„Hier“ von Richard McGuire: Im Hier, aber nicht im Jetzt
Sequenz, Raum, Rhythmus: Richard McGuire überführt in seinem Buch „Hier“ eine visionäre Idee in die Gegenwart. Sein einst bahnbrechendes Konzept wird dadurch zugleich erweitert und reduziert.
Eine Zimmerecke, links ein Fenster, rechts ein Kamin. 1957, 1942, 2007. Die Linie, an der die beiden Wände aneinander stoßen, verläuft genau im Falz des Buches. Mehr als 300 Seiten umfasst Richard McGuires „Hier“, das jetzt in deutscher Übersetzung bei Dumont erschienen ist. Aus einer immer identischen Perspektive blickt der Leser auf Ausschnitte aus dem Leben der Menschen, die dieses Zimmer bewohnen. Eine Aneinanderreihung ausschließlich doppelseitiger Panels. Mit jedem Umblättern präsentiert sich eine neue Momentaufnahme. Eine Jahreszahl in der linken oberen Ecke verrät dem Leser, in welcher Zeit die gezeigte Szene sich ereignet. Oft überlagern ein oder mehrere kleinere Panels das große Bild, die an Computerfenster erinnern, die sich am Bildschirm überlappen. In den Ausschnitt aus Zeit und Raum werden Ausschnitte desselben Raums in einer anderen Zeit montiert. Auf diese Weise entsteht eine Gleichzeitigkeit, die Bezüge zwischen den einzelnen Zeitebenen herstellt und damit die klassische Erzählweise von Comics sowohl hinterfragt als auch erweitert.
Premiere im RAW-Magazin
Dieser Befund wurde bereits als Reaktion auf die 1989 im RAW-Magazin erschienene Originalfassung von „Here“ formuliert, unter anderem von Chris Ware, dessen eigene Comics im Umgang mit den für das Medium so essentiellen Kategorien von Raum und Zeit ebenfalls als innovativ bezeichnet werden können. Ware attestiert McGuire, er habe mit der ursprünglichen Version von „Here“ das Lesen von Comics um eine dritte Richtung erweitert. Zu den beiden (in westlichen Comics) klassischen Leserichtungen von links nach rechts und von oben nach unten sei ein „in and out“ hinzugekommen, bedingt durch die Überlagerungen.
In der sechsseitigen Version aus dem Jahr 1989 kann man tatsächlich von einem echten Nebeneinander dieser drei Leserichtungen sprechen. Denn in Gegensatz zur erheblich erweiterten Buchfassung, befinden sich im ursprünglichen Comic noch sechs Panels auf einer Seite. Auch hier findet sich in jedem einzelnen die exakt gleiche Perspektive mit der Zimmerecke als Fluchtpunkt. Dennoch ist der erste Impuls des Lesers, die Panels in der bekannten Reihenfolge nacheinander von links oben nach rechts unten zu betrachten. Und dieses gewohnte Rezeptionsmuster wird auch erst im fünften Panel durchbrochen, wenn die Szene im Jahr 1957 sich den Platz im Panel plötzlich mit Szenen aus 1922 und 1971 teilen muss.
Auf Knopfdruck ändert sich die Panelreihe
Auf den folgenden fünf Seiten wird klar, dass die Panels genauso gut in jeder anderen beliebigen Reihenfolge gelesen werden könnten. Man beginnt ohnehin, vor und zurück zu blättern und nach Verbindungen zwischen den einzelnen Szenen zu suchen. Die klassische Sequenzialität ist aufgebrochen. Mit Ware könnte man sagen, man taucht in eine Zeitebene ein, nur um direkt wieder auf- und in die nächste Ebene einzutauchen. Und noch ein Effekt ist zu beobachten: Bedingt durch die Tatsache, dass in manchen der überlagernden Panels nur ein sehr kleiner Ausschnitt des Zimmers zu sehen ist, zoomt man beim Betrachten Details heran, um im nächsten Augenblick wieder einen Schritt zurück zu treten und das größere Panorama zu betrachten.
In der aktuellen Buchfassung treibt Richard McGuire diesen Effekt auf die Spitze. Die für den Comic klassische Optik des Panelrasters fehlt. Die Entscheidung für ausschließlich doppelseitige Bilder betont die immer gleiche Perspektive noch stärker, Sequenzialität entsteht jedoch – bis auf wenige Ausnahmen – nur beim Umblättern, durch die Reihung der Einzelbilder. Genau wie in der Originalversion können die gezeigten Szenen aber auch hier ebenso gut in jeder beliebigen anderen Reihenfolge betrachtet werden.
Auch hier beginnt man beim Lesen schnell hin und her zu springen, was durchaus der Intention des Autors entspricht, der in einem Interview erzählt, er habe kurz mit dem Gedanken gespielt, in jedem Exemplar des Buches eine andere Reihenfolge der Panels drucken zu lassen. Was ihm für die Printausgabe dann doch zu verrückt erschien, macht die (englische) eBook-Version möglich. Hier kann der Leser auf Kopfdruck die Reihenfolge der Panels verändern.
Auf vielen Best-of-Listen zu finden
Mit der Erweiterung seines Comics von 1989 hat Richard McGuire also den Fokus gezielt auf das von Chris Ware als dritte Leserichtung identifizierte „in and out“ gelegt – und damit in Kauf genommen, dass von der ursprünglichen Stärke seines Comics, dem Nebeneinander von Sequenzialität und bewusstem Aufbrechen dieser, nur noch wenig übrig geblieben ist. Das kann leider auch die Tatsache, dass die einzelnen Bilder in der neuen Buchversion koloriert und mit wesentlich mehr Detailfülle daherkommen, nicht ganz aufwiegen. Dennoch zählt „Hier“ zu den interessantesten Publikationen des vergangenen Jahres im Bereich Comic und war nicht zu Unrecht auf mehreren Best-of-Listen vertreten. Man verliert sich in diesem Buch und den zahlreichen Möglichkeiten, Verbindungen zwischen den einzelnen Zeitebenen zu schaffen.
Dabei kann man „Hier“ tatsächlich auch streng linear lesen und diese Art der Rezeption hat sogar einen eigenen Reiz, denn es entfaltet sich eine Art Rhythmus. Dieser ergibt sich aus der Anzahl der in das große Bild einmontierten kleineren Panels. Je mehr auf einer Seite zu sehen sind, desto langsamer blättert man zur nächsten Doppelseite. So nimmt die Lesegeschwindigkeit manchmal über einige Seiten an Fahrt auf, um dann durch eine immer größer werdende Dichte an überlagernden Panels wieder langsam gedrosselt zu werden. Spannend ist hier vor allem der Gegensatz: Gerade wenn man schnell von einem Bild zum nächsten blättert, sind die einzelnen Panels meist eher ruhig und kontemplativ. Führt die Dichte an überlagernden Fenstern hingegen zu einer Verlangsamung des Leseflusses, weil viele unterschiedliche Details betrachtet werden müssen, ist das Gezeigte meist weniger statisch.
Auch auf diese Weise wird Sequenzialität aufgebrochen, womit die Kritik an der Buchversion doch eigentlich entkräftet würde. Dennoch geht dem ursprünglichen „Here“ durch den Verzicht auf das Panelraster eine wichtige Dimension verloren, die nicht zuletzt dazu beigetragen hat, dass McGuires Comic damals als bahnbrechend und visionär empfunden wurde. Dennoch ist auch die lange Version mehr als lesenswert.
Richard McGuire: Hier, Dumont, aus dem Englischen von Stephan Kleiner, 300 Seiten, 24,99 Euro.
Ute Friederich
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