NSU-Drama "Wintermärchen" im Kino: Dem Hass ausgeliefert
Das verdrängte Unbewusste des NSU: der Filmemacher Jan Bonny und sein schwer erträgliches Drama „Wintermärchen“.
Einmal wie im Ego-Shooter-Spiel durch die Straßen cruisen und Menschen abballern. „Der da“, zischt das Mädchen am Anfang von „Wintermärchen“ dem Jungen auf dem Beifahrersitz zu. „Nee“, zögert er. Ein paar Meter weiter: „Der da vorne“, faucht sie genervt. „Geht nicht, der hat mein Gesicht erkannt.“ – „Ist doch egal, wen ich vorschlage. Du hast einfach nur Schiss. Der da!“ – „Der ist Deutscher.“ – „Wo ist denn der deutsch, Mann?“
Die Spritztour durch eine namenlose westdeutsche Kleinstadt findet ein abruptes Ende. Zurück in der karg eingerichteten Wohnung versucht er dann, auf einer durchgelegenen Matratze Sex mit ihr zu haben, sie lässt es teilnahmslos über sich ergehen. „Härter!“, schreit sie. Aber der Quickie endet genauso unerquicklich wie zuvor der Jagdausflug. „Nicht mal das klappt noch“, meint er frustriert.
Der Münchner NSU-Prozess mit der Hauptangeklagten Beate Zschäpe hat außer einer rechtsstaatlichen Bankrotterklärung auch eine eigenständige mediale Erzählung produziert. Das skandalöse Narrativ besaß von Beginn an eine frivole Note, weil das beredte Schweigen Zschäpes sowie ihre Selbstinszenierung als willenloses Opfer der mutmaßlichen Komplizen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt viele Leerstellen hatte. Vor allem bei der Beziehung zwischen den drei Mitgliedern der rechtsextremen Terrorzelle. Die Medien nahmen dies dankbar für Spekulationen auf, auch weil der Prozess dank juristischer Winkelzüge eher die öffentliche Desinformation förderte, statt der Aufklärung zu dienen. So wurde Zschäpe zur Antiheldin einer gänzlich unheroischen Geschichte. Jedes Schweigen war eine Nichtmeldung wert, selbst ihre Kleidung vor Gericht hatte plötzlich Nachrichtenwert.
Bonny nennt den Film eine "Zumutung"
Der Filmemacher Jan Bonny besuchte den Prozess vor zwei Jahren mit einem Freund, während er in München gerade die Polizeiruf-Episode „Das Gespenst der Freiheit“ über Ermittlungen im rechten Milieu drehte. „Frappierend war zu realisieren“, erinnert er sich am Telefon, „dass man sich in diese Verhandlung einfach reinsetzen kann. Der Prozess war irgendwann ein so abstrakter Vorgang geworden, dass man ganz vergessen hatte, wie real der ist. Ich fühlte mich geradezu erschüttert, plötzlich im Gerichtssaal zu sitzen. Und da stellte sich mir zum ersten Mal die Frage, wie man sich einer Figur wie Beate Zschäpe überhaupt nähert.“
„Wintermärchen“, produziert von Bettina Brokemper, nimmt nicht nur im jungen Œuvre der filmischen Auseinandersetzung mit dem NSU eine Sonderstellung ein. Eine „Zumutung“ nennt Bonny selbst seinen Film. Auch das Publikum in Locarno, wo er im vergangenen September Premiere hatte, war gespalten, von Begeisterung bis Empörung reichte das Spektrum. Und wenig dazwischen.
Selbst ohne Kenntnis der Mordserie und ihrer Hintergründe – Bonny verzichtet auf Erklärungen im Abspann, anders als Fatih Akin in seinem ebenfalls an den NSU angelehnten Rachethriller „Aus dem Nichts“ – ist „Wintermärchen“ schwer erträglich. Es gibt keine Filter, keine Möglichkeit zur Distanzierung. Fast schon übergriffig ist man dem Hass von Becky (Ricarda Seifried), Tommi (Thomas Schubert) und Maik (Jean-Luc Bubert) ausgeliefert, der von einer abgründigen Trieblust angestachelt zu sein scheint: Sex und Gewalt. Rechter Terror ohne ideologischen Überbau.
Ficken, töten, saufen - eins führt zum anderen
Diese Triebe gleichwertig zu behandeln, gehörte früh zum Konzept von Bonny und seinem Ko-Autor Jan Eichberg, sagt der Regisseur. „Sex und Gewalt sind im Prinzip der gleiche Vorgang, die Figurenkonstellation ist von beiden Dynamiken durchzogen. Worte spielen keine Rolle mehr, es geht nur noch um die eigenen Körper, beziehungsweise um die Definition eines gemeinsamen Körpers gegen alle anderen.“ Bonny will die Banalität dieses Narzissmus zeigen.
„Wintermärchen“ beschreibt die Impulshandlungen der Protagonisten in erschütternder Monotonie. Ficken, töten, saufen – eins führt zum anderen. Nach dem ersten Mord feiern Becky, Tommi und Maik in einer Kneipe, die bierselige Stimmung schwankt immer haarscharf zwischen Schlagerpolonaise und rechten Parolen. Ein trübes, gefährliches Gebräu.
Aus dieser engen Perspektive lässt der Film keine Ausflucht, nicht mal beim Überfall auf einen türkischen Supermarkt. Die rastlose Kamera (der Norweger Benjamin Loeb) kommt kaum hinterher: hektische Reißschwenks, Panik, Brüllen, schließlich die Exekutionen. Immer drauf. „Wintermärchen“ wirkt wie das verdrängte Unbewusste der offiziellen NSU-Erzählung, wie sie der ARD-Dreiteiler „Mitten in Deutschland“ rekonstruierte, der zwischen Tätern, Opfern und Ermittlern trennt. Auf diese Ausgewogenheit verzichtet Bonny. „Wintermärchen“ sei eine „schmutzige Fantasie“, sagt er. „Das Beziehungsdrama ist eine Form, die dem Zuschauer Zugang ermöglicht. Wenn die Nähe hergestellt ist, kann man ans Eingemachte gehen.“
Keine Fernsehredaktion funkte dazwischen
Knapp ein Jahr brauchten Bonny und Eichberg vom ersten Entwurf bis zur Locarno-Premiere. Ein für deutsche Verhältnisse irres Tempo. Und ein Glücksfall: keine Fernsehredaktion funkte dazwischen, es gab nur einen Zuschuss von der NRW-Filmförderung. Die Atemlosigkeit verdankt sich nicht zuletzt dieser Guerillamethode. „Für mich hat der Film den Charakter einer Geste“, sagt Bonny. „Hätten wir uns mit dem Thema NSU zwei Jahre beschäftigt, wäre etwas ganz anderes dabei herausgekommen.“ Sie wollten bei den Dreharbeiten einem Impuls folgen.
Die wechselnden Allianzen zwischen den dreien geben der Monotonie eine Dynamik. Am Anfang irren Becky, innerlich eine tickende Zeitbombe, und der unsichere Tommi ziellos durch die Straßen, sie suchen noch ein Ventil für ihre Aggressionen. In Maik, der mit seiner körperlichen Massivität irgendwann zwischen sie tritt, findet das unkontrollierbare Mädchen einen ebenbürtigen Partner, sie treiben sich gegenseitig voreinander her. Omnipotenz und Impotenz.
So erteilt die Fiktion „Wintermärchen“ der Selbstinszenierung von Beate Zschäpe als Opfer eine Absage. Becky kostet ihre Macht über die beiden Männer aus und forciert die Brutalität des Trios, als die Medien über die Morde nur als Bandenkrieg im türkischen Milieu berichten. Jan Bonny hatte schon in seinem verstörenden Ehedrama „Gegenüber“ (2007), in dem Matthias Brandt ein Opfer häuslicher Gewalt spielt, mit allzu idealisierten Rollenzuschreibungen aufgeräumt.
Bonny spürt einer dunklen Vorahnung nach. „Ich frage mich schon länger, wie man überhaupt noch einen der Gegenwart angemessenen Film drehen kann. Unsere Gesellschaft hat diese verrohten Figuren ja hervorgebracht. Eine Brutalisierung kann man momentan schon in der Sprache beobachten, die viele Menschen ausschließt.“
Ihm geht es nicht um eine Erklärung des NSU, das fände er anmaßend; eher um eine Mentalitätsstudie. Daher auch der Verweis auf Heinrich Heine im Filmtitel – sowie die Anspielung auf das Fußball-„Sommermärchen“ von 2006 mit seinem positiven Patriotismus. „Der Titel“, lacht Bonny, „ist meine Heine-Assoziation. Auch in seinen Deutschland-Betrachtungen steckte viel Spott.“ Auf einen drastischen Befund wie „Wintermärchen“ dürfte keine Zivilgesellschaft sonderlich stolz sein.
ab Donnerstag in den Kinos
Andreas Busche