Zu explizit für die Primetime: TV-Drama "Über Barbarossaplatz" erst im Spätprogramm
Die "Explizitheit" des TV-Dramas „Über Barbarossaplatz“ bereitete den ARD-Granden Bauchschmerzen. Im "Bloch"-Nachfolger sind die Therapeuten selbst therapiebedürftig.
Unten tobt der Verkehr. Fußgänger eilen über die Straße, als seien sie auf der Flucht. Oben schaut eine Frau schweigend aus dem Fenster herunter auf das laute Treiben am Kölner Barbarossaplatz, löffelt bei brennender Zigarette Jogurt aus einem Becher, telefoniert mit irgendwem, gießt Blumen, hört ein bisschen Musik, macht im Büro einen Kopfstand. Greta ist Psychotherapeutin, ihr Mann Rainer, ebenfalls Psychotherapeut, ist vor Kurzem ums Leben gekommen. Genauer gesagt: Er hat sich selbst getötet, wie man später erfahren wird. Die Asche ihres Mannes streut sie von einer Fähre aus in den Rhein. Allein und ohne Zeremonie oder irgendeine Abschiedsgeste. „Können Sie mal aufhören, den Dreck da reinzukippen?“, rufen Mitreisende auf der Fähre.
In 24 Filmen verkörperte der im März 2013 verstorbene Dieter Pfaff den Therapeuten Dr. Maximilian Bloch. Der Titelheld der von SWR und WDR verantworteten ARD-Reihe „Bloch“ war eine arbeitswütige Koryphäe, ein sympathischer Kümmerer, der zwar seine Familie vernachlässigte, aber immer ein Ohr hatte für die Nöte seiner Mitmenschen. Bei der Suche nach einer Nachfolge-Reihe gingen die beiden Sender getrennte Wege. Der SWR legte im vergangenen Jahr mit „Emma nach Mitternacht“ vor. Katja Riemann spielt darin eine Radio-Nacht-Talkerin mit ungewissem Vorleben. Sie ist spontan, schlagfertig, warmherzig und manchmal auch kratzbürstig, aber alles in allem ein sonniges Gemüt, das nichts so leicht umhauen kann.
Der WDR nun mag es eher schattig. „Über Barbarossaplatz“ mit Bibiana Beglau in der Hauptrolle einer spröden, selbst tief verletzten Therapeutin ist eine Eigenproduktion, auf die der Sender mächtig stolz ist. Es ist der erste Film der neuen Reihe; ein zweiter ist in Vorbereitung. Mit Jan Bonny hat man eines der interessantesten Regietalente des Landes verpflichtet, der sowohl im Kino („Gegenüber“) als auch im Fernsehen („Polizeiruf 110 – Der Tod macht Engel aus uns allen“) mit einem Mut zu harten Stoffen und konsequentem Erzählen aufgefallen ist. Auf diversen Festivals wurde die Pilotfolge von „Über Barbarossaplatz“ herumgereicht, in München ließ man Bonny mit dem vielfach preisgekrönten Dominik Graf über „Entfesseltes Fernsehen“ diskutieren. „Wir wollen einen ,poetischen Realismus‘ wagen, der sich vornimmt, von den rauen und unverstellten Seiten verletzter Seelen in einer lauten und hektischen Welt zu erzählen“, schreibt Gebhard Henke, Fernsehspielchef des WDR, aus Anlass des endlich gefundenen Ausstrahlungstermins.
Erst zwei Jahre nach den Dreharbeiten im Programm
Ob das ungeschönte Großstadt-Drama tatsächlich ein „neuer, ungewohnter erzählerischer Weg“ ist, wie Henke behauptet, sei mal dahingestellt. Jedenfalls ist „Über Barbarossaplatz“ nach einem Drehbuch der erfahrenen Autorin Hannah Hollinger ungewöhnlich genug, um im Kreise der ARD-Granden für Irritationen zu sorgen. Nach längerer Diskussion – die Dreharbeiten sind schon zwei Jahre her – einigte sich die Fernsehfilm-Koordination darauf, den Film lieber nicht, wie eigentlich vorgesehen, am Mittwoch ab 20 Uhr 15 Uhr auszustrahlen. Die Gründe sind offenkundig, Henke spricht treffend von „Ruppigkeit“ und von einer „Explizitheit“, mit der der Film den Menschen als sexuelles Wesen mit all seinen Abgründen zeige. Einen ästhetischen Lustgewinn sollten erotisch interessierte Zuschauer weniger erwarten. Insbesondere eine Figur fällt aus dem Rahmen familientauglicher Primetime-Unterhaltung: Stefanie (Franziska Hartmann) steht auf harten Sex mit fremden Männern, am liebsten mit mehreren gleichzeitig. Ihre Sexualität ist Sucht, ein Ventil für fehlende Liebe, bietet aber keine Erlösung.
Stefanie war Rainers Patientin, Greta will sie am liebsten loswerden, aber auch in Erfahrung bringen, was zwischen Stefanie und Rainer war. Sie empfindet Schuldgefühle wegen dessen Selbstmord und sucht den Rat bei ihrem ehemaligen Hochschullehrer Benjamin Mahler (Joachim Król). Den hat sie einst angehimmelt, aber natürlich ist auch der eine „verletzte Seele“. Mahler plagen Selbstzweifel, er hat die Therapie-Praxis seines verstorbenen Über-Vaters aufgegeben, dafür aber dessen Geliebte übernommen. Der Dritte im Bunde ist Adrian (Shenja Lacher), Gretas Kollege in der gemeinsamen Praxis, ein extrovertierter Typ, der sich etwas aufdringlich an die Witwe heranmacht. Keine Figur hier ist unversehrt, die Therapeuten – und die Stadt – eingeschlossen. Köln zeigt seine Wunden, ist laut, hässlich, lebendig, komisch, aber befreit von den üblichen Klischees. Köln gibt den Ton an. In dieser Hinsicht ist „Über Barbarossaplatz“ tatsächlich großes Fernsehen.
„Über Barbarossaplatz“; ARD, Dienstag, 22 Uhr 45
Thomas Gehringer