Berlinale Glosse (1): Verwehungen am Potsdamer Platz
Am Mittwoch beginnt die Berlinale, zum ersten Mal seit 1977 im Sommer. Unser Kolumnist wird das Festival begleiten – und hat sich schon mal umgesehen.
Inzwischen kann man zehn Leute ohne Probleme treffen. Aber wer kennt schon zehn Leute ohne Probleme? Ich bin auch gern mal alleine, so an und für mich. Es ist nicht so, dass ich dann mit mir selbst Gespräche führe. Nein, ich träume, höre Musik, denke zurück an kleine Szenen. Manchmal spielen sie im Kino: ein geheimer Kuss mit der Sitznachbarin bei einer Komödie; sie lachte danach noch schöner mit. Das Weinen, als Björk als „Dancer in the Dark“ einen ganzen Saal in einen isländischen Wasserfall verwandelte. Oder letzten Sommer, als das Kino mal kurz freies Licht unter freiem Himmel hatte und ich auf einem Klappstuhl am Ostkreuz einen Nachwende-Thriller sah. Freies Land, ein irre guter Krimi mit irre guter Musik. Und dem Dialog: „Das ist jetzt hier ein freies Land.“ – „Ja, morgen wieder!“
Was machen wir heute draus? Alles, was gerade in die Tage reingeht. Freunde melden sich – man müsste mal wieder; jetzt wo man kann. Die Kiezbar an der Ecke macht nach dem ersten Tag wieder dicht – die Leute haben alles leergetrunken. Im Freibad darf man abtauchen – nur die Rutsche ist gesperrt wegen der Delta-Virus-Variante. So geht’s aufwärts in diesem Sommer. Bloß wann kann ich wieder jemanden frei umarmen? Nach der zweiten Impfung? Oder erst im dritten Frühling nach Corona? Wo kriege ich überhaupt zehn Leute her?
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Plötzlich ist es 10 Uhr und 02 Minuten – das Handy vibriert: Haste schon was? Wie bitte, was jetzt, ach ja, Mist! Kartenvorverkauf, Sommer-Berlinale, digitale Schlange. Welche Filme waren das noch mal, die irgendwann aktuell waren und immer noch niemand gesehen hat? Das Handy vibriert: Also, bei mir bricht alles zusammen. Was, ich muss mir eine Kino-App runterladen? Sorry, da blickt kein Schwein mehr durch. Na wenigstens das ist so wie immer.
Zwischen den Dialogen ratterte immer die S-Bahn
Dann bin ich wieder allein, ganz für mich. Ich laufe über den Potsdamer Platz, einst wegen der Festivalteppiche der roteste Punkt von Berlin. Heute ist es nur noch der toteste Punkt. Vor dem einstigen Berlinale-Palast liegen E-Roller rum. Champagnerflaschen warten in einem Kühler auf einer leeren Hotelterrasse – bis wann sind sie mindestens haltbar? Sonne knallt auf Beton, ein einsamer Hund springt in den Tümpel am Autobahntunnel. Gleich müsste hier ein Ballen Stroh vorbeiwehen.
In einem Büro um die Ecke gibt die Berlinale ihre Hygieneregeln aus: „Hände regelmäßig und häufig waschen oder desinfizieren“. Vielleicht sollten sie neben die Seifen- noch ein paar Trostspender stellen.
Auf dem Rückweg radle ich an der Museumsinsel vorbei. Auch hier wirkt Berlin in sich versteinert. Aber hinter Säulen blitzt eine Leinwand hervor, sogar ein schmaler roter Teppich. So versucht sich die Berlinale sommerlich. Schon nach dem Mauerfall war ich hier im Liegestuhl-Kino. An den Film erinnere ich mich nicht mehr, aber an eine kleine Szene: Zwischen den Dialogen ratterte immer die S-Bahn. Mit Augen und Ohren war man in zwei Welten gleichzeitig. Ich merkte: Das ist jetzt hier eine freie Stadt. Heute schon. Und morgen sowieso.