Fatih Akins Wettbewerbsbeitrag in Cannes: Die Wut nach der Bombe
Cannes Journal (9) - Auf der Zielgeraden: Fatih Akins „Aus dem Nichts“ und ein kurioser Filmfestival-Beitrag von François Ozon.
Die Hoffnungen ruhen jetzt auf einer Frau. Schön, dass man das auch mal über Cannes schreiben darf. Der Wettbewerb ist fast durch, es fehlt nur noch Lynne Ramsay, die mit „You Were Never Really Here“ zum zweiten Mal um die Goldene Palme konkurriert – und auf der große Erwartungen ruhen. Joaquin Phoenix spielt einen Kriegsveteranen, der auf der Suche nach einem verschwundenen Teenager einem Mädchenhändlerring auf die Spur kommt. Ramsays Film wird insgeheim als krönender Abschluss herbeigesehnt, vielleicht auch in der Hoffnung, dass sich am Ende doch noch ein klarer Favorit herauskristallisiert. Genrestoffe dominieren auf der Zielgeraden den Wettbewerb, und das nicht zu dessen Nachteil.
Der vorletzte Tag setzt diesen Trend mit Fatih Akins „Aus dem Nichts“ und „L’Amant Double“ von François Ozon fort, die jedoch ganz unterschiedliche Absichten verfolgen. „Aus dem Nichts“ wird in Cannes als Rachegeschichte verkauft, aber Akins Film ist deutlich komplexer angelegt, obwohl seine klassische Drei- Akt-Struktur eine finale Katharsis suggeriert. Diane Kruger, deren Karriereplanung auf immer wieder überraschende Weise undurchschaubar bleibt, spielt eine Deutsche, die bei einem Bombenanschlag ihren kurdischen Mann und ihren sechsjährigen Sohn verliert. Da das Opfer vorbestraft war und eine vierjährige Gefängnisstrafe abgesessen hat, konzentrieren sich die Ermittlungen zunächst auf das Umfeld der organisierten Kriminalität. Katja Sekerci muss allerlei bürokratische Erniedrigungen über sich ergehen lassen, obwohl sie selbst schnell den – für ein deutsches Publikum naheliegenden – Verdacht äußert, dass es sich bei den Tätern um Neonazis handeln muss.
Das Drehbuch, das Akin wie schon bei „Tschick“ mit Hark Bohm geschrieben hat, verkauft diesen Verdacht als große Erkenntnis, was vermuten lässt, dass „Aus dem Nichts“ vor allem auf den internationalen Markt abzielt. So finden die Taten des NSU im Film überhaupt keine Erwähnung, wodurch die Geschichte in einer parallelen Realität verortet erscheint. Eine sonderbare Entscheidung Akins, die dem Film viel von seiner gesellschaftlichen Relevanz nimmt, auf die das mittlere Kapitel dann trotz allem irgendwie hinauswill. Denn die Täter werden schnell geschnappt, es handelt sich tatsächlich um ein junges Neonazi-Pärchen. Das Mittelstück von „Aus dem Nichts“ ist ein Gerichtsdrama, das sehr verknappt den Zschäpe-Prozess zu rekonstruieren versucht, dabei aber erneut diesen Präzedenzfall ausblendet. Es geht primär um eine Schuldfrage. Krugers Figur tritt als Nebenklägerin auf, Denis Moschitto spielt ihren Verteidiger: ein alter Freund ihres Mannes, der eine schöne Farbe in das soziale Umfeld bringt, in dem Katja Sekerci mit ihrer Familie lebte.
Durch die Ausblendung der NSU-Realität geht „Aus dem Nichts“ eine gesellschaftliche Dimension verloren, die nicht zuletzt ja auch vom Versagen der Behörden und einem strukturellen Rassismus Zeugnis ablegt. Der Anfangsverdacht, dass Sekerci Opfer eines Bandenkriegs wurde, wird früh im Film ausgeräumt und damit auch die Möglichkeit, den Skandal hinter den NSU-Morden zu erzählen. Akin orientiert sich im zentralen Kapitel in groben Zügen an der Anklage im Zschäpe-Prozess, die sich ebenfalls auf die reine Faktenlage stützt, ohne die institutionellen Zusammenhänge zu durchleuchten. Und weil es in „Aus dem Nichts“ keinen Behördenskandal gibt, muss bei Akin alles auf ein Versagen der Justiz hinauslaufen.
Solche Einwände sind natürlich der deutschen Kritik vorbehalten, die mit der Vorgeschichte und diversen Fernseh- und Dokumentarfilmen zum Thema NSU bestens vertraut ist. Von der internationalen Kritik wurde „Aus dem Nichts“ wohlwollend aufgenommen, obwohl Akin auch dramaturgisch nicht so recht die Balance zwischen dem Genreplot im dritten Kapitel und dem nüchtern inszenierten Gerichtsdrama findet. Zu der lebensnahen Energie seiner frühen Filme findet er am ehesten noch in den Hamburger Szenen und seinen Figurenzeichnungen, insbesondere der von Kruger. Denn „Aus dem Nichts“ ist auch die Geschichte einer jungen Studentin, die einen vorbestraften Kriminellen im Gefängnis heiratet und am Ende nur von sich sagen kann, dass sie Mutter und Hausfrau gewesen sei.
François Ozon bestätigt in Cannes seinen inzwischen verlässlichen Turnus, in dem auf einen „großen“ Film stets ein Nebenwerk folgt. „L’Amant Double“ könnte gar nicht weiter von „Frantz“ entfernt sein, eine doppelbödige Psychostudie über eine labile junge Frau Mitte zwanzig (Marine Vacth), die eine Affäre mit dem Zwillingsbruder ihres Freundes beginnt. Ozon hat sich diesmal ganz der Kolportage verschrieben. Sein Film beginnt unangemessen mit einem tiefen Blick in die Vagina seiner Hauptfigur und arbeitet danach bewusst plakativ mit Spiegel- und Doppelgängermotiven, die ihn als Fan von Brian De Palma und David Cronenberg ausweisen. „L’Amant Double“ changiert elegant spekulativ zwischen Psycho- und Körperhorror, ökonomisch inszeniert mit kleinen exzessiven Noten. Ein kurioser Eintrag in die ohnehin disparate Filmografie von Ozon.