zum Hauptinhalt

Herz: Ventil auf Draht

Eine neue Herzklappe lässt sich auch einpflanzen, ohne den Brustkorb aufzusägen: an der Spitze eines Katheters.

Sprengung! Revolution! Die Worte fallen oft in dem Gespräch. Ein Gefechtsstand mitten in Berlin? Karl Stangl - wohl fast zwei Meter groß - ist an diesem nieseligen Herbsttag 2014 seit 6 Uhr unterwegs. Auf seinem Schreibtisch klingelt ständig das Telefon. Stangl hört sich knappe Fragen an. Freundlich, aber noch knapper sind seine Antworten.

Nein, Stangl führt keinen Gefechtsstand. Als Kardiologe hat er täglich mit dem als Sprengung bezeichneten Dehnen verkalkter, verengter Herzgefäße zu tun. Und mit Revolution meint er keinen Aufstand, sondern den medizinischen Fortschritt. Stangl geht davon aus, dass Kardiologen selbst bei schweren Herzfehlern bald Chirurgen ersetzen könnten - wenn nur oft genug gelingt, was sein Team auch in den nächsten 40 Minuten wieder erledigen wird.

Die Klappe sitzt. Chefarzt Karl Stangl ist zufrieden.
Die Klappe sitzt. Chefarzt Karl Stangl ist zufrieden.
© Thilo Rückeis

Wie schusssichere Westen hängen vor dem OP-Saal dicke Bleischürzen. Sechs Kilo schwer und abwischbar, wehren sie Röntgenstrahlen ab. Auch Mundschutz und Haube sind vorgeschrieben. Willkommen im Herzkatheterlabor der Charité in Berlin-Mitte.

Im Saal liegt Georg Sellmann* unter Narkose auf dem OP-Tisch. Über Sellmann hängt ein Röntgenkopf, der an eine Dunstabzugshaube erinnert. In kurzen Abständen wird damit sein Oberkörper durchleuchtet. Auf diversen Monitoren am Tisch blinkt es, Geräte piepen. Aus einem kleinen Schnitt in der Leistengegend des Patienten fließen ein paar Tropfen Blut. Sonst ist Sellmann - bis auf den Kopf - komplett mit einem blauen OP-Tuch bedeckt.

»Jetzt geht's los«, sagt Stangl. Dafür, dass zu diesem Zeitpunkt schon ein Zwei-Meter-Schlauch in der Hauptschlagader des Patienten steckt, ist der Chefarzt ziemlich unaufgeregt.

Aber der Reihe nach: Sellmann ist 84 Jahre alt, Nieren und Lunge sind schwach. Als sich einige Wochen zuvor Wasser in seinen Füßen sammelt, wird er komplett untersucht. Dabei entdecken die Ärzte sein schwaches Herz. Die Klappe zwischen Hauptschlagader und linker Herzkammer ist so verengt, dass die Durchblutung stockt. »Wenig später bekam ich einen Termin«, sagt Sellmann. »Am Montag rein ins Krankenhaus, am Dienstag die OP.« Doch eine klassische Operation wird das hier nicht: Brustkorb auf, neue Klappe ins offene Herz gesetzt, Brustkorb zu - das wäre für einen Hochrisikopatienten wie ihn lebensgefährlich.

Wie aber kommen die Ärzte sonst an sein Herz? Dafür brauchen Stangl und sein Team einen Katheter, jenen feinen, aber fast zwei Meter langen Plastikschlauch. Zum Herzen führen Blutbahnen. Am robustesten ist die Hauptschlagader. Einer ihrer Äste geht durch das Becken in die Beine. Dort an der Leiste wird der Schlauch nach einem kleinen Schnitt in die Hauptschlagader geschoben.

Am OP-Tisch steht Michael Laule, auch er ist Kardiologe. Laule hat den Schlauch schrittweise in der Schlagader durch den Bauch bis zum Herzen manövriert. Nun schiebt er durch das Innere des Schlauches noch einen Draht, an dessen Ende die während der Mini-OP benötigten Instrumente montiert sind. Auch das würde Sellmann kaum merken, selbst wenn er bei vollem Bewusstsein wäre: Laule bahnt sich den Weg zum Herzen schließlich über die natürlichen Tunnel im menschlichen Körper - die Adern.

Woher aber weiß der Kardiologe, wohin genau er den Katheter schieben muss? Er sieht die Adern ja nicht, alles spielt sich unter der geschlossenen Bauchdecke ab.

Laule lässt deshalb Kontrastmittel in die Blutbahn spritzen. Gleichzeitig durchdringen die Röntgenstrahlen unbemerkt den Oberkörper, das Kontrastmittel absorbiert die Strahlen, auf den Monitoren wird ein dunkles, pulsierendes Geflecht aus Arterien und Venen erkennbar. Sellman - das erkennen auch Laien - hat eine ungewöhnlich kurvenreiche Hauptschlagader.

in fünf Jahren wurden an der Charité mehr als 1000 dieser Eingriffe durchgeführt. »Wer schwere Vorerkrankungen hat oder oft operiert wurde«, sagt Stangl, »bei dem ist eine OP am offenen Herzen zu riskant.«

Ein Katheterlabor ist Hochtechnologie zur minimalinvasiven Behandlung von Herzerkrankungen, die ihren Preis hat. Bis zu drei Millionen Euro kostet eine komplette Station. »Bei uns müssen die Patienten aber während des Eingriffs nicht an die Herz-Lungen-Maschine«, erklärt Stangl. »Und danach liegen sie auch nur kurz auf der Überwachungsstation.« Das hören auch Krankenkassen gern: Sparen durch High-Tech.

Aus der linken Herzkammer wird das Blut durch den ganzen Körper gepumpt. Sie muss mehr Druck erzeugen als die rechte Kammer und nimmt deshalb öfter auch Schaden durch Überforderung, zum Beispiel weil Blut durch eine undichte Herzklappe wieder zurückströmt.

Etwa 25 Millimeter breit ist die Ventilklappe zwischen linker Herzkammer und Hauptschlagader - da muss das Blut mit einer Geschwindigkeit von einem Meter pro Sekunde durch. Weil das im Laufe eines Lebens viel Durchfluss ist, setzen sich dort wie in einem schlammigen Flussbett oder einem rostigen Wasserhahn viel Kalk und Gewebe ab.

Bei vielen Über-80-Jährigen kommt nicht mehr genügend Blut durch die Klappe. Begünstigt werden Verkalkungen durch fettes Essen und Rauchen. Chefarzt Stangl aber ist kein Moralprediger: »Wir werden im Schnitt immer älter - und das hat seinen Preis. Gelenke verschleißen, Nerven leiden und Gefäße verstopfen. Aber die Leute sollen ja ihr Leben leben!«

Oberarzt Laule hat die enge Herzklappe inzwischen »gesprengt«. Am Kopf seines Katheterdrahtes hat er einen Ballon aufgeblasen, das alte Gewebe gespreizt. Nun ist Platz für eine Kunstklappe - die gar nicht so künstlich ist: Das neue Körperteil wird aus dem Herzbeutel eines Tieres gewonnen. Im Fall von Sellmann stammt das Gewebe vom Schwein, genauso gut wäre aber Rind. In Handarbeit wurde die gereinigte und von den alten Zellen des Tieres befreite Knorpelhaut zur Herzklappe umgenäht. Damit die Klappe stabil in der Ader sitzen wird, ist sie in ein röhrenförmiges Edelstahlnetz gespannt worden.

Biologische Klappen gibt es in verschiedenen Größen, schließlich haben Menschen unterschiedliche Staturen. An diesem Tag ist die Klappe fünf, sechs Zentimeter lang und fast drei Zentimeter breit. Kann ein so großes Implantat in einer Ader bis zum Herzen geschoben werden?

Nicht ganz. Eine Krankenschwester dreht die vom Edelstahldraht umrollte Kunstklappe ein. Immer wieder taucht sie das 13.000-Euro-Produkt in Eiswasser: Das Material soll sich zusammenziehen. Nach zwei, drei Minuten ist die Klappe nur noch sechs Millimeter breit. Nun ist das Implantat klein genug, um es durch den Katheterschlauch zum Herzen zu schieben.

Auf dem Röntgenmonitor ist zu sehen, dass sich die Edelstahl-Schweinehaut-Klappe wie in Zeitlupe durch die Schlagader bewegt. Die meisten Patienten würden das immer noch nicht spüren. »Trotz aller Mythen«, sagt Stangl, »haben wir ausgerechnet im Herzen kaum Nerven.«

Aber das Herz bewegt sich ständig. Oberarzt Laule lässt deshalb den Herzschlag durch einen Schrittmacher auf 190 Schläge pro Minute erhöhen. Nur dann hört das Herz von selbst kurz zu pumpen auf. Jetzt stören die natürlichen Kontraktionen nicht mehr, jetzt kann er die neue Klappe absetzen - und zwar genau dort, wo zuvor die verkalkte Naturklappe aufgesprengt wurde.

Langsam zieht Oberarzt Laule einen Ring vom zusammengepressten Edelstahlgitterchen ab - die gedrehte Klappe spannt sich wie ein Regenschirm auf. Sie spreizt das Blutgefäß und drückt sich an der Innenwand der Ader fest. Ein, zwei, drei Herzschläge später und durch Sellmanns Kammer wird doppelt so viel Blut gepumpt wie noch kurz zuvor. Laule zieht den Schlauch aus der Ader, der Schnitt in der Leiste wird vernäht, Sellmann nach nicht mal einer Stunde wieder in ein Krankenzimmer geschoben.

»Gemerkt habe ich nichts«, sagt Sellmann am Tag danach bei einer Tasse schwarzem Tee. Die Bioprothese in seinem Herz hält sechs, sieben Jahre. Mehr als 95 Prozent der Patienten überstehen den Eingriff problemlos. In der Charité stehen aber vorsichtshalber ein Chirurg und eine Herz-Lungen-Maschine bereit. »Wir sind gut, aber wenn doch etwas schief geht«, sagt Stangl, »brauchen wir schnell und umfangreich Hilfe.«

Bis vor kurzem war die offene OP Standard. Jüngeren Menschen mit geringem Risiko wird der Brustkorb noch immer nur dann nicht aufgeschnitten, wenn sie dezidiert nach der Katheter-Methode fragen. Stangl sagt zuversichtlich: »In fünf Jahren ist der Kathetereingriff die Standardmethode.«* Name geändert

Mehr zum Thema lesen Sie im Magazin für Medizin und Gesundheit in Berlin "Tagesspiegel Gesund - Die besten Ärzte für Herz & Kreislauf".

Weitere Themen der Ausgabe: Sport. Welches Training tut ihrem Herz gut?; Stress kann krank machen - und trifft oft die Armen der Gesellschaft; Cholesterin. Über die guten und schlechten Seiten des Blutfetts; Navigator. Routenplaner zum gesunden Herzen; Bypass-OP. Eine Reportage aus dem Operationssaal; Herztransplantation. Das lange Warten auf den Spender; Lebensrettung. Wie ein Patient einen Herzanfall überlebte; Herzklappen, die man per Katheter durch die Adern schiebt; Herzkatheter. Ein Stent wird eingesetzt; Metabolisches Syndrom. Jugendliche lernen in der Adipositas-Ambulanz, nein zu sagen; Herzreha. Lernziel: Lebensstil radikal ändern; Telemedizin. Wenn der Arzt virtuell zum Hausbesuch kommt; Beininfarkt. Gefäßverschlüsse können gefährlich sein; Krampfadern. Erfolgreich therapieren; Thrombose. Ursachen und Behandlung; und außerdem in übersichtlichen Tabellen: Kliniken und Ärzte im Vergleich

Zur Startseite