Zeitreise mit Spirou: Ein Hotelpage im Krieg
Authentisch, düster und genau recherchiert: In „Spirou oder: die Hoffnung“ erlebt der Titelheld ein Abenteuer im Belgien zur Zeit der deutschen Besatzung.
Kleine Kinder mit einem aufgenähten gelben Stern am Jackett - was hat das zu bedeuten? Im Sommer 1942 sieht der ehemalige Hotelpage Spirou dieses Zeichen zum ersten Mal, als er in Brüssel auf seine Freunde Klein Louis und dessen Schwester Suzanne trifft. Er erkennt, dass hiermit Juden gekennzeichnet werden, um sie vom Rest der Bevölkerung auszugrenzen.
„Spirou“ ist eine beliebte belgische Comicfigur, die 1938 ihren ersten Auftritt im gleichnamigen Jugendmagazin hatte. Held ist ein junger Mann mit roter Haartolle, der, gekleidet in eine Pagen-Livree, zusammen mit seinem Eichhörnchen Pips und seinem Freund Fantasio lustige, fantasievolle Abenteuer in aller Welt erlebt.
[Der Zeichner Flix hat Spirou kürzlich erstmals ein Abenteuer in Berlin erleben lassen - mehr dazu unter diesen Link.]
In den vergangenen Jahren durften sich verschiedene Zeichner für die „Spirou und Fantasio Spezial“-Reihe der Figur annehmen, um ganz unterschiedliche Abenteuer in ihrem jeweiligen Stil zu zeichnen.
Der Spirou, den uns Émile Bravo im jüngst erschienenen zweiten Band seiner Reihe „Spirou oder: die Hoffnung“ (Carlsen Verlag, 94 Seiten, 14 €) vorstellt, unterscheidet sich wesentlich von den regulären, oft fantastischen Geschichten der Reihe, da er den Titelhelden in einen realistischen historischen Kontext versetzt, nämlich ins Brüssel vor und während des Zweiten Weltkrieges.
Und auch im Erzählton ist seine Version ernsthafter. Der 1964 geborene Franzose (bekannt u.a. durch „Pauls fantastische Abenteuer“) zeichnete die Figur erstmals 2008 für den Einzelband „Porträt eines Helden als junger Tor“. Spirou ist hier, im Jahr 1938, tatsächlich Page (im Brüsseler Hotel „Moustique“) und Idol einer kleinen Bande von Straßenjungen. Er verliebt sich in die junge Kommunistin Kassandra, die plötzlich verschwindet.
Das Hotel Moustique wird durch eine Fliegerbombe zerstört
2018 erschien mit dem ersten Band von „Spirou oder: die Hoffnung“ eine Fortsetzung, in der der Zweite Weltkrieg ausbricht und Belgien im Frühjahr 1940 durch die deutsche Wehrmacht besetzt wird. Spirou lernt den tolpatschigen Möchtegern-Reporter Fantasio kennen und verliert seine Arbeit, als das Hotel Moustique durch eine Fliegerbombe zerstört wird.
Im aktuellen Band bestimmen die deutsche Besatzung und unmenschliche Nazi-Vorschriften zunehmend den Alltag der Menschen in Brüssel und auf dem Lande. Spirou und Fantasio kämpfen gegen den Hunger an, schlagen sich mit einem Puppentheater für Kinder durch und treffen alte und neue Freunde, die allesamt das Naziregime ablehnen.
Darunter sind der großzügige Bauer Anselm und das deutsch-polnische Künstlerpaar Felix Nussbaum und Felka Platek (die bislang einzigen historischen Charaktere der ansonsten mit fiktiven, aber lebensnahen Charakteren bevölkerten Geschichte), das aufgrund seiner jüdischen Herkunft einen Weg zur Ausreise aus Belgien sucht. Mit beider Hilfe sucht Spirou auch weiterhin nach seiner großen Liebe Kassandra, die irgendwo in Osteuropa interniert sein soll.
Katholizismus, Kollaboration und Widerstand
Émile Bravo setzt in seinem auf insgesamt vier Bände und rund 330 Seiten angelegten Spirou-Epos ganz auf Authentizität. Ob es die Straßen Brüssels sind, das ländliche Belgien, historische Autos oder Kleider – der Zeichner erschafft eine historisch exakte Rekonstruktion des besetzten Belgiens.
Während im ersten Teil bei aller Ernsthaftigkeit des Sujets noch die Leichtigkeit des Erzähltons überwog, wird es im Verlauf deutlich düsterer, als der von einem natürlichen Gerechtigkeitssinn angetriebene jugendliche Held zwei befreundete jüdische Kinder vor der Deportation durch die Nazis retten will – auch wenn er noch nicht weiß, welches Ziel die Züge genau haben.
Auch hinsichtlich der historischen Hintergründe hat Bravo genauestens recherchiert: subtil werden die Themen Katholizismus, Kollaboration und Widerstand behandelt, und eine längere Sequenz macht anschaulich, wie Juden - von der Bevölkerung weitgehend unbeachtet – zum Durchgangslager (die sog. „Dossin-Kaserne“) ins unscheinbare Mecheln (flämisch: Mechelen) verfrachtet wurden, um von dort aus nach Auschwitz deportiert zu werden.
Nazis und Wehrmachtsoldaten als dunkle Schemen
Einziges Manko: Hin und wieder hätte - vor allem zur Orientierung für jugendliche Leser(innen) - ein Hinweis zur Datierung weitergeholfen, denn der in Band 2 behandelte Zeitrahmen reicht vom Herbst 1940 bis zum Herbst 1942.
Stilistisch lehnt sich Bravo an die Ligne Claire des Klassikers Hergé („Tim und Struppi“) an: klar, gut lesbar und zugleich voller charmanter Details ist jede Seite gestaltet. Durch Verzicht auf spektakuläre Seitenlayouts ergibt sich so ein Lesefluss, der jede Effekthascherei und Übertreibung vermeidet und den Leser zunehmend durch seine spannende wie berührende Story, humorige Elemente und die atmosphärischen Zeichnungen gefangen nimmt. Besonderen Wert legt der Zeichner auf die Glaubwürdigkeit seiner Figuren, sie werden durch wirklichkeitsnahe Dialoge und feine Akzentuierungen in ihrer Mimik geradezu lebendig.
Nazis und Wehrmachtsoldaten sind in Bravos besetztem Belgien übrigens fast ausschließlich als dunkle Schemen zu sehen – der Künstler will so vermeiden, dass das vermeintlich „Schicke“ der Uniformen die Leser allzu sehr vereinnahmt und so ihre Wahrnehmung in eine falsche Richtung lenkt. Das funktioniert erstaunlich gut, denn der Fokus liegt ohnehin auf der Perspektive der „normalen“ belgischen Bevölkerung, für die der junge Spirou und seine Freunde stehen.
Im Jahresrhythmus folgen die weiteren Bände, die Bravo bereits in Form eines genauen Storyboards fertig konzipiert hat.
Der beklemmende Cliffhanger am Ende dieses Albums verweist deutlich auf den sich andeutenden Völkermord der Nationalsozialisten an den europäischen Juden und dürfte die Leser besonders in Anspannung versetzen.
Ralph Trommer
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