Wissen: Zentrum göttlicher Kraft
Lebenswichtig sind viele Organe. Auch ohne die Leber oder die Nieren kann ein Mensch nicht weiter leben. Trotzdem ist es das Herz, um das sich die meisten Mythen ranken.
Man sieht nur mit dem Herzen gut«, ein »Herzloser Mensch«, eine »Herzensangelegenheit«, »Jemanden in sein Herz schließen«, ein »Löwenherz haben« - die Liste der Metaphern und Sprichwörter über das Herz und mit ihm ist lang. Obwohl das Herz aus medizinischer Sicht in erster Linie ein Hohlmuskel ist, der Blut bewegt, ist unser Bild vom Herzen doch deutlich vielseitiger. »Der Herzschlag ist das am deutlichsten spürbare Zeichen des Lebens«, sagt Claudia Jarzebowski, Juniorprofessorin für Historische Emotionenforschung an der FU-Berlin. Insofern sei es nicht so ungewöhnlich, dass von allen Organen gerade das Herz im Zentrum vieler Kulturen steht. Allerdings habe sich die Bedeutung des Herzens und die Vorstellungen, die sich darum ranken, im Laufe der Geschichte oft gewandelt.
♥ als Sitz der Persönlichkeit
In der Vorstellung vieler Kulturen war das Herz sowohl der Sitz des Verstandes als auch der Emotionen. Im alten Ägypten vor 4000 Jahren zum Beispiel bildete das Herz so etwas wie das organisierende Zentrum der Persönlichkeit. Ohne ein »festes« Herz, so sagte man damals, zerfiele das Selbst in Einzelteile. Noch nach dem Tod war es für die Ägypter deshalb extrem wichtig, das Herz mithilfe von Riten an seinem Platz zu halten. Dafür wurde es aufwändig einbalsamiert und an der ursprünglichen Körperstelle in der mumifizierten Leiche befestigt. Alle anderen Organe wurden dagegen aus der Körperhöhle entfernt und separat bestattet. Als diese Methode noch nicht bekannt war, war es auch üblich, dem Leichnam einen Herzersatz beizulegen, etwa einen Herzskarabäus.
Für den Taoismus aus dem alten China des 5. vorchristlichen Jahrhunderts ist das Herz ebenfalls zentral. Genau wie bei den Ägyptern ist es sowohl für die verstandesmäßigen, als auch die emotionalen Funktionen zuständig. Der grundlegende Text des Taoismus, das Taoteking, auch Daodejing genannt, lehrt, wie man ein gutes und edles Herz erlangt und ist vielleicht eine der ersten Lehren des Herzens. Es besagt, dass bestimmte Tugenden kultiviert werden sollten, so zum Beispiel Bescheidenheit und Genügsamkeit, damit sich das Herz entfalten kann.
Um den Herzenskult der Azteken, die vor der Kolonialisierung durch die Europäer Anfang des 16. Jahrhunderts weite Teile des heutigen Mexikos beherrschten, kursieren viele brutale Geschichten. Fest steht, dass auch sie das Herz als ein zentrales Organ ansahen, das den Menschen erst lebendig macht. Die Standardwerke über die Azteken stammen vom spanischen Ethnologen und Missionar Barnardino de Sahagún. Er beschreibt brutalste Herzopferriten. Kriegsgefangene seien auf die große Opferpyramide Mexico-Tenochtitlan gebracht worden, wo ihnen bei lebendigem Leib mit einem Steinmesser die Herzen herausgeschnitten wurden. Solange sie noch schlugen, wurden sie dem Sonnengott als Gabe hingehalten. Allerdings gehen neuere Forschungen davon aus, dass die Europäer bei ihrer Beschreibung der Rituale gewaltig übertrieben haben. Vielmehr als um eine präzise Beschreibung ging es ihnen darum, durch die Dämonisierung der Azteken Unterstützung und Legitimierung aus Europa für das seinerseits brutale Kolonialisierungsprojekt zu erhalten.
♥ als Sitz Gottes
Im europäischen Mittelalter war die Vorstellung vorherrschend, dass das Herz ein quasi-autonomer Bestandteil des Körpers ist, der in spiritueller Verbindung zu Gott steht. »Es gab die Idee, dass in einem etwas lebt, was nicht richtig zu einem gehört und eine eigene Existenz führt«, sagt Emotionenforscherin Claudia Jarzebowski. Das empfanden die Menschen als äußerst tröstlich. So konnte man das Herz etwa um Hilfe bitten, wenn eine Gefahr auftauchte und ungeahnte Kräfte daraus schöpfen.
Diese Eigenständigkeit des Herzens zeigt sich auch in einer überlieferten Ansprache der englischen Königin Elisabeth I. an ihre Soldaten. Vor dem Angriff gegen die spanische Armada 1588 rief sie ihnen zu: »Ich weiß, ich bin nur eine schwache Frau, aber ich habe Herz und Magen eines Königs, eines englischen noch dazu«.
Das Herz, als wichtigster Teil des Körpers, wurde denn auch oft separat vom restlichen Körper bestattet. Die sogenannten Herzbestattungen betrafen vor allem Herrscher und höhere Mitglieder der Gesellschaft. Während ihr Körper am Sterbeort beigesetzt wurde, wurde das Herz oft zurück in den Heimatort überführt. Dort wurde es in einem besonderen Gefäß konserviert und gut geschützt, um sicher zu gehen, dass es nicht gestohlen oder geschändet wurde. Auch der Altar der von Karl Friedrich Schinkel erbauten Kirche in Neuhardenberg bei Berlin beherbergt die Ruhestätte eines Herzens. Das Organ stammt von Karl-August Fürst von Hardenberg (1750-1822), einem preußischen Staatskanzler und Reformer.
Überhaupt nahm das Herz eine wichtige Stellung in der Herrschaftsmetaphorik ein. So galt der König als das Herz des Volkes. Falls es eine katholisch geprägte Gegend war, nahm allerdings der Papst diese Stellung ein. Dann wurde der König zum weltlichen »Kopf« des Landes und bildete mit dem Papst zusammen eine eigenständige Einheit.
♥ als biologisches Zentrum des Körpers
Lange Zeit war in Europa die Säftelehre oder Humoralpathologie vorherrschend. Ein physiologisches Konzept dieser Lehre geht zurück auf den griechischen Arzt Galenus von Pergamon, der von etwa 130 bis 200 n. Chr. lebte. Volker Hess, Leiter des Instituts für Medizingeschichte der Charité, erklärt, dass laut Galenus das Blut in der Leber produziert und von dort in das Herz geleitet wird. Dort würde es veredelt und mit belebenden Kräften - »spiritus« - aufgeladen. Außerdem stellte er sich das Herz als eine Art Heizung vor, die verantwortlich für die Körperwärme und Vitalität ist. Männliche Herzen waren in dieser Vorstellung natürlich noch wärmer als weibliche, da Männern mehr Lebenskraft zugesprochen wurde als Frauen.
In China beschrieben Gelehrte das Herz schon etwa 2000 v. Chr. als Pumpe, die unter anderem den Pulsschlag produziert. In Europa wird diese Metapher erst in der Renaissance zum ersten Mal benutzt.
Andreas Vesalius (1514-1564) war ein wichtiger Kritiker der galenischen Physiologie. Als einer der ersten bestand er darauf, dass die Autopsie von Schweinen und anderen Tieren nicht ausreichend war, um Informationen über den menschlichen Körper zu erhalten. »Autopsie« - bedeutet wörtlich ich-sehe-selbst. »Und genau das setzte er durch: den menschlichen Körper mit eigenen Augen anzuschauen«, sagt Medizinhistoriker Hess. Sein Meisterwerk, die »De humani corporis fabrica. Libri septem« publizierte Vesalius im Jahre 1543 in Basel und begründete damit die moderne Anatomie. Darin enthalten sind auch neue Erkenntnisse über die Organe. So bewies Vesalius, dass die Herzwand nicht durchlässig war, wie es Galen angenommen hatte. Dennoch glaubte auch Vesalius feinste Poren in der Herzwand gesehen zu haben, die den von Galen geforderten Durchtritt des Blutes von der rechten in die linke Herzkammer ermöglichten.
Insgesamt werden im 16. Jahrhundert immer neue Erkenntnisse über die Funktionsweise des Herzens bekannt. Leonardo da Vinci (1452-1519) bezeichnet das Herz als Pumpe und der Spanier Miguel Serveto (1509-1553) beschreibt den Lungenkreislauf. William Harvey (1578 - 1657) schließlich entwickelte eine Theorie vom Blutkreislauf. Er führte verschiedene Experimente durch und argumentiert, dass das Blut, nicht wie bis dahin angenommen in den Peripherien des Körpers verbraucht wird, sondern wieder zurück fließt. »Man muss vor allem verstehen, was für einen Schock diese Verwissenschaftlichung des Herzens ausgelöst hat«, sagt die Historikerin Claudia Jarzebowski. Auf einmal war es sehr schwierig, die Vorstellung aufrecht zu erhalten, das Herz sei ein eigener kleiner Schutzraum im Körper. Auch, dass es die Wohnung Gottes war, war schwerlich zu behaupten, funktionierte es doch anscheinend ganz unabhängig von göttlicher Kraft. »Das hat eine ganze Weile gedauert, das kulturell zu verarbeiten und vielleicht ist es immer noch nicht ganz verwunden«, sagt Jarzebowski.
♥ als Sitz der Liebe
Das Herz und die Liebe sind in unserer heutigen Symbolik untrennbar miteinander verbunden. Teilweise geht diese Vorstellung zurück auf die höfische Ritterkultur des 12. Jahrhunderts - damals kam das Ideal einer platonischen Liebe auf, bei der sich der Ritter dem Willen der Dame unterwirft. Da diese edle Form der Liebe niemals körperlich vollzogen werden durfte, spielte der Reiz des Verbotenen, Außerehelichen eine große Rolle.
Für die Verbreitung der Rittergeschichten waren die Troubadoure, in Deutschland als Minnesänger bekannt, zuständig. Ein beliebtes Motiv, welches sie in unterschiedlichen Variationen immer neu erzählten, war das der Ehefrau, die das Herz ihres Liebhabers verspeist. Weil der Ehemann bemerkt, dass seine Frau ihr Herz an jemand anderen verschenkt hat, tötet er den Konkurrenten und lässt die Frau das Herz unwissentlich verzehren. Danach sagt er ihr die Wahrheit, worauf sie sich verzweifelt aus dem Fenster stürzt.
Die romantische Liebe modernen Zuschnitts wurde allerdings erst im 18. Jahrhundert erfunden. Das Ideal, dass eine Partnerschaft frei von anderen Beweggründen außer eben der Liebe besteht, findet zu der Zeit seinen Weg in die bürgerlichen Denkmuster.
Heute wird besonders das Herzsymbol maximal kommerziell verwertet - und damit zu einem profanen Gebrauchsgegenstand. So ist es aus dem Kitsch der Werbeindustrie, dem Spielzeug mit rosafarbenen Herzchen und natürlich der vollständigen Verwertungskette rund um das Thema Liebe, wie Valentinstagsgeschenke, Pärchenhotels und Flirtparties, nicht mehr wegzudenken. Sogar der Kleine Prinz, der den Spruch prägte, dass man nur mit dem Herzen gut sehe, ist mittlerweile zu einem Freizeitpark umfunktioniert worden.
Mehr zum Thema lesen Sie im Magazin für Medizin und Gesundheit in Berlin "Tagesspiegel Gesund - Die besten Ärzte für Herz & Kreislauf".
Weitere Themen der Ausgabe: Sport. Welches Training tut ihrem Herz gut?; Stress kann krank machen - und trifft oft die Armen der Gesellschaft; Cholesterin. Über die guten und schlechten Seiten des Blutfetts; Navigator. Routenplaner zum gesunden Herzen; Bypass-OP. Eine Reportage aus dem Operationssaal; Herztransplantation. Das lange Warten auf den Spender; Lebensrettung. Wie ein Patient einen Herzanfall überlebte; Herzklappen, die man per Katheter durch die Adern schiebt; Herzkatheter. Ein Stent wird eingesetzt; Metabolisches Syndrom. Jugendliche lernen in der Adipositas-Ambulanz, nein zu sagen; Herzreha. Lernziel: Lebensstil radikal ändern; Telemedizin. Wenn der Arzt virtuell zum Hausbesuch kommt; Beininfarkt. Gefäßverschlüsse können gefährlich sein; Krampfadern. Erfolgreich therapieren; Thrombose. Ursachen und Behandlung; und außerdem in übersichtlichen Tabellen: Kliniken und Ärzte im Vergleich
Anna Ilin