Berlinale-Glosse (8): Auf der Suche nach dem perfekten Bild
Unser Festival-Kolumnist macht sich Gedanken über Bilder, Blicke und das Geheimnis des Kinos. Und er trifft sich mit der tollen Kamerafrau Christine A. Maier.
Als Filmstar lebt man im Saus und Schmaus. Im Berlinale-Hotel am Gendarmenmarkt gibt es eine Schale Nüsschen, wenn man ein Glas Wasser bestellt. Der Kellner in der Hofbar zündet Frauen am Tisch ihre Zigarette an. Ich durfte auch mein Handy aufladen, dem die ganze Filmerei langsam zu viel wird. Vielleicht sind meine Bilder deshalb alle unscharf.
Das perfekte Bild; wie sieht es aus? Christine A. Maier lacht, die Österreicherin ist eine der besten Kamerafrauen der Welt. Sie schaut mich durch ihre dunklen Augen an, irgendwie genau. „Es gibt keine perfekte Kamera.“ Aber ohne sie keinen guten Film.
Manchmal bemerkt man die Kamera gar nicht, wie einen guten Schiedsrichter beim Fußball. Manchmal ist sie eitel, kriecht in Gesichter rein und schreit: Ich bin Kunst! In guten Momenten verweben sich Bilder und Erzählung, entweben ein Geheimnis.
Wie in Maiers letztem Erfolgsfilm „Licht“ über ein erblindetes Mädchen im Wiener Rokoko, die ihr Augenlicht sucht und dabei etwas Verborgenes findet. „Dieser letzte Blick zu ihrem Vater, da steckte alles drin“, erzählt Maier. „Die Macht, die er über sie hatte, die Kontrolle. Er weiß, was er ihr angetan hat. Und er weiß, dass sie es weiß.“ Mit ihrem Blick verliert er seine Macht. Als Zuschauer sieht man es fast unbemerkt.
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Maier hat nur kurz Zeit im Berlinale-Hotel, ein Star hinter der Kamera. Die Filme der 52-Jährigen haben viele Preise gewonnen, gerade dreht sie gern mit Kunstgalerien. Bei der Berlinale sitzt sie in der Jury für die besten Kurzfilme. Die „Shorts“ haben nur wenige Momente, um eine Erzählung zu entfalten. Wie der Gewinnerfilm „Mein Onkel Tudor“ aus Rumänien. In stillen Nahaufnahmen zeigt die Kamera ein ländliches Sommerhaus-Idyll voller scheinbar schöner Kindheitserinnerungen. Gleichzeitig wird Onkel Tudor von der Filmemacherin befragt: zu einem Trauma, das hier begann. Das er verantwortet. Kamera und Text – erst zusammen ergeben sie das ganze Bild.
Eigentlich hätte sie auch Mathematikerin werden können, in der Schule erfand sie eine Formel für Differenzialrechnung. Den Lockdown, so hart er fürs Kino war, fand sie aus mathematischer Sicht richtig: „Damit die Zahlen nicht explodieren“.
"Dieser Regie-Mythos, dieser Boys Club der Stars": Maier regt sich auf
Kommt das Kino nach Corona wieder? Sie zuckt die Schultern: „Gewisse Dinge lösen sich auf.“ Wen interessiere grad schon die Fußball- EM? Wer fahre noch ins Büro? Kino läuft bei vielen jetzt zuhause. „Aber in so’nem kleinen Kasten, nee.“ Die meisten Streaming-Serien findet sie zu durchdesignt, „alles schön, jeder Fehler zugeschmiert“. Und was findet sie charmant? „Wenn man bei der Geige mit dem Bogen hinterm Steg spielt. Da weiß man nicht, was rauskommt.“
Ein Film ist ein Haufen Bilder, gemacht von einem Haufen Menschen. Eine Kamerafrau fällt da mit am wenigsten auf, zumal das Filmbusiness lange konservativer war als jede Anwaltskanzlei in Wien. „Dieser Regie-Mythos, dieser Boys Club der Stars, dieses Genie-Gerede – das hat doch was Vorfaschistoides“, findet Christine A. Maier. Dazu das Geteue mancher Regisseure, „da denke ich oft: Die Neurose passt nicht unbedingt zum Talent“. Wir müssen lachen.
Maier regt sich jetzt richtig auf, aber sie muss los. Eine Zigarette noch. Der Kellner im Berlinale-Hotel zündet Feuer an ihrem Mund und gibt mir mein aufgeladenes Handy zurück. Ich mach noch ein Bild von ihren offenen Augen. Irgendwie unscharf.
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