75 Jahre Spirou: Die Spur des Eichhörnchens
Das Magazin „Spirou“ verhalf zahlreichen frankobelgischen Comicserien zum Durchbruch, die zu Klassikern wurden. Jetzt werden die einflussreiche Zeitschrift und die gleichnamige Comicfigur auf dem Comicfestival München geehrt.
Jahrzehntelang war der Comic-Held Spirou im frankobelgischen Raum der Haupt-Konkurrent des älteren Tim, der bereits seit 1929 die Jugend begeistert. Während Tims Abenteuer ganz von der Handschrift Hergés geprägt sind und nach dessen Tod nicht von anderen Künstlern weitergeführt werden durften, hat Spirou keinen eindeutigen Schöpfer - und passte sich dadurch mehrmals dem Zeitgeist an. Seit einigen Jahren spielen die Wurzeln der Figur wieder eine größere Rolle – stilistisch wie thematisch lebt der frühe Spirou wieder auf.
Spirou wurde am 21. April.1938 gleich doppelt zum Leben erweckt – als Comicfigur wie als Zeitschrift. Zunächst war das Erscheinen des neuen Comicmagazins „Le journal de Spirou“ keine Sensation, denn es gab bereits eine Reihe ähnlicher Magazine in Belgien, die vorwiegend amerikanische Strips abdruckten. Doch dieses sollte zum Bedeutendsten seiner Zeit werden, welches einheimischen Künstlern die Gelegenheit gab, eigene Serien zu entwickeln. Damit schob es eine Entwicklung an, die dem frankobelgischen Comic seine erste Blüte bescherte - und den Grundstein für eine Industrie setzte.
Hier begann die „École Marcinelle“
Der Verleger Jean Dupuis hatte schon den Namen für sein Jugendmagazin-Experiment im Kopf, „Spirou“ (was im Wallonischen „Eichhörnchen“ wie auch „Lausbub“ bedeutet), als er Robert Velter mit der Kreation einer Figur beauftragte, zu der der Name passte. Dieser „Rob-Vel“ war bereit ein erfolgreicher Comiczeichner, der seine eigenen Erfahrungen als Schiffspage auf Ozeandampfern für die Streiche eines Schiffsjungen im „Journal de Toto“ zum Vorbild nahm. Diese Figur wandelte er für seinen Spirou etwas ab, steckte sie in die rote Uniform eines Hotelpagen, der im Brüsseler „Hotel Moustic“ arbeitet („Hotel Mücke“ – eine Anspielung auf ein anderes Magazin des Verlags).
Fortan wurde ein einseitiger Strip um den schelmischen Spirou und dessen Konflikte mit dem Portier Entresol auf jeder Titelseite des großformatigen Magazins abgedruckt, während im Innern noch hauptsächlich amerikanische Lizenz-Comics veröffentlicht wurden. Rob-Vel machte aus den One-Pagern bald lange Fortsetzungsgeschichten. Aus Spirou wurde ein positiver Held, der anderen Menschen und Tieren stets unter Einsatz seines Lebens aus der Patsche hilft, ein polyglotter Abenteurer mit detektivischer Begabung, der er bis heute blieb. Im kürzlich erschienenen Nachdruck seiner ersten Abenteuer „Die mysteriöse Insel“ begegnet ihm im Juni 1939 das Eichhörnchen Pips, das in einem Hamsterrad gefangen gehalten wird und als Folterknecht eines pharaonischen Bösewichts dienen muss. Natürlich wird es von Spirou befreit - und ist seitdem in all seinen Abenteuern präsent als treuer Begleiter, der gerne „vernünftige“ Kommentare zum laufenden Geschehen abgibt.
Rob-Vel wurde, da er Franzose war, nach Ausbruch des 2. Weltkrieges früh eingezogen und musste auch in den Folgejahren wegen der andauernden Kriegssituation die Arbeit mehrfach unterbrechen. Zeitweise ersetzte ihn der Allround-Zeichner Jijé (Joseph Gillain, der auch die Westernreihe „Jerry Spring“ erfand), der sowohl realistische wie auch Funny-Comics zeichnen konnte. Dieser führte die Serie auch weiter, als Rob-Vel 1943 die Rechte endgültig an Dupuis abgab. Jijé erfand Spirous chaotischen Freund Fantasio dazu, der sich bald als Reporter verdingte und damit immer wieder Anlass für Abenteuer bot.
Im Verlauf des Krieges fehlte es bald an Nachschub der US-Strips, was dazu führte, dass dringend einheimische Zeichner gesucht wurden, die eigene Serien entwickeln konnten. Die „École Marcinelle“ wurde geboren, benannt nach dem Stadtviertel der Stadt Charleroi, in dem der Verlag seinen Sitz hatte.
Ein eigenständiges belgisches „Comic-Labor“ entwickelte sich im Studio Dupuis, das herausragende Künstler in Serie hervorbrachte: Zunächst vom erfahrenen, väterlichen Jijé angeleitet, wurden Künstler wie Morris („Lucky Luke“), Will („Harry und Platte“) oder Franquin („Spirou“, „Gaston“) ausgebildet und für neue Serien eingespannt ( -eine Episode aus dieser künstlerischen Aufbruchszeit wurde kürzlich in dem Band „Gringos Locos“ von Schwartz und Yann erzählt). Ende der 40er Jahre besaß die Zeitschrift bereits einen festen, professionellen Stamm von Zeichnern und Textern. US-Comics wurden gar nicht mehr benötigt, um das Magazin zu füllen, zahlreiche weitere Künstler wie Peyo („Die Schlümpfe“) oder Tillieux („Jeff Jordan“) kamen dazu und konnten ihre eigenen Stile entwickeln.
Ein Gegenentwurf zu „Tim und Struppi“
Doch zurück zu Spirou: Nach dem Krieg (um 1946/47) wurde der junge Zeichner André Franquin mit der Serie beauftragt. Dieser entwickelte innerhalb der Serie seinen eigenen, unverwechselbaren Zeichenstrich, der nicht nur den Look der Serie fortan bestimmen sollte, sondern auch das Magazin jahrzehntelang prägte und zahlreiche andere Künstler beeinflusste. Er erfand den Rest des klassischen Figurenensembles dazu – u.a. die Bösewichter Zyklotrop und Zantafio, den schrulligen Wissenschaftler Graf von Rummelsdorf und vor allem das liebenswerte Marsupilami, – ein erfundenes, gelbschwarzes Beuteltier aus dem Dschungel Palumbiens mit einem acht Meter langen, vielseitig einsetzbaren Schwanz und dem charakteristischen Ruf „Huba, huba“.
Vor allem im Vergleich zur Konkurrenz, der 1946 gegründeten Zeitschrift „Tintin“, wird Franquins Stil augenscheinlich: während Tim und die anderen Helden seines Magazins sich durch Klarheit in Zeichenstrich, Konturen und Geschichten auszeichnen (die berühmte „Ligne Claire“-Schule), ist Franquins Strich wilder, lebendiger, dynamischer. Bewegungslinien prägen die Bilder, Action und Slapstick werden zum festen Bestandteil der Geschichten, die Figuren dehnen, strecken oder stauchen sich häufig in der Bewegung wie Animationsfiguren – Franquin begann seine Karriere (wie Morris) ja als Trickfilmzeichner.
„Spirou“ entwickelte sich zu einer enorm erfolgreichen, fantasievollen Abenteuerserie. Verrückte Erfindungen, autoritäre Regimes oder skrupellose Verbrecher wie aus James Bond-Filmen prägen die Handlungen. Immer wieder gelingen Franquin satirische Gesellschaftsporträts - etwa in „QRN ruft Bretzelburg“ (1961-63) werden die Auswüchse der Mangelwirtschaft des Ostblocks süffig ausgemalt, wenn Busse mit Pedalkraft der Fahrgäste betrieben werden müssen oder die Kleidung der Menschen aus Zeitungspapier besteht.
Doch Franquin war dem Arbeitsdruck im Hause Dupuis 1968 nicht mehr gewachsen (neben Spirou arbeitete er auch an der Serie „Gaston“) und stieg aus, behielt aber die Rechte am Marsupilami, das damit nicht mehr in Spirous Abenteuern auftauchen durfte (erst im März dieses Jahres wurde das Marsupilami vom Dupuis Verlag zurückgekauft und wäre somit auch für Spirous Abenteuer wieder „verfügbar“).
Neue Abenteuer im Geiste des Originals
Jean-Claude Fournier übernahm die Serie. Er bewahrte den Stil Franquins, ohne große Glanzlichter zu setzen. Der Erfolg der Serie nahm schleichend ab. In den 80ern und 90ern prägte das Autoren-/Zeichnerteam Tome & Janry die Serie und führte sie mit einer Mischung aus Action und derbem Humor zu neuem Erfolg. Insgesamt aber verflachte das Niveau allmählich. Tiefpunkt waren die verzweifelten Versuche dieses und des anschließenden Teams (Morvan & Munuera), aus Spirou einen ernsteren, realistisch gezeichneten Helden zu machen oder ihn gar stilistisch der gerade stattfindenden „Manga-Invasion“ anzupassen.
Zum Glück verwarf der Verlag diese verzweifelten Versuche, Spirou zeitgemäß zu machen, schnell wieder und gab daraufhin (ab 2005) vielen neuen Talenten in „One-Shots“ Gelegenheit, Spirou-Geschichten in ihrem Stil zu erzählen, die aber den Geist des Originals bewahren sollten. In dieser Reihe spürt man vielfach die Liebe der neuen Zeichnergeneration zum Klassiker und es entstanden einige herausragende Abenteuer mit Retro-Charme: „Spirou - Porträt eines Knaben als junger Tor“ von Émile Bravo - ein Tagesspiegel-Interview mit im gibt es unter diesem Link - und „Operation Fledermaus“ von Yann und Schwartz erzählen beide die Jugendabenteuer Spirous aus der Zeit des 2. Weltkriegs neu, mit ernsthaften Bezügen zur Zeitgeschichte und vielen Anspielungen auf klassische belgische Comics.
Und auch das aktuelle Team, das die klassische Reihe übernommen hat, Yoann Chivard (Zeichnungen) & Fabien Vehlmann (Text) kann man als guten Griff des Verlags bezeichnen. Im aktuellen Band 51 der regulären Reihe ist Spirou in der Gegenwart angekommen. Neben der Präsenz der unvermeidlichen Mobiltelefone greift der Raubtierkapitalismus in Form eines Investmentfonds namens „Viper“ in die Handlung ein. Zeichner Yoann modernisiert dezent den Stil Franquins, bietet feinen Humor und zeigt wie sein Vorbild viel Liebe zum Detail. Auf dem Comicfestival München gibt es am 30 Mai ein Künstlergespräch mit Yoann, geführt von Tagesspiegel-Redakteur Lars von Törne. Während des Festivals würdigt eine Ausstellung das Jubiläum – mehr dazu unter diesem Link. Das komplette Programm des Comicfestivals München, das von Mittwoch bis Sonntag stattfindet, finden Sie unter diesem Link: www. comicfestival-muenchen.de.
Und das Spirou-Magazin? Es hat viele Höhen erlebt und Krisen überstanden, etwa den Siegeszug der Erwachsenencomics seit den 60er Jahren und eine zunehmende Flut an Magazinen. Im Gegensatz zu den meisten von ihnen hat „Le journal de Spirou“ aber überlebt. Es ist das älteste Comicmagazin, das seit den Dreißiger Jahren ohne längere Unterbrechung wöchentlich erschien und das – als historische Leistung - europäischen Comiczeichnern erstmals die Möglichkeit bot, einen eigenständigen populären Stil zu entwickeln, der eine Alternative zur amerikanischen Konkurrenz darstellt. Heute wird im Hause Dupuis die Marke Spirou weiter ausgebaut (neben dem Spirou-Club existieren TV-Serien, Apps u.v.a.), aber auch der Zeichner- und Szenaristen-Nachwuchs wird wieder gepflegt.
Der rote Anzug des Pagen wird noch lange halten müssen.
Übersicht über die Spirou-Reihen und aktuelle Neuerscheinungen
Sämtliche Spirou-Abenteuer erscheinen auf Deutsch im Carlsen Verlag:
In der regulären Reihe „Spirou und Fantasio“ sind die klassischen Abenteuer von André Franquin enthalten (Bände 1-17 und 22) – und die seiner Nachfolger ab Band 18. Der neueste Band 51 „In den Fängen der Viper“ (von Yoann/Vehlmann) erscheint Ende Mai (je 9,99 €).
In der Reihe „Spirou und Fantasio Spezial“ erscheinen die ersten Geschichten Spirous in deutscher Erstveröffentlichung nach und nach komplett. Bd. 1, 3, 5,7,10 enthalten frühe Geschichten von André Franquin.
Aktuell: Klassiker von Rob-Vel und Jijé in Chronologie als deutsche Erstveröffentlichungen: Für Fans, die Spirous Ursprünge kennenlernen wollen und den noch etwas rohen Charme der 30er Jahre-Grafik schätzen.
Die ersten Bände (Bd. 13- 16 ff) enthalten die Episoden von 1938 bis 1941:
Spirou - Auf Weltreise; Die mysteriöse Insel; Spirou in Amerika
Ebenfalls in der „Spezial“-Reihe erscheinen die One-Shots verschiedener neuer Künstler. Empfehlenswert z.B. Bd. 8 „Porträt eines Helden als junger Thor“ von Èmile Bravo, Bd. 9 „Operation Fledermaus“ von Yann/Schwartz, Bd. 11 „Panik im Atlantik“ (von Trondheim/Parme) (je 10/12€).
Die Reihe „Der kleine Spirou“ von Tome & Janry bietet mit dem aktuellen Band 16 „Ganz schön aufgeblasen!“ deftige Lausbubenstreiche des kleinen, äußerst frühreifen Spirou – von Tome und Janry (je 9,99 €).
Zum Jubiläum „75 Jahre Spirou“ wird als einmalige Auflage Émile Bravos „Porträt eines Helden als junger Thor“ als zweibändige Hardcoverausgabe herausgegeben, samt einer kompletten Vorskizzen-Fassung, im Schuber (Spirou & Fantasio Jubiläumsschuber, 49,90 Euro). Interessant für Fans, die der Entstehungsprozess eines Comics interessiert.
Das komplette Programm des Comicfestivals München, das von Mittwoch bis Sonntag stattfindet, finden Sie unter diesem Link: www. comicfestival-muenchen.de
Unser Autor Ralph Trommer ist Dipl.-Animator, Autor von Fachartikeln über Comics, Prosatexten und Drehbüchern. Weiter Tagesspiegel-Artikel von ihm unter diesem Link.
Ralph Trommer
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