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Gold. Mit dieser Auszeichnung können sich in diesem Jahr die Favoriten der Tagesspiegel-Jury schmücken.
© Tsp

Comic-Bestenliste: Die besten Comics 2019 – Ralph Trommers Favoriten

Welches sind die besten Comics des Jahres? Das haben wir unsere Leser und eine Fachjury gefragt. Heute: Die Top 5 von Tagesspiegel-Autor Ralph Trommer.

Auch in diesem Jahr fragen wir unsere Leserinnen und Leser wieder, welches für sie die besten Comics der vergangenen zwölf Monate waren - hier eine Auswahl der Ergebnisse. Parallel dazu ist wie bereits in den vergangenen Jahren wieder eine Fachjury gefragt. Die besteht in diesem Jahr aus acht Autorinnen und Autoren der Tagesspiegel-Comicseiten: Barbara Buchholz, Birte Förster, Christian Endres, Ute Friederich, Moritz Honert, Sabine Scholz, Ralph Trommer, Lars von Törne.

Die Mitglieder der Jury küren in einem ersten Durchgang ihre fünf persönlichen Top-Comics des Jahres, die in den vergangenen zwölf Monaten auf Deutsch erschienen sind. Jeder individuelle Favorit wird von den Jurymitgliedern mit Punkten von 5 (Favorit) bis 1 (fünftbester Comic) beurteilt. Daraus ergibt sich dann die Shortlist, auf der alle Titel mit mindestens fünf Punkten oder mindestens zwei Nennungen landen. Diese Shortlist wird abschließend von allen acht Jurymitgliedern erneut mit Punkten bewertet - daraus ergab sich die Rangfolge der besten Comics des Jahres, die am 19. Dezember im Tagesspiegel veröffentlicht wird.

Ralph Trommer.
Ralph Trommer.
© privat

Die Favoriten von Tagesspiegel-Autor Ralph Trommer

Platz 5: Emile Bravo - „Spirou oder die Hoffnung“, Teil 2
Auch der zweite Band des vierteiligen Abenteuers „Spirou oder: die Hoffnung – Weiter auf dem Weg des Grauens“ (Carlsen, 94 S., 14 €) erfüllt die hohen Erwartungen, die in Emile Bravos Fortsetzung seines bereits sehr gelungenen One-Shots „Spirou-Porträt eines Helden als junger Tor“ (2008) gesetzt wurden. Zwischen Ligne Claire und Semi-Funny-Stil – die dezent karikiert gezeichneten Figuren agieren vor realistischem, authentisch recherchiertem Dekor – und mit feinem Humor spinnt der Franzose Emile Bravo weiter, was einem „echten“, jugendlichen Spirou während der deutschen Besatzungszeit in Belgien hätte passieren können. Dabei wagt er sich diesmal mit viel Fingerspitzengefühl an die Themen Antisemitismus und Judenverfolgung heran – fundiert und in sehr berührender Weise, sodass es dem Leser in manchen Sequenzen durchaus an die Nieren geht. Bravos größtes Verbrechen: Ein weiteres Jahr werden die Leser auf die Folter gespannt, wie es weitergeht.

Platz 4: Bruno Bozzetto, Grégory Panaccione: „Mini Vip & Super Vip“
1968 lief Bruno Bozzettos Animationsfilm „VIP-Mein Bruder der Supermann“ in den Kinos. Nun hat der durch die Fernsehserie „Herr Rossi sucht das Glück“ und weitere legendäre Zeichentrickfilme (etwa „Allegro non troppo“, seine Parodie auf Disneys „Fantasia“) bekannte italienische Regisseur eine Fortsetzung in Comicform geschaffen: „Minivip & Supervip“ (Splitter, 280 S., 39,80 €). Kurz zum Inhalt: In naher Zukunft japst die Erde unter monströsem Autoverkehr und extremer Luftverpestung. Doch auch der ferne Planet namens „Sparky“ hat seine Umweltprobleme. Die dortige Alien-Herrscherin „Fruchtbar für immer“ möchte ihre Eierkolonie auf die Erde bringen, und dafür die Menschheit ausrotten. Wären da nicht die „Vips“, ein uraltes Superheldengeschlecht... Der Plot strotzt nur so vor überdreht-witzigen Einfällen, die an Bozzettos Einfälle aus den 1960er und -70er Jahren anknüpfen und doch keineswegs altmodisch wirken. Der in Frankreich geborene Zeichner Grégory Panaccione (im Enstehungsjahr 1968 des „Vip“-Films geboren) hat bereits in seiner ganz auf Worte verzichtenden Graphic Novel „Ozean der Liebe“ (2016; Szenario: Wilfrid Lupano) eine liebevolle Comic-Hommage an Bozzettos Filme geschaffen. „Minivip & Supervip“ knüpft nahtlos an die Handlung des ´68er Films an, kann jedoch auch ohne Vorkenntnisse gelesen werden. Protagonisten sind auch hier die „Vips“, ein charmant neurotisches Superhelden-Brüderpaar, das gegensätzlicher nicht sein könnte. Der zwergenhafte, aber erfinderische Minivip leidet darunter, über keine echten Superkräfte zu verfügen wie sein athletischer, jedoch etwas einfältiger Bruder Supervip. Die flächige Ästhetik von Bozzettos Zeichentrickfilmen wird durch Panaccione behutsam modernisiert und so plastisch koloriert, als handele es sich um Stills aus einem echten Film.

Platz 3: François Schuiten, Jaco Van Dormael, Thomas Gunzig, Laurent Durieux - „Die Abenteuer von Blake und Mortimer: Der letzte Pharao“
François Schuitens „Blake und Mortimer“-Band „Der letzte Pharao“ (Carlsen, 92 S., 19,99 €) übertrifft durch seine außergewöhnlichen grafischen Qualitäten und seine narrative Dichte alle bisherigen Fortsetzungen von Edgar Pierre Jacobs klassischer belgischer Comicserie. Schuiten setzt nicht auf die Ligne Claire, jenen klaren Zeichen- und Erzählstil, den Hergé („Tim und Struppi“) und Jacobs in den 1930er und -40er Jahren entwickelten, sondern zeichnet realistisch mit dichten Schraffuren. Dabei gelingt ihm - zusammen mit seinen Szenaristen, dem bekannten Regisseur Jaco Van Dormael (u.a. „Toto der Held“) und Thomas Gunzig - ein schlüssiger Plot, der inhaltlich an Jacobs' 1950-52 entstandenes Doppel-Album „Das Geheimnis der großen Pyramide“ anknüpft. Auf dem Höhepunkt des Albums werden den Lesern visuell umwerfende Seiten in exzellenter Kolorierung (Laurent Durieux) geboten, die visionäre phantastische Einfälle in der Tradition von H. G. Wells, Jules Verne und eben E. P. Jacobs ins Heute überführen. Ein gealterter Philip Mortimer wird wieder einmal zum Retter der Welt, denn altägyptische Kulte wirken sich diesmal auf Architekturen in Brüssel aus. Es drohen unter anderem eine Verstrahlung der gesamten Welt, eine Atomkatastrophe und ein allgemeiner Blackout. Damit vermischt der aus einer Architektenfamilie stammende Schuiten esoterische Elemente mit Ängsten der Gegenwart, in der die Technik allmählich die Kontrolle über den Menschen gewinnt. Die phantastische Geschichte verliert nie ganz den Boden unter den Füßen, und zieht Comicleser(innen) in einen traumähnlichen Sog hinein.

Platz 2: Reinhard Kleist - „Knock Out“
Der Berliner Comiczeichner Reinhard Kleist ist vor allem für seine erfolgreichen Comicbiografien bekannter Musiker wie Johnny Cash („Cash-I See a Darkness“; „Nick Cave-Mercy On Me“) bekannt. Bereits vor Jahren hat er bewiesen, dass sich auch die Faszination des Boxsports in einen Comic übertragen lässt: In der Graphic Novel „Der Boxer“ (2011/12) porträtierte er den jüdisch-polnischen Boxer Hertzko Haft, der es durch sein Box-Talent schaffte, in deutschen Konzentrationslagern in der NS-Zeit zu überleben. Auch in seiner aktuellen Graphic Novel „Knock Out! Die Geschichte von Emile Griffith“ (Carlsen, 160 S., 18 €) gelingt dem Zeichner in kontrastreichen Schwarzweißzeichnungen eine berührende, psychologisch genau erzählte Charakterstudie des US-Boxers Emile Griffith (1938-2013), der bis heute zu Unrecht auf das Image eines „Mörders“ reduziert wird: 1962 schlug er seinen Gegner Benny Paret k.o, der kurz darauf starb. Kleist lässt Griffiths Leben in einer langen, immer wieder unterbrochenen Rückblende Revue passieren. Ein erzählerischer Kniff, der hier, im Dialog mit Griffiths inneren Dämon, sehr viel Sinn macht. Auch diesmal trifft Kleist den passenden sensiblen Ton, um dem komplexen Thema gerecht zu werden, denn Griffith war homosexuell und entwarf Damenhüte. Reinhard Kleist zeigt in stark komponierten, oft düsteren Seitenlayouts, die nicht selten an den amerikanischen Altmeister Will Eisner erinnern, den Werdegang einer für seine Epoche unkonventionellen, im Grunde sanften Persönlichkeit, die eher zufällig Boxer wurde.

Platz 1: José Muñoz, Carlos Sampayo - „Alack Sinner“
1975 schufen zwei Exil-Argentinier, José Muñoz (geb. 1942) und Carlos Sampayo (geb. 1943), in Europa die ersten Geschichten um den Privatdetektiv Alack Sinner. Innerhalb der preisgekrönten Serie – die Comics entsprechen in ihrem Umfang und in ihrer Dichte durchaus literarischen Short Stories - entwickelte der Zeichner Muñoz seinen avantgardistischen, mal realistischen, dann wieder grotesk überzeichnenden Stil immer konsequenter weiter und befreite sich von allen Konventionen. Seine expressiven wie kontrastreichen Schwarzweißzeichnungen passten kongenial zu den abgründigen, milieustarken Szenarios Sampayos, in denen es vor lebensnahen (Nacht-) Gestalten nur so wimmelte. Bis zum Ende der Serie 2006 fingen sie die Korruptionen und Niederungen der Großstadt – ein fantasiertes und doch sehr reales New York – hart und unerbittlich ein. Die Hauptfigur wird dabei nicht geschont. Das Gebrochene von Sinners Persönlichkeit spiegelt sich in seinem narbenzerfurchten Gesicht. In „Joe´s Bar“ (das ist übrigens auch der Name einer weiteren Serie des Duos) findet der Loner mit dem Alkoholproblem und dem Herz am rechten Fleck stets einen geeigneten Gesprächspartner. In einer Episode treten übrigens auch die Autoren selbst auf... Endlich liegen sämtliche „Alack Sinner“-Stories auch auf Deutsch vor: die Gesamtausgabe (Avant, 704 S., 49 €) bietet 700 Seiten beste Graphic Art bei 2,3 kg Gewicht. Die neue Bibel für existentialistische Comic Noir-Liebhaber.

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