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Im Bühnenbild von Olaf Altmann wandelt sich Selge als Houellebecqs Erzähler vom sarkastischen Intellektuellen zum traurigen Clown.
© Markus Scholz/dpa

Interview mit Edgar Selge: „Ich erwarte das Neue. Das Unabgesicherte“

Der Schauspieler Edgar Selge zeigt an der Berliner Volksbühne Michel Houellebecqs „Unterwerfung“. Ein Gespräch über Theater, Kunst und Politik.

Das Gespräch findet in der Dachgeschosswohnung von Edgar Selge und Franziska Walser in Prenzlauer Berg statt. Das seit fast 35 Jahren verheiratete Schauspielerpaar lebt aus familiären wie beruflichen Gründen mal in Berlin, mal in München. Der 1948 geborene Selge wuchs in Herford als Sohn eines Jugendgefängnisdirektors auf und spielte zuerst Theater mit Strafgefangenen. Nach dem Philosophie- und Germanistikstudium in München und als Stipendiat am Trinity College in Dublin wechselte er zum Theater, spielte nach der Schauspielausbildung von München bis Berlin, Wien, Zürich und Hamburg an vielen Bühnen und reüssierte im Kino und Fernsehen, von Helmut Dietls „Kir Royal“ und „Rossini“ bis zuletzt in der TV-Verfilmung von „Unterwerfung“ durch seinen Neffen Titus Selge. Das Gastspiel von „Unterwerfung“ an der Berliner Volksbühne beginnt am Dienstag, weitere Vorstellungen am 19. 12., 30., 31. 1. und ab April.

Herr Selge, Sie wurden für Ihre Rolle in „Unterwerfung“zum Schauspieler des Jahres gewählt und erhalten in Hamburg nach über 70 Vorstellungen im ausverkauften Deutschen Schauspielhaus von den 1200 Zuschauern noch jedes Mal Standing Ovations. Jetzt wird Michel Houellebecqs „Unterwerfung“ auch an der Berliner Volksbühne gezeigt. War das Ihre Idee, den Roman als Solist auf die Bühne zu bringen?

Es war die Idee von Karin Beier, der Regisseurin und Intendantin. Einen Monat, nachdem das Buch erschienen war, rief sie mich an: Ich glaube, wir haben einen Sechser im Lotto, wir haben die Rechte zur Uraufführung von „Unterwerfung“. Ich stelle mir das als Monolog eines älteren Schauspielers vor, sagte sie, im großen Haus. Magst du das Buch mal lesen und darüber nachdenken? Meine Antwort war: Ich habe das Buch gelesen, da muss ich nicht drüber nachdenken! Der Bühnenbildner Olaf Altmann hat dann sofort das Kreuz vorgeschlagen.

Eine bespielbare, bekriechbare Kreuz-Öffnung in der Mitte des schwarzen Vorhangs als einziges Szenenbild. Ein Sinnbild, und für Sie im Spiel ein vertrackt verwinkelter Ort.

Danach haben wir Karin Beiers Fassung gelesen, ich habe immer nur in ihr Gesicht hineingesprochen. Das waren zuerst 83 Seiten, aber ich habe gesagt, das schaffe ich nicht und auch nicht die Zuschauer. Also haben wir es auf 43 Seiten gekürzt.

43 von 270 Romanseiten.

Trotzdem sind noch Sachen reingekommen, für die ich geworben habe.

Welche Passagen waren das?

Zum Beispiel die Sexszenen, die Karin Beier zunächst weniger mochte. Aber ich fand, dass der ganze Schmutz unbedingt dazugehört. Da war sie auch schnell auf meiner Seite. Es gibt ja nur wenige Texte, die so stark die Neurosen, Ängste, Umbrüche unserer Zeit aufnehmen und provokativ weiterdenken. Man muss das, anders als in unserer Verfilmung, die im Sommer im Fernsehen lief und in der es bei den Außenszenen noch andere Akteure gibt, als Darsteller im Theater allein auf sich nehmen. Wie der erzählende Autor. Und wenn man das einigermaßen unterhaltsam hinbekommt, dann ist das ein volles Haus.

„Der Dreck gehört dazu.“ Edgar Selge vor dem Gastspiel mit „Unterwerfung“ beim Gespräch in seiner Berliner Wohnung.
„Der Dreck gehört dazu.“ Edgar Selge vor dem Gastspiel mit „Unterwerfung“ beim Gespräch in seiner Berliner Wohnung.
© Mike Wolff

Ihr Schwiegervater Martin Walser hat Sie bei einem Gastspiel in München gesehen und jüngst in der „Zeit“ von der Schönheit des Abends gesprochen und dazu Nietzsche zitiert. Wobei das Frauenbild der erwähnten Sexszenen in Zeiten von MeToo wohl eine Herausforderung bedeutet.

Houellebecq schont sich und uns in seinen Romanen nie. Er zerlegt sich selbst, zeigt in seinen traurigen, gierigen, einsamen Helden die schmutzigsten menschlichen, männlichen Seiten. Das ist seine literarische und zeitgeschichtliche Qualität, damit fasziniert er. Zu den dunklen Seiten gehört in „Unterwerfung“ außer den sexuellen und alkoholischen Süchten zentral der Opportunismus eines linksliberalen Intellektuellen– der sich einer islamischen Halbdiktatur unterwirft, die ihrerseits die Frauen unterwirft. Und Houellebecq packt in den Ich-Erzähler seine ganze Provokationslust. Es gibt keinen anderen Autor, der auf dieser intellektuellen Stufe die Political Correctness so angreift und trifft. Vor allem in Frankreich kriegt er dafür auch die Quittung der linksliberalen Medien.

Bei der Hamburger Premiere 2016 gab es die MeToo-Debatte noch nicht. Hat sich die Wahrnehmung seitdem nicht verändert?

Wir werden ja in Berlin sehen, wie das Publikum reagiert. Einige Kritiker hatten der Aufführung vorgeworfen, sie beziehe nicht Stellung. Aber ich halte es für ihre Qualität, dass sie die Widersprüche, Schroffheiten und Houellebecqs Sarkasmus und finstere Hellsicht riskiert. Ich glaube, dass genau dies ein tieferes Nachdenken im Publikum bewirkt: über Männer und Frauen, über Migration, Machismo, über Christen und Muslime und die Verführbarkeit einer säkularen, in ihren kulturellen und politischen Werten verunsicherten Gesellschaft.

„Unterwerfung“ spielen Sie auch 2019 weiter an der Volksbühne: als Gast in einem gleichfalls tief verunsicherten Haus.

Ich habe die Auseinandersetzung über Frank Castorfs Ablösung natürlich mitverfolgt und viele Aufführungen von Castorf gerne gesehen. Die Schärfe des Streits hat mich etwas überrascht, aber ich kann die Empörung über die Kulturpolitik und den gescheiterten Nachfolger Chris Dercon verstehen. Obwohl ich meine, dass große Ensembles und Theaterleiter, ob Peter Stein an der Schaubühne oder Dieter Dorn in München –

Sie gehörten einst an den Münchner Kammerspielen zu dessen ruhmreichem Ensemble um Rolf Boysen, Thomas Holtzmann, Gisela Stein, Sunnyi Melles...

– obwohl sich auch die nach zehn, fünfzehn Jahren erschöpfen. Dann muss etwas Neues kommen. Das gilt prinzipiell ebenso für Castorf. Seine Volksbühne hatte allerdings noch viel Vitalität und sie verkörperte ein Stück kultureller Ost-Identität. Die zu missachten, war ein Schlag ins Gesicht von Menschen zu einer Zeit, in der der Kapitalismus auch in Ostberlin weiter für Entwurzelung sorgt, wenn Betriebe abgewickelt, Häuser leer geräumt und Wohnungen für viele unbezahlbar werden.

„Das Wesentliche am Menschen ist seine Unbeständigkeit“

Im Bühnenbild von Olaf Altmann wandelt sich Selge als Houellebecqs Erzähler vom sarkastischen Intellektuellen zum traurigen Clown.
Im Bühnenbild von Olaf Altmann wandelt sich Selge als Houellebecqs Erzähler vom sarkastischen Intellektuellen zum traurigen Clown.
© Markus Scholz/dpa

Theaterstreit gab es jüngst auch in München. Kammerspiele-Intendant Matthias Lilienthal wurde nicht verlängert; er kam aus Berlin, hat das Castorf-Theater und am HAU die postdramatische, nicht mehr auf Texten gründende Ästhetik mitgeprägt. In München wird ihm das Anti-Literarische und die Dekonstruktion eines traditionellen Ensembletheaters vorgeworfen.

Diese pauschalen Vorwürfe finde ich falsch. Gerade in letzter Zeit habe ich bei Lilienthal aufregende Aufführungen gesehen. Mich interessiert das Neue. Das Unabgesicherte. Ich erwarte vom Theater, dass es sich in einer Zeit der umwälzenden Veränderungen mit verändert, widerständig oder vorausschauend, und mit all seinen vielfältigen Mitteln ein Spiegel der Gegenwart ist. Deshalb möchte ich keine der großen, theatergeschichtlichen Aufführungen von Rudolf Noelte, Stein, Dorn oder Peter Zadek, die ich einst geliebt habe, je wiedersehen. Ich glaube, ich wäre heute schwer enttäuscht.

Das ist vorbei, wie die eigene Jugend?

Ja. Und hinzu kommt, dass die Ausdrucksformen im Theater sehr schnell altern. Wir machen Theater, einfach gesagt, um zu wissen, wer wir sind. Wer wir zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt sind. Wir spielen, weil wir eine existenzielle Selbstvergewisserung suchen. Für mich ist am Menschen das Wesentliche, vielleicht auch das Erschreckende, seine Unbeständigkeit. Seine Flüchtigkeit. Wenn ich mir ältere, bewusst traditionelle Aufführungen anschaue, dann sehe ich ein Selbstbild der Regisseure, der Bühnenbildner, der Schauspieler, das ich erkannt habe, lange bevor es zu Ende ist. Das langweilt mich, weil es für mich gar kein Menschenbild mehr ist. Ein Menschenbild entsteht auf der Bühne nur, wenn es der Versuch ist, aus dem historischen Augenblick heraus neu gefühlt und erfunden zu werden. Im deutschen Theater haben wir uns die längste Zeit vor allem mit Stücken aus vergangenen Jahrhunderten beschäftigt. Da ist die Gefahr, Menschenbilder vorauszusetzen, die es überhaupt nie gegeben hat. Weil die Figuren heutiger Klassiker zu ihrer Entstehungszeit eine andere Bedeutung und Brisanz hatten. Deshalb bin ich ganz auf der Seite von jungen Theatermachern, die in dieser schwer überschaubaren Gegenwart versuchen, ihr eigenes, heutiges Bild zu finden. (Lacht) Von mir aus auch durch die Dekonstruktion alter Stücke oder in der Auseinandersetzung mit den Textflächen von Frau Jelinek! Ob das glückt oder nicht, hängt von der beteiligten Intelligenz, vom Mut und der spielerischen Leidenschaft ab.

Ist denn ein Shakespeare-Stück wirklich alt? Jan Kott nannte Shakespeare unseren Zeitgenossen. Zugleich wirken seine Figuren und Visionen für mich fremder und damit spannender als die meisten nur heutigen Menschenbilder, die erfahre ich ja schon im täglichen Leben oder in den Medien. Warum spielen Sie jetzt in Hamburg den König Lear, Ihre neue große Rolle nach dem Solo mit Houellebecq?

Kott machte Shakespeare und besonders den Lear zum Zeitgenossen Becketts. Das ist nun auch schon wieder mehr als ein halbes Jahrhundert her. Wir wollen Lear zum Zeitgenossen unserer Welt machen, in der alte Menschen die Chiffren und Symbole nachfolgender Generationen nicht mehr verstehen, nutzlos sind und in Heimen entsorgt werden. Lear wird für mich zu einem Flüchtling in einem inneren Niemandsland, wo er Wahnsinn und Vergessen sucht.

Warum gilt dabei im aktuellen deutschen Theater das Wort Psychologie als rotes Tuch? Psychologie weckt ausschließlich den Verdacht eines altmodischen Einfühlungstheaters, obwohl auch heute keiner seine Seele verkaufen will.

Ich muss Seele und Psychologie gar nicht zusammenbringen! In Christopher Rüpings jüngster Antikeninszenierung „Dionysos Stadt“ an den Münchner Kammerspielen zählt der Schauspieler Peter Brombacher ungefähr eine halbe Stunde lang aus Homers „Ilias“ die Namen der am Krieg gegen Troja beteiligten Schiffe und Helden auf. Eine Liste, versehen mit nur wenigen Adjektiven und Personenmerkmalen, äußerlich total untheatralisch. Aber das hat eine Seelenaura, die ich enorm finde – weil man durch die schlichte Erzählung merkt, wie Homer jedem einzelnen im Krieg Gefallenen seinen Platz im Gedächtnis gibt. Sie alle defilieren gleichsam an uns vorbei, hier und heute, nach dreitausend Jahren.

Eine Seelenmesse. Den Toten einen Namen geben, wie bei der Verlesung von Opfernamen in Yad Vashem oder am Ground Zero in New York.

Genau. In einer Zeit, in der wieder Kriege stattfinden wie in Syrien oder im Jemen, ist das ein Moment der Achtung im Theater, der nichts mit Psychologie zu tun hat. Anderes Beispiel: Nicolas Stemanns Münchner Inszenierung von Strindbergs „Vater“, da tauschen die Darsteller der Vater-Figur und seiner Frau Laura immer wieder ihre Rollen. Indem sie die sich im Ehestreit ständig bekämpfenden Charaktere wechselseitig spielen, geben sie sich gegenseitig auch die Antworten. Natürlich wünscht man sich als Schauspieler zunächst mal die „ganze“ Rolle. Aber das setzt einen Begriff von unverwechselbarer Identität voraus, den es in einer völlig heteronomen Gesellschaft kaum noch gibt. Erst diese Zersplitterung der individualpsychologischen Theateridentitäten macht so ein Strindberg-Stück überhaupt wieder spielbar.

Ein ziemlich obsessives Ehepsychodrama.

Und wir alle wissen, wie ein Ehestreit abläuft. Jedes Paar kennt eigentlich schon die Antwort des anderen, wenn eine Frau oder ein Mann sein Argument loslässt. Dieses Phänomen, dass man in einem solchen Streit unwillkürlich eine vorgegebene Form zwanghaft nachspielt, wird einem so viel bewusster, als wenn Akteure versuchen, die beiden Figuren getrennt und mit einem psycho-realistischen Identifikationstheater darzustellen.

Sie sprechen aus doppelter Erfahrung?

Ja, ich sitze da als Zuschauer mit meiner Frau, Franziska Walser, wir erleben das Wesen des Ehestreits, und das Humane ist: Wir sehen, dass jeder, der verzweifelt gegen den anderen kämpft, den anderen in Kenntnis von dessen Argumenten im Grunde verstehen könnte und trotzdem weiterkämpft.

So sind Ehekriege oft ein Abbild wirklicher, großer Kriege.

Als Paar kann man diese Vorführung des Zwanghaften und darin auch Tragikomischen immerhin als etwas Erlösendes empfinden.

Sie und Franziska Walser sind beide Schauspieler und kennen so das Ritual der Wiederholung und des dramatischen Konflikts, trotzdem können Sie aus einem privaten Konflikt nicht einfach ausbrechen. Sonst wären Schauspieler ja glücklichere Menschen.

Das sind sie vielleicht. (Lacht) Ich könnte jedenfalls nur mit einer Schauspielerin zusammenleben. Aber auch nur mit dieser Schauspielerin!

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