Literatur-Verfilmung: „Unterwerfung“: „Unterwerfung“ ist eine künstlerische Grenzüberschreitung
Religion, Sex, Geborgenheit: Der Skandalroman „Unterwerfung“ von Michael Houellebecq läuft mit einem großartigen Edgar Selge im Ersten.
Das hat es noch nie gegeben. Einen solchen Hybrid aus Theater- und Literaturverfilmung: ein Multimedia-Ereignis im Fernsehen, im Hauptprogramm zur besten Sendezeit. Was die ARD am Mittwoch um 20 Uhr 15 als TV-Version von Michel Houellebecqs weltweit diskutiertem Bestsellerroman „Unterwerfung“ zeigt, beruht zunächst auf einer Theateraufführung im Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Und ist doch eine künstlerische Grenzüberschreitung, weil alles andere als ein nur abgefilmtes Bühnenstück.
Die Halle des Hamburger Hauptbahnhofs. Wir sehen in der Menschenmenge einen Mann mit Windjacke und leichter Reisetasche aus dem Zug kommen und vom Bahnhof auf die andere Straßenseite zum Deutschen Schauspielhaus wechseln, an dessen weiß strahlender Front das Plakat für die heutige Vorstellung prangt. Titel: „Unterwerfung“.
Der Mann, dem die Kamera folgt, ist der Schauspieler Edgar Selge, der den dort angekündigten Theaterabend in Deutschlands größtem Schauspieltheater als Solist bestreiten wird, allein vor tausend Zuschauern. Direkt vor dem Theater, wo auch die Ausgänge aus der U-Bahn münden, wird Edgar Selge von drei jungen Männern mit südländischem, wohl arabisch wirkendem Outlook kurz angegangen, man fragt ihn nach Zigaretten, scherzt ein wenig. Drinnen im Theater greift Selge dann in seine Jacke, da fehlt ihm die Brieftasche. Er muss nach dem ersten Schreck über die eigene Dummheit lachen. Auch wenn er, wie sich viel später zeigen wird, genau wie die Zuschauer im Irrtum ist.
Fiktion und Realität, Einbildung und Dokument mischen sich so schon hier. Denn Edgar Selge, der Edgar Selge spielt, ist im doppelten Sinne der Hauptdarsteller. Seit knapp zweieinhalb Jahren und in über 60 immer ausverkauften, am Ende jedes Mal mit stehenden Ovationen bedachten Vorstellungen tritt er in „Unterwerfung“ als virtuoser Protagonist des Houellebecq-Romans auf und erzählt in den Worten des Originals, mit nur wenigen eigenen Randbemerkungen durchsetzt, die Geschichte des Pariser Literaturwissenschaftlers François, der schon namentlich auch für Frankreich steht. Und in oft sarkastischen oder sexuell drastischen Details gleicht er wie schon frühere Houellebecq-Figuren auch einer Selbstbeschreibung des Autors.
Die Scharia, die Polygamie und das Patriarchat
Es ist ja ein tief melancholisches, vielfach schwarzhumoriges und zugleich hellsichtig-phantasmagorisches Buch. Frankreich im Jahr 2022. Ein zwischen extremistischen Identitären, verunsicherten Linken und dem erstarkten Front National von Marine Le Pen zerrissenes Land. Um bei den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen den Sieg von Le Pen zu verhindern, verbünden sich die liberal-konservativen Kräfte mit dem als gemäßigt geltenden Politiker Mohamed Ben Abbes und seiner Islamischen Bruderschaft.
Zwischen diesen Fronten laviert sich der in die Jahre gekommene François als mittlerer Macho, als mittelmäßiger Bürger oder, verkürzt gesagt: als halbgeiler Schlappschwanz so durch. Alkoholisch und melancholisch durchtränkt, ist sein Leben und Lieben (mit wechselnden jungen Studentinnen) von halbwegs komfortabler Tristesse. Als Mohamed Ben Abbes die Wahlen gewinnt und als Präsident allmählich die Scharia, die Polygamie und das Patriarchat einführt, wirkt das Land sonderbar gelähmt, fast beruhigt.
Einer wie François, ein säkularer Professor, wird an der Sorbonne entlassen, aber mit glänzender Pension. Die nunmehr islamisch geprägten Hochschulen erhalten aus den reichen Golfstaaten und Saudi-Arabien Milliardenzuschüsse, und der neue Universitätspräsident Rediger, ein zuvor unbedeutender Karrierist, tritt zum Islam über.
François besucht Rediger nun in dessen feudaler Dienstvilla, staunt über die jungen Mädchen als frisch angetraute Ehefrauen des ältlichen Mannes – und wird plötzlich umworben. Auch ihm könnten bei einem Übertritt zum Islam wieder eine Professur winken und im sanften Mantel der neuen Lebenssinn spendenden Religion auch Sex, Geborgenheit und mehr Geld.
Der Mordanschlag auf die Zeitschrift „Charlie Hebdo“
Eigentlich ist „Unterwerfung“ im gesellschaftlichen Panorama eine glänzende, den Opportunismus des (nicht nur französischen und nicht allein männlichen) Bürgertums schonungslos entblößende Satire. Dadurch, dass zeitgleich mit dem Erscheinen des Buchs Anfang 2015 der Mordanschlag auf die Zeitschrift „Charlie Hebdo“ (mit Houellebecq auf ihrem gerade frisch gedruckten Titelbild) geschah, wurde der vielschichtige, durchaus islamkritische, aber nicht „islamfeindliche“ Roman auch zum gespenstischen Menetekel.
Der Regisseur Titus Selge, ein Neffe des Hauptdarstellers, hat für Großteile des vom RBB für das Erste produzierten Films während zweier Vorstellungen im Hamburger Schauspielhaus gedreht. Auch in den Garderoben und mit kleinen Auftritten der Theaterregisseurin und Intendantin Karin Beier. Aber der Film wagt mehr als nur ein Backstage-Drama. Bei etlichen dialogischen Szenen des Buchs wechselt Selge mit plötzlichem Schnitt auch nach Paris oder in die offene Landschaft. Und Bilder von brennenden Autos und Straßenschlachten, die sich damals zur gleichen Zeit in Hamburg während des G-20-Gipfels fast vor Theatertür ergaben, liefern diesem Film über einen zeitgeschichtlichen Umbruch noch einen starken assoziativen Hintergrund. Das schafft eine zweite Wirklichkeit und bringt dann weitere Romanfiguren leibhaftig ins Spiel.
So treten François’ Freundinnen Myriam (Alesha Levshin) und Aurélie (Catrin Striebeck) auf, und eine Nacktszene Selges mit Striebeck wird bei beiden zur drastischen Selbstentblößung der alternden, von François sonst als bloßer Erzähler nur machohaft verhöhnten Körper. Und seine Begegnung mit dem Unipräsidenten Rediger wird zum Kabinettstück. Matthias Brandt nämlich zeigt als Selges Partner, wie ein scheinbar harmloser philosophierender Parvenu in der Maske der Macht gleich einem modernen Tartuffe zum Verführer wird.
Gewiss, einige Bühnenszenen wirken im Film plötzlich lauter, deklamatorischer als im realen Theater – und das Filmische gerät in der Außenwelt mitunter etwas illustrativ. Aber das ist wohl der Preis. Für ein ungewöhnlich mutiges Fernsehabenteuer.
„Unterwerfung“, Mittwoch, ARD, 20 Uhr 15
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