugleich vollbracht hat. In dieser Doppelrolle blieb sie typisch für das 20. Jahrhundert, das sich durch Selbstauslegungen kommentiert und vollzieht.
Als Wissenschaft der Ich-Erforschung formte die Psychoanalyse Denkordnungen aus, in denen sich die Moderne mit ihren intellektuellen Neigungen spiegeln konnte. Ihre Lust an der Erkundung verborgener Spuren und Zeichen, ihre besondere Nähe zum Geheimnisvollen und Versteckten fanden hier Bestätigung, aber auch Deutung. Die Archäologie der Seele, die Freud anbot, war zugleich eine der Epoche. Wer von der Moderne spricht, redet notwendig über die Psychoanalyse; er tut das nicht immer ausdrücklich, aber zwangsläufig. Die Moderne zu reflektieren heißt: von der Psychoanalyse begriffen, von ihr bestimmt zu sein. Auch Freuds Gegner entkommen ihr nicht, weil sie noch im Moment der Kritik vom Bann ihrer Deutungsmuster beherrscht werden. Die Diagnose, die sie dem Trieb und dem Unbewussten stellt, erfasst unsere großen Erzählungen von der Kultur des Menschen. Niemand kann diese Erzählungen mehr beginnen lassen, ohne den Lehren Freuds seinen Tribut zu zollen.
Freuds idealer Analytiker bewegt sich in streng umrissenen Praktiken und Ritualen. Weitgehend stumm, nur sporadisch fragend und nachfassend, vernimmt er die Patienten-Rede, die von der Couch an sein Ohr dringt. Die Psychoanalyse stiftet durch das Institut des therapeutischen Gesprächs eine neue Form der Erkenntnissicherung, die eine Mischung aus Beichte und peinlicher Befragung darstellt. Das Material, das Freud zur folgenreichsten Theorie des modernen Menschen formte, stützt sich nicht auf Laborpräparate, Experimente oder Texte, sondern auf die Leidensgeschichten, die er über Jahre hinweg vernommen hat. In den „Studien über Hysterie“ (1895) hieß es, der Therapeut sei ein „Beichthörer, der durch die Fortdauer seiner Teilnahme und seiner Achtung nach abgelegtem Geständnisse gleichsam Absolution erteilt“. Das Unbewusste des Arztes solle sich, so schrieb Freud 1912, „auf den Analysierten einstellen wie der Receiver des Telephons zum Teller eingestellt ist. Wie der Receiver die von Schallwellen angeregten elektrischen Schwankungen der Leitung wieder in Schallwellen verwandelt, so ist das Unbewusste des Arztes befähigt, aus den ihm mitgeteilten Abkömmlingen des Unbewussten dieses Unbewusste, welches die Einfälle des Kranken determiniert hat, wiederherzustellen.“ Die analytische Arbeit war zunächst ein Hineinfinden in die Schwingungen der fremden Seele, aus der dann die Zusammenhänge des psychisch Verdrängten rekonstruiert werden. Das Prinzip des Zuhörens bildete die Grundlage des therapeutischen Akts, Ausgangspunkt und Ethos des Verstehens zugleich.
Und heute? Freuds Lehre hat ihre schlimmsten Widersacher und ihre dogmatischen Verteidiger gleichermaßen überlebt. Als therapeutisches Werkzeug ist die aus ihr abgeleitete und später weiterentwickelte Therapie nicht unumstritten, aber doch weiterhin anerkannt. Aus dem akademischen Leben der Universitäten allerdings scheint sie hierzulande fast verschwunden. Das hat seine Gründe auch in der Geschichte des 20. Jahrhunderts: jüdische Analytiker wurden nach 1933 aus Deutschland vertrieben und fanden in Großbritannien, Frankreich und den USA Aufnahme. Noch heute ist die Lehre Freuds, der selbst 1938 nach London floh, in der angloamerikanischen Akademia eher zu Hause als in Deutschland.
Hinzu kommen methodische Spannungen, die Psychoanalyse und moderne Neurowissenschaft trennen. Freuds System erscheint den Vertretern der Hirnforschung allzu spekulativ, weil der Weg zur wissenschaftlichen Begründung des seelischen Apparates über eine Mischung aus Empirie und Theorie, nicht aber über das Experiment führt. Dennoch sollte eine Verständigung möglich sein. Dass die Psychoanalyse heute Film, bildende Kunst und Literatur stärker beeinflusst als Medizin und Psychologie, bleibt zwar ein Faktum, muss aber nicht dauerhaft so bleiben.
Freuds Lehre jedenfalls ist nicht erledigt, sondern durchaus entwicklungsfähig – gerade weil die Zeit ihrer undogmatischen Auslegung begonnen hat, mit Anschlussmöglichkeitern in verschiedene Richtungen der Neuroforschung und Kulturtheorie. Dass auch die Universitäten sie nicht nur unter historischen Gesichtspunkten präsentieren, sollte zu ihrem Auftrag gehören, acht Jahrzehnte Jahre nach Freuds Tod.
Der Autor, Professor für Neuere deutsche Literatur und Präsident der Freien Universität, hat die öffentliche Ringvorlesung „Who is afraid of Freud? Perspektiven der Psychoanalyse heute“ konzipiert. Den Auftakt macht am Dienstag, dem 22. Oktober, ein Vortrag von Martin Teising (International Psychoanalytic University) zum Thema „Gesundheit und Krankheit im Verständnis der Psychoanalyse“. – 16.15 Uhr im Hörsaal 1a, Habelschwerdter Allee 45.
Peter-André Alt