Bypass: Auf der Umgehungsstraße
Ablagerungen können die Herzkranzgefäße lebensgefährlich verengen. Ein BYPASS leitet das Blut um die Engstelle herum.
Lange Zeit hat Dieter Stade* den Eingriff vor sich hergeschoben. Denn das ist etwas ganz anderes, als sich den Blinddarm herausnehmen zu lassen: Als das nötig war, vor vielen Jahren, da hat der heute 69-Jährige keine Sekunde gezögert. Was muss, das muss. Stade ist entschlussfreudig, immer schon gewesen, sagt er. Aber eine Operation am Herzen? Da sei Zögern doch normal.
Stade hoffte zunächst auf weniger beängstigende Alternativen, seine Herzschmerzen, die Atemnot und die Enge im Brustkorb zu heilen. Ein Herzkatheter auf einem Führungsdraht in seinen Adern, mit einem aufgesetzten winzigen Ballon an der Spitze. Damit müssten sich doch, wie bei Zehntausenden ähnlich Kranken auch, die zugewucherten Gefäße am Herzmuskel wieder öffnen lassen. Eine vergebliche Hoffnung. »Es war eigentlich von Anfang an klar, dass die Verengungen sich nicht mit einem Ballon würden beheben lassen«, sagt Wolfgang Konertz, Direktor der Klinik für Herzchirurgie der Charité in Mitte.
Üblicherweise greifen Kardiologen tatsächlich zu einem Herzkatheter, um Verengungen in den Herzkranzgefäßen, die die Blutversorgung des Herzmuskels behindern, mit einem Ballon aufzudehnen. Doch oft reicht das nicht oder ist medizinisch nicht empfehlenswert.
Etwa wenn gleichzeitig eine Herzklappe eingepflanzt werden muss. Oder wenn sich wie bei Dieter Stade an allen drei großen Herzkranzgefäßen gefährliche Ablagerungen gebildet haben. In solchen Fällen müssen dann Herzchirurgen wie Wolfgang Konertz ran. Sie öffnen den Brustkorb mit einem Längsschnitt, klappen den knöchernen Schutzschild für die empfindlichen Organe Lunge und Herz auf und setzen eine Kreislaufumleitung an den Pumpmuskel, um die Verengungen zu umgehen - einen Bypass.
Konertz selbst würde eine Bypass-Operation deutlich öfter anwenden, als es derzeit in Deutschland der Fall ist. »Wenn man bei mir verengte Herzkranzgefäße diagnostizierte, dann zöge ich eine Operation mit arteriellen Bypässen einer Ballonaufdehnung auf jeden Fall vor.« Klar, er muss das sagen, schließlich ist genau das sein Job. Aber er sagt noch mehr: »Bypässe sind der Goldstandard: Die verpflanzten Gefäße bleiben länger offen als eine per Katheter geweitete und mit einer Gefäßstütze (Stent) abgesicherte Ader, und die Patienten haben eine bessere Lebensqualität.«
Trotzdem liegt die Zahl der Bypass-Operationen deutschlandweit seit Jahren stabil bei etwa 45.000 Operationen jährlich, während die Zahl der Herzkatheter-Eingriffe stetig steigt. Oft wohl auch, weil die Betroffenen, wenn sie wählen dürfen, sich für die vermeintlich weniger gefährlichen Ballonaufdehnungen entscheiden. Tatsächlich sind die Herz-OPs ein großer Eingriff und die vorübergehenden nachoperativen Schmerzen im Brustkorb unangenehm. Dafür aber habe der Patient danach viele Jahre Ruhe, sagt Konertz. Und er muss nicht sein Leben lang blutgerinnungshemmende Arzneien schlucken, wie es Stentträger tun müssen. Damit werden Blutgerinnsel vermieden, die an der Stütze hängen bleiben und das Gefäß verstopfen könnten.
Warum aber schränkt Konertz seine persönliche Präferenz auf verpflanzte Arterien als Umgehungsstraße ein? »Die Hälfte der Bypässe aus Venen ist nach zehn bis fünfzehn Jahren wieder zu.« Bei Arterien, die das sauerstoffangereicherte Blut zu den Körperzellen transportieren, sind das nur fünf bis zehn Prozent. Allerdings sind für eine Verpflanzung nur bestimmte Schlagadern, etwa aus dem Brustkorb oder dem Unterarm, nutzbar. Das begrenzt die Zahl der verfügbaren Gefäße. Für den Patienten Stade müssen deshalb auch Venen ihren Platz im Körper wechseln. Er benötigt drei Bypässe und hat nicht genug Arterien zur Verfügung.
Die Operation beginnt: Drei Chirurgen stehen am Operationstisch, zwei arbeiten in Stades Brust. Sie tragen Spezialbrillen, mit einer Lampe und mit Lupen, die dreieinhalbfach vergrößern.
Ein weiterer Operateur entnimmt derweil die Venen am Bein. Mehrere winzige Schnittwunden klaffen am linken Unterschenkel des Patienten. Der Operateur muss tief in das über den Beinmuskeln liegende Gewebe schneiden, um die Vene freizulegen. Mit einem kleinen roten Gummi, das um die Vene gefädelt ist, hebt der Mediziner das Gefäß vorsichtig an. Denn die Ader darf nur so selten wie möglich berührt werden, um das Infektionsrisiko auf ein Minimum zu reduzieren.
Schließlich liegt das etwa fünf Millimeter dicke Stück Minischlauch auf dem blauen Operationstuch neben dem offenen Brustkorb von Dieter Stade. Es ähnelt einem Regenwurm, der aus nasser Erde gezogen wurde. Dem etwa 15 Zentimeter langen Stück Beinvene steht nun eine Umschulung bevor. Bald soll sie den Herzmuskel mit Blut versorgen.
Der Arzt spült die Vene durch, indem er mithilfe einer Spritze eine Lösung hindurchdrückt. Er setzt mit einer kleinen Schere einen zwei Millimeter langen Schnitt in das eine Ende der Vene, das er später an eines der zugewucherten Kranzgefäße annähen wird.
Das Arbeitsfeld des Herzchirurgen ist auf den ersten Blick riesig. Der Brustkorb von Dieter Stade wird durch eine Stahlzwinge offen gehalten, aus dem entstandenen Krater wird Blut und Wundflüssigkeit sauber abgesaugt. Freigelegt schlägt darin Stades Herz. Plötzlich steht es still. Gewollt. Der Herzchirurg hat Kalium in die Kranzgefäße des Herzens geleitet. Die Chemikalie unterbricht - grob gesagt - die Weiterleitung der elektrischen Kontraktionsimpulse zu den Herzmuskelzellen. Die rhythmische Pumpbewegung kommt zum Erliegen.
Der Stillstand kommt schnell: vier, fünf kräftige Schläge schafft der Muskel noch. Es folgen noch ein paar kurze Zuckungen in der Peripherie des Organs. Dann liegt es still und zusammengesunken im Brustkorb. Nun kann der Chirurg in Ruhe die winzigen Kranzgefäße operieren. Die Herz-Lungen-Maschine übernimmt in der Zwischenzeit die Aufgabe, den Körper am Leben zu erhalten. Das dunkelrote, kohlendioxidgesättigte Venenblut wird in die Herz-Lungen-Maschine gepumpt und dort mit Sauerstoff angereichert. Anschließend drückt die Maschine das nun hellrote Blut zurück in die Arterien.
Das Gerät besteht aus Flachbildschirmen, Leuchtdiodenreihen, Schalterleisten, jeder Menge durchsichtiger Schläuche, Filtern. So viel Hightech hat ihren Preis. Für eine Herz-Lungen-Maschine muss man so viel zahlen wie für ein Luxusauto: um die 150 000 Euro. Kräftig zupackend greift der Operateur in den geöffneten Brustkorb und hebt den Pumpmuskel ein wenig an. Darunter deponiert er ein Operationstuch, das das Blut und die Wundflüssigkeit der Operation aufsaugt. »Man muss wissen, was man darf und was nicht«, kommentiert Konertz den robusten Umgang seines Mitarbeiters mit dem Organ. »Ich sage meinen Studenten immer: Man muss freundlich zum Herzen sein und man darf keine Angst vor ihm haben.« Auch nach über 35 Jahren als Herzchirurg ist ihm die Ehrfurcht vor diesem besonderen Organ nicht abhandengekommen. »Das ist der Motor des Lebens.«
Bypass-Operationen haben viel mit Zuschneiden und Nähen zu tun. Nach jeder angebrachten Naht prüft der Arzt, ob der aufgesetzte Bypass wirklich dicht auf dem Herzkranzgefäß sitzt. Ein Leck, aus dem Blut austritt, wäre fatal. Dazu wird zum Test eine Kochsalzlösung in die Vene gespritzt. Dicht! Nach knapp 30 Minuten sind die drei Bypässe angenäht: Eine unproblematische Zeitspanne, um das Herz wieder zum Laufen zu bringen. »Mit der Herz-Lungen-Maschine könnte man das Organ bis zu drei Stunden problemlos abschalten«, sagt Konertz.
Medikamente lösen inzwischen das Problem, dass die Herzmuskelzellen auch im Ruhezustand ihre Energiereserven aufbrauchen und deshalb schwerer wieder zum Schlagen zu bringen sind. Vor zehn, zwanzig Jahren war das allerdings noch anders. »So manches Mal haben wir Operateure bei Risikopatienten gebangt, ob das Herz wieder anspringt«, sagt Konertz, der weit über zehntausend Herzen operiert hat. Und manchmal wollte so ein stillgelegter Muskel tatsächlich nicht wieder an die Arbeit. Auch ihm sei das bei Patienten schon passiert. Da half nur noch eine künstliche Pumpe, um die Zeit zu überbrücken, bis das Herz sich wieder erholt hatte.
Doch heute ist das anders. Der Kardiotechniker, der die Herz-Lungen-Maschine im Operationssaal bedient, schaltet die künstliche Beatmung aus und drückt das Blut zurück in die Herzkranzgefäße von Dieter Stade. Das Kalium wird aus den Muskelzellen gespült. Langsam und unkoordiniert beginnt das Herz zu zucken, so als schüttele es sich nach einem langen Schlaf. Dann wird der Schlag kraftvoll, rhythmisch. Die Pumpe hat noch einige Jahre Arbeit vor sich und mit den kleinen Umgehungsstraßen nun auch gute Chancen, dabei ungestört zu bleiben. *Name geändert
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