Organspende: Zum Warten gelistet
In Deutschland war die Organspendebereitschaft noch nie besonders hoch. Nach Manipulationsvorwürfen gegen Transplantationszentren sank sie noch weiter. Leidtragende sind Patienten wie Sebastian Frenzel.
Sebastian Frenzel wartet. Er wartet auf einen, der verstorben ist und sein Leben retten will. Seit einigen Monaten schon liegt der 32-Jährige in einem Doppelzimmer des Paulinenkrankenhauses in Charlottenburg. Wie lange er Zeit hat, weiß er nicht nur dass sein Name auf einer Liste steht - HU-Liste heißt sie. HU steht für High Urgency - Hohe Dringlichkeit. Sebastian Frenzel braucht dringend ein neues Herz, denn sein eigenes ist zu schwach geworden.
In Deutschland gibt es zu wenige Spenderorgane für zu viele Wartende. 2013 wurden bundesweit 313 Herzen transplantiert. Jedoch standen dreimal so viele Patienten auf einer Herz-Warteliste, 107 davon auf der HU-Liste. Die Patienten sind in unterschiedliche Dringlichkeitsstufen eingeteilt. Bis auf wenige Ausnahmen haben nur die hoch dringlich gelisteten (HU)-Patienten die Chance ein Organ zu bekommen. Steht man auf einer Liste mit normaler Dringlichkeit (T = Transplantabel), ist die Chance auf eine Herztransplantation nur sehr gering. Erst wenn sich der Zustand soweit verschlechtert, dass der Patient stationär behandelt werden muss und das eigene Herz nur noch mithilfe unterstützender Medikamente weiter schlägt, wird er HU gelistet.
Sebastian Frenzel hat von den behandelnden Ärzten erfahren, dass die durchschnittliche Wartezeit für ein Herz zwischen sechs und zwölf Monaten beträgt. Ein Durchschnittswert, denn es ist nicht vorhersehbar, wann der Anruf, dass ein Spenderorgan gefunden ist, tatsächlich kommt. Es könnte jeden Tag passieren oder doch länger als ein Jahr dauern. Fest steht, Sebastian Frenzel wird das Krankenhaus ohne ein neues Herz nicht mehr verlassen können. Sein Zustand wird sich nicht mehr bessern.
Es ist Ende Oktober, nachmittags. Draußen wird es langsam dunkel. Sebastian sitzt in schwarzer Baumwollhose und rotem T-Shirt auf seinem Klinikbett, neben ihm ist ein Monitor angebracht, mehrere Kabel, Geräte, Infusionshalter. Gegenüber steht ein Tisch mit zwei Stühlen für Besucher, ein zweites Bett, Schrank. Das war's. An einem Handgelenk trägt er das Patienten-Armband der Klinik, am anderen ein Bändchen vom Elektro-Festival an der Ostsee. Er sieht nicht aus wie ein Schwerkranker. Seine Gesichtsfarbe ist gesund, die Augen hinter den Brillengläsern wach. Doch dass er nicht nach Atem ringend auf dem Rücken liegt, verdankt er einem Medikament, das ihm dauerhaft intravenös verabreicht wird. Dobutamin heißt es, eine Adrenalinart. Es hält sein Herz am Laufen.
Konzentriert spricht er mit lockerem Brandenburger Dialekt über seine Situation. Zwischendurch kommt ein Krankenpfleger, um das Abendessen zu bringen. Man kennt sich. Routiniert stellt sich Sebastian Frenzel einen Salat zusammen, holt Frischhaltefolie aus einer Schublade neben seinem Bett, macht die Folie über den Teller und stellt ihn zur Seite. Die Abendbrotzeit, die das Krankenhaus angesetzt hat, ist ihm viel zu früh.
Beim Warten, sagt er, gebe es gute und schlechte Tage. An den Guten ist er optimistisch, geht im Krankenhausgarten spazieren, setzt eines der vielen Puzzle zusammen, die sich auf der Fensterbank stapeln, und chattet, den Laptop immer in Reichweite, mit Freunden. An den schlechten Tagen kann er nicht aufstehen, selbst zum Lesen ist er dann zu schwach. »Nach einer halben Seite vergesse ich dann einfach, worum es geht, weil ich mich nicht konzentrieren kann.« An den ganz schlechten bezweifelt er, dass er es schaffen wird, die Wartezeit zu überstehen. Wie sich das anfühlt? »Beschissen natürlich.«
Im März, als er das erste Mal für einige Wochen eingeliefert wurde, saß er die meiste Zeit im Krankenhausfoyer und empfing Besucher. Von vormittags bis abends um elf kamen Freunde und Bekannte vorbei. Das, so sagt er, würde er heute körperlich gar nicht mehr schaffen. Außerdem, und das ist vielleicht genauso bitter, ist der Besucherstrom mittlerweile bedeutend kleiner geworden. Von den Kletterkollegen, die er früher mehrmals die Woche gesehen hat, war schon seit einem Monat keiner mehr da. Enttäuscht war er, wie schnell das geht. Dabei hat er doch früher die Wochenendausflüge und Touren organisiert, Jugendtraining gegeben, eine ganze Gruppe Menschen um sich gehabt. Er sagt, für ihn käme es nicht in Frage, jemanden darum zu bitten mal vorbei zuschauen. Wenn es nicht von der Gegenseite kommt, verbietet ihm das der Stolz und außerdem will er niemandem ein schlechtes Gewissen machen. Seinen Eltern, die ihn regelmäßig besuchen, ist er deshalb umso dankbarer. Nicht nur wegen der zwischenmenschlichen Beziehungen ist der Krankenhausaufenthalt eine Belastung.
Ans Bett gebunden sei man, sagt Sebastian. »Manchmal mit einer längeren Leine, manchmal mit einer kürzeren, aber jedenfalls nicht frei.« Er vermisst die Selbstbestimmung, die für gesunde Menschen selbstverständlich ist. Zu entscheiden, was man zu Mittag isst, wohin man geht, wie laut man Musik hört, und auch einfach mal keine Rücksicht nehmen zu müssen. Denn wenn man monatelang einen Raum mit einem anderen Menschen teilt, fällt die Privatsphäre fast vollständig weg. Der Zimmernachbar ist unfreiwilliger Zeuge, sei es bei Familienbesuchen, medizinischen Untersuchungen oder der eigenen Verzweiflung. Nicht mal zum Weinen sei man in einem Zweibettzimmer für sich. »Letztendlich«, sagt Sebastian Frenzel, »ist man nur auf der Toilette alleine und das auch nur, solange man dafür noch keine Hilfe braucht«.
Dass sein Herz nicht ewig halten wird, weiß Sebastian, gebürtig aus Baruth, schon lange. Mit 15 Jahren erkrankt er an einer Entzündung des Herzmuskels. Die führt dazu, dass sich die linke Herzkammer ungesund vergrößert, sie wächst auf neun Zentimeter im Durchmesser - normal sind 5,5. Bei manchen Patienten bildet sie sich wieder zurück nachdem die Muskelentzündung abgeheilt ist. Bei Sebastian Frenzel tut sie das aber nicht.
Trotzdem, eine ganze Weile lebte er gut mit seinem geschwächten Herz - trotz der Asymmetrie und der auf ein Viertel geschrumpften Pumpleistung. Während es manchen schon bei einer Herzleistung von 35 Prozent schwerfällt, ein Stockwerk treppauf zu laufen, hatte Sebastian Glück. Sein Körper konnte die Schwäche seines Herzens lange Zeit gut ausgleichen. Zwar musste er jeden Tag Medikamente nehmen und regelmäßig zur Kontrolluntersuchung, doch abgesehen davon war er fit. Vielleicht sogar fitter als manch anderer ohne Herzprobleme. Von Beruf Buchhalter, schätzt er in seiner Freizeit körperlich anspruchsvolle Sportarten. Steilwandklettern, Bergsteigen und Paragliding sind seine Hobbies. Besonders die Herausforderung, es aus eigener Kraft und eigenem Willen nach oben zu schaffen, reizt ihn. Er sagt, wenn er über den Dingen steht, fühlt er sich frei. Noch im vorigen Sommer ist er auf den Watzmann gestiegen. Der Gipfel des zweithöchsten Berges in Deutschland liegt auf 2713 Metern, unter ihm erstreckt sich der Königssee durch das Berchtesgadener Land.
Mit einer chronischen Herzerkrankung zu leben, bedeutet, alles in Maßen machen zu müssen. Man muss lernen, auf den eigenen Körper genau zu hören und nicht zu übertreiben. »Trotzdem«, sagt Sebastian Frenzel, »habe ich mich durch mein schwaches Herz von nichts abbringen lassen«. Für ihn gibt es deshalb nur wenige Dinge, die er gern noch gemacht hätte, aber nicht getan hat. Rauchen zum Beispiel, in einem Alter, in dem einem die Konsequenzen noch nicht so klar sind. »Doch als meine Schulkollegen damit anfingen, fand ich es viel zu teuer und in meinem jetzigen Zustand wäre es natürlich komplett undenkbar.«
»Schon in den letzten drei Jahren«, erzählt Sebastian Frenzel, »hatte ich immer ein körperliches Tief in der Winterzeit«. Auch 2013 war es so. Als er mit der Familie im Ski-Urlaub war, bekam er erst eine Bronchitis und dann setzte sich ein hartnäckiger Husten fest. Zunächst dachte er sich nichts dabei, doch als er zusätzlich immer schlechter Luft bekam, ging er zum Kardiologen. Der hatte keine Erklärung - im Gegenteil, die Werte seien besser als sonst, meinte er. Der Lungenarzt, den er als nächstes aufsuchte, vermutete Asthma. Doch die Medikamente, die er verschrieb, machten die Atemnot noch schlimmer. Schließlich, Anfang März 2014, ließ er sich von seinen Eltern von der Arbeit abholen und fuhr direkt in die Notaufnahme des Virchow-Klinikums.
»Ich wollte es zuerst nicht wahrhaben und habe noch eine ganze Weile gehofft, es sei etwas anderes.« War es aber nicht. Die Informationen kamen Stück für Stück. Am ersten Tag in der Klinik erfuhr er: Es ist das Herz. Am Zweiten hieß es: Sie müssen wohl transplantiert werden, und am dritten Tag sagten die Ärzte: Wir müssen Sie jetzt auf die HU-Liste setzen. Sachlich-nüchterne Diagnose der Mediziner: Herzinsuffizienz durch eine dilatative Kardiomyopathie.
Die einzige Alternative zu einem Spenderherz wäre für Patienten wie Sebastian Frenzel ein Kunstherz. Das ist eine mechanische Pumpe, die operativ eingesetzt wird und das Herz unterstützt, in einigen Fällen auch ganz ersetzt. Ein Kunstherz hält nicht so lange wie ein echtes Herz, außerdem geht ein Kabel durch die Bauchdecke nach draußen. Diese Stellen können sich leicht infizieren. Bei so jungen, im Grunde gesunden Patienten wie Sebastian Frenzel, würde deshalb so lange wie möglich damit gewartet, ein Kunstherz einzusetzen, sagt Manfred Hummel, Chefarzt im Paulinenkrankenhaus. »Ein Kunstherz würde auch bedeuten, dass er wieder auf die T-Liste rutscht und somit die Chancen auf ein Spenderherz solange wieder sinken, bis es akute Probleme mit dem Kunstherz gibt.« Nur falls Sebastian eine Immunität gegen die Medikamente entwickeln sollte und kein organisches Herz in Sicht ist, würde man ein Kunstherz in Erwägung ziehen.
Anfänglich hat Sebastian sehr oft über den Spender nachgedacht, dem er das Leben verdanken würde - den Menschen, auf dessen Herz er angewiesen ist, und der, wenn für ihn der rettende Anruf kommt, nicht mehr leben wird. »Der Gedanke, da muss jetzt einer sterben, damit du überleben kannst, war schlimm.« Besonders das Wissen, dass die Spender oft in der gleichen Altersgruppe sind, also wie er noch relativ jung und vielleicht mit Familie und geliebtem Partner, habe ihn belastet. Worauf darf man hoffen? Wem ist man etwas schuldig? - Das sind Fragen, die sich viele Wartepatienten stellen. Mittlerweile hat sich Sebastian Frenzel, unterstützt durch eine Psychologin, eine neue Perspektive erarbeitet. »Eigentlich ist es doch so, dass dieser Mensch zu Lebzeiten entschieden hat, dass, falls ihm etwas zustößt, seine Organe ein anderes Leben retten sollen.« Eigentlich ein schöner Gedanke.
Kein Organ ist in unserer Gesellschaft kulturell so aufgeladen wie das Herz. Es ist der Herd der Emotionen, der Liebe, der Sitz der Persönlichkeit. Sebastian Frenzel hat ein pragmatischeres Verhältnis zu der Pumpe im Brustkorb entwickelt. »Letztendlich ist es nicht mehr als ein Muskel, ein sehr wichtiger natürlich«, aber, und jetzt guckt er ein wenig vergnügt, hätten Studien ergeben, dass man auch nach einer Transplantation immer noch die gleichen Menschen gern hat wie zuvor.
Sebastian sagt von sich, dass es ihm schwer fiele, Hilfe von anderen zu akzeptieren. Er ist froh, dass von seinem eigenen Herzen wenigsten die Klappen noch brauchbar sind - die möchte er auf jeden Fall weitergeben, wenn sein Herz ausgetauscht wird.
Man sagt, es sei sehr schwer, eine Organtransplantation alleine zu bewältigen. Sowohl in der Wartezeit, als auch danach braucht es Unterstützung. Sebastian erzählt, neben der Psychologin, dem zuvorkommenden Klinikpersonal, und dem Rückhalt durch seine Familie, hätten ihm auch die Treffen mit Mitgliedern der IOP - der Interessengemeinschaft Organtransplantierter Patienten - geholfen, seine Situation zu akzeptieren. Der Verein veranstaltet im Paulinenkrankenhaus regelmäßige Treffen, zu denen Transplantierte, Wartende und deren Angehörige zusammenkommen. »Ich mache mir ja auch Gedanken über die Zeit nach der Transplantation, wie eingeschränkt ist man mit einem Fremdorgan? Worauf muss man achten? Kann ich weiter klettern und bergsteigen?« Im internationalen Vergleich liegt die Überlebensrate nach einer Herztransplantation nach drei Jahren bei 80 Prozent, nach zehn Jahren immerhin bei 50 Prozent. Aber der Austausch mit den Betroffenen habe ihm gezeigt, dass ein Organ auch weit länger halten kann - wie etwa bei der Vorsitzenden des Vereins Ute Opper, die seit über 20 Jahren gut mit ihrem zweiten Herz lebt. Sebastian Frenzel ist zuversichtlich.
In der Woche zuvor hatte der Bettnachbar von Sebastian Frenzel einen Anruf erhalten. Auch er hatte auf ein Herz gewartet. Nun war eins verfügbar. Sebastian hat darüber nachgedacht, wie er sich fühlte, als der andere in den rettenden OP gebracht wurde, er aber zurück blieb. »Ich freue mich wirklich für ihn. In der Zeit davor hat man schon gesehen, wie er körperlich abgebaut hat. Es wäre für mich viel schlimmer gewesen zuzuschauen, wenn es mit ihm noch weiter bergab gegangen wäre.
Organe Spenden. Organspendeausweise zum selbst ausdrucken gibt es unter organspende-info.de
Hilfe für Betroffene. Die Interessengesellschaft Organtransplantierter Patienten bietet Unterstützung für Wartepatienten, Transplantierte und ihre Angehörigen. Kontakt unter iop-berlin.de
Mehr zum Thema lesen Sie im Magazin für Medizin und Gesundheit in Berlin "Tagesspiegel Gesund - Die besten Ärzte für Herz & Kreislauf".
Weitere Themen der Ausgabe: Sport. Welches Training tut ihrem Herz gut?; Stress kann krank machen - und trifft oft die Armen der Gesellschaft; Cholesterin. Über die guten und schlechten Seiten des Blutfetts; Navigator. Routenplaner zum gesunden Herzen; Bypass-OP. Eine Reportage aus dem Operationssaal; Herztransplantation. Das lange Warten auf den Spender; Lebensrettung. Wie ein Patient einen Herzanfall überlebte; Herzklappen, die man per Katheter durch die Adern schiebt; Herzkatheter. Ein Stent wird eingesetzt; Metabolisches Syndrom. Jugendliche lernen in der Adipositas-Ambulanz, nein zu sagen; Herzreha. Lernziel: Lebensstil radikal ändern; Telemedizin. Wenn der Arzt virtuell zum Hausbesuch kommt; Beininfarkt. Gefäßverschlüsse können gefährlich sein; Krampfadern. Erfolgreich therapieren; Thrombose. Ursachen und Behandlung; und außerdem in übersichtlichen Tabellen: Kliniken und Ärzte im Vergleich
Anna Ilin