Locarno Filmfestival 2018: Rebellische Bilder für rebellische Frauen
Beim Filmfestival in Locarno dominierten Frauenfiguren die Leinwände. Jenseits des Kinos stand aber ein Mann im Zentrum aller Aufmerksamkeit: der künftige Berlinale-Chef Carlo Chatrian.
Sie lassen Männern am Fahrstuhl den Vortritt, weil sie längst wissen, dass sie drei Etagen später den Anzugträger um den Finger gewickelt haben. Sie fingieren Boxkämpfe, heiraten Verbrecher und pfeifen auf gesellschaftliche Konventionen, wenn sie vor allen Passagieren mit verlobten Herren auf einem Kreuzfahrtschiff Rosé-Champagner trinken. Die Frauenfiguren in den rasanten Screwballkomödien „Love Affair", „The Awful truth“ und „Belle of the Nineties“ des amerikanischen Regisseurs Leo McCarey demonstrieren ungeniert mit welcher Selbstverständlichkeit sie das Heft des Handelns in der Hand halten, die Geschlechterverhältnisse unterwandern und ihre Geschichten selber gestalten. Sie heißen Irene Dunne, Mae West, Ann Sheridan oder Deborah Kerr und sorgen für Leinwandauftritte, die nach 80 Jahren noch wunderbar modern und mutig wirken.
Bei den 71. Internationalen Filmfestspielen in Locarno hatten die schnell sprechenden, schnell handelnden Frauen wieder ihre großen Momente in der bestens besuchten Leo McCarey Retrospektive. Nebenbei gaben sie ein prägendes Thema dieser Festivalausgabe vor, die erfreulich reich an vielschichtig angelegten Frauenfiguren war. Deshalb ist es gar nicht vermessen zu behaupten, dass beispielsweise die Hollywood-Diva Mae West mit ihrer legendären „Ist mir egal“-Haltung eine entfernte Verwandte der jungen Alice T. aus Radu Munteans gleichnamigen Wettbewerbsfilm ist. Die rothaarige Schülerin bringt ihr Umfeld zur Verzweiflung. Sie trinkt, lügt, schwänzt die Schule und lässt sich mit älteren Männern ein. Dabei entwickelt die Schauspielerin Andra Guti, ausgezeichnet mit dem Preis für die beste weibliche Hauptrolle, eine Energie, die das rastlose Tempo des Films bestimmt. Selbst als sie schwanger wird, gaukelt sie allen vor, dass sie das Kind behalten will, obwohl sie sich im Internet längst für einen medikamentösen Schwangerschaftsabbruch entschieden hat. Wie es sich für einen Vertreter der rumänischen Welle gehört, beweist Muntean („Tuesday, after Christmas“) ein waches Auge für gesellschaftliche Missverhältnisse. Es reichen ein paar Dialogfetzen, um zu erfahren, dass Alice eine Roma ist und von einer Mittelklassefamilie adoptiert wurde. Plötzlich bekommen die Bilder eine veränderte Gravität.
Frauenfiguren sind in Locarno keine Randfiguren
Neben „Alice T.“ trugen drei weitere Wettbewerbsfilme im Titel den Namen ihrer Heldin. Das durfte man am Lago Maggiore als klares Zeichen lesen: Frauenfiguren waren hier keine Randfiguren, kein schmuckes Lustobjekt männlicher Phantasien. Dabei wurden die meisten Filme in Locarno von Männern gedreht. Diesen Vorwurf hat der künstlerische Leiter des Festivals Carlo Chatrian in seiner sechsjährigen Amtszeit häufig zu hören bekommen. Im Interview spricht er über die Strukturdefizite und Auswahlmechanismen, die zu diesem Missverhältnis führen. Als kleineres Festival müsse Locarno seine Filme früh akquirieren, damit man im Wettbewerb gegen die Konkurrenz überhaupt eine Chance habe, bei diesem Auswahlprozess wäre die Quotenfrage nicht zentral. Chatrian verweist auf sein Programm: “In den Filmen findet ein Wandel statt. Das Kino als Kunst von Männern, die auf Frauen starren, geht zu Ende.“
Der 46 Jahre alte Italiener, der im Frühjahr 2019 von Dieter Kosslick die Leitung der Berlinale übernehmen wird, denkt über die Leinwand. Wenn er über Filme spricht, ändert sich sein Tonfall, er beginnt zu gestikulieren, die Leidenschaft ergreift ihn. Er liebt das Kino, und zwar die ganze Bandbreite. Das konnte man auf der Piazza Grande beobachten. Im Anzug mit leicht zu großer Fliege stellte er fließend in drei Sprachen den Agententhriller „Equalizer 2“ vor und debattierte mit US-Regisseur Antoine Fuqua über die aktuellen Tendenzen des Actionfilms. Um wenig später dem französischen Autorenfilmer Bruno Dumont den Ehrenleoparden zu verleihen und mit ihm über die tragikomischen Abgründe der animalischen Seite des Menschen zu philosophieren. Chatrian sucht die Entdeckung – auch im deutschen Kino.
Die deutsche Regisseurin Eva Trobisch dreht das beste Debüt
Eva Trobischs Spielfilm „Alles ist gut“ wurde in der Sektion Cineasti del Presente begeistert aufgenommen und gewann den Preis als bestes Debüt. Die junge Regisseurin erzählt von Janne, die nach einer Party mit dem Schwager ihres Chefs im Bett landet. Er will Sex, sie nicht. Am nächsten Morgen weiß Janne nicht, war das eine Vergewaltigung oder ein missglückter One Night Stand. Ist sie ein Opfer? Der Vorfall konfrontiert sie mit ihrem weiblichem Selbstverständnis, das den Opferbegriff ablehnt. Trobisch gießt dieses Dilemma gemeinsam mit ihrer Hauptdarstellerin Aenne Schwarz in ruhige, glasklare Bilder, die einen sensiblen und intelligenten Diskursraum eröffnen, der keine vorschnellen Vorverurteilungen zulässt. Unbequeme Fragen stellen und keine Antworten geben. Das ist auch das politische Konzept von Jan Bonnys Wettbewerbsbeitrag „Wintermärchen“. Der 39 Jahre alte Regisseur wirft das Publikum mitten hinein in die gruppendynamischen Prozesse einer rechtsradikalen Terrorzelle aus zwei Männern und einer Frau. Bonny erzählt das Morden und den Ausländerhass über die dysfunktionale Sexualität des Trios. Er beobachtet ihre Machtspiele und Unterwerfungsrituale. „Wintermärchen“ erzeugt einen heftigen Sog, weil er sich den Rechtsradikalen über eine radikale Körperlichkeit nähert. Das ist auf Dauer nicht ohne Redundanz. Aber der provozierenden Härte und der Unmittelbarkeit der Gewalt kann man sich schwer entziehen. Der Zuschauer muss sich zu den Bildern verhalten. „Wintermärchen“ ist eine unangenehme Gegenwartsdiagnose.
Ein Film Noir aus Singapur gewinnt den Goldenen Leoparden
Damit erfüllt Bonnys Film ein Ziel von Chatrians Festivalagenda: Filme zeigen, die den Blick des Publikums herausfordern. Dazu gehört die Provokation, die Konfrontation mit Bilderwelten, die durch ihr Anderssein definiert sind, mit eingefahrenen Erzählmustern brechen und den Blick frei machen für eine andere Auseinandersetzung mit der Welt. So ein Film ist der Gewinner des Goldenen Leoparden „A Land Imagined“ des aus Singapur stammenden Regisseurs Yeo Siew Hua. Ein traumwandlerischer Film Noir, der auf dem Boden der gesellschaftlichen Realität bleibt. Es geht um die zunehmende Landgewinnung durch illegale Sandimporte, die ausbeuterischen Lebensbedingungen der Schwarzarbeiter und gegenwärtigen Identitätskrisen im panasiatischen Raum. Ein Arbeiter verschwindet, ein Kommissar sucht ihn durch seine Träume, eine Internetcafé-Besitzerin verliebt sich in einen Kunden, der von einem Ego-Shooter-Spiel verschluckt wird. Die Figuren wirken wie Geister, die sich von Ort zu Ort träumen und durch verschiedene Bewusstseinszustände gleiten. Ein flirrend-trauriger Kinotraum, der die entwurzelten Biographien mit sehnsüchtigen Bilderströmen füllt.
Eine schöne Herausforderung war auch der 14 Stunden lange Beitrag „La Flor“ des Argentiniers Mariano Llinás, der mit einer ansteckenden Heiterkeit seine vier Schauspielerinnen durch unterschiedliche Geschichten und Genres jagt. Mal sind sie Archäologinnen, mal Agentinnen im Kalten Krieg, dann wieder Liebende in einem Stummfilm oder Schlagersängerinnen in Buenos Aires. „La Flor“ ist ein Spiel mit dem Kino und dessen Regeln, ein gemeinsames Spiel von Frauen und Männern. Und eine Alternative zum seriellen Bilderkonsum von Netflix und Amazon. Eine, die liebevoll Filmtraditionen pflegt und sachte weiterentwickelt. Man kann sich nur wünschen, dass Carlo Chatrian seinen filmischen Entdeckungsdrang mit nach Berlin nimmt. Er hinterlässt ein sehr gut aufgestelltes Locarno. Unter ihm sind die Filmfestspiele im Tessin zu einem Ort der reinen Kinoliebe geworden.
Patrick Wellinski
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