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17,8% der Männer litten unter Erektionsstörungen, die länger als 6 Monate andauerten und einen hohen Leistungsdruck auslösten.
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Mann: Messlatte der Gesundheit

Erektionsstörungen kratzen am Selbstbewusstsein. Die Ursachen sind meist psychisch. Aber manchmal sind die Probleme auch Vorboten einer schweren Erkrankung.

Wie fängt man so ein Gespräch an? Keine schlüpfrigen Witze, sagt der Arzt. Das ginge in diesem Falle nach hinten los. Am besten sachlich mitten hinein ins Thema, das für Männer derart mit Tabus belegt ist: »Wie hart wird er denn?«, fragt der Mediziner. Wir befinden uns im Behandlungsraum von Wolfgang Harth, Chefarzt der Hautabteilung am Vivantes Klinikum Spandau, und als Androloge auf die Behandlung von Erektionsstörungen spezialisiert. Gestellt hat er die Frage an Horst Walther*, seinen Patienten. Der soll die Härte seines erigierten Penis benennen - anhand von vier kleinen blauen und verschieden festen Schaumstoffknöpfen, die in Reihe auf eine Plastikplatte geklebt sind. Der hellblaue Schaumstoff an der einen Seite ist weich wie ein nasser Schwamm, der dunkelblaue an der anderen Seite hat den Härtegrad vier, hart wie ein prall aufgepumpter Fahrradschlauch. Walther befühlt kurz die Schaumstoffpolster. »Am Anfang ist er so wie Grad drei, aber nach zwei Minuten erschlafft alles.«

Seit vier Jahren ist der 64-Jährige mit seiner neuen Lebensgefährtin zusammen, nachdem seine Ehefrau verstorben war. Am Anfang sei auch sexuell alles »gut gelaufen« erzählt er, doch vor einem Jahr seien sie zusammengezogen. Und seitdem will sein Penis nicht mehr so, wie es Horst Walther will. Ein Jahr lang versuchte er damit zu leben, dachte, das wird schon wieder. Doch es wurde nicht wieder. Irgendwann hatte er gar keine Lust mehr auf Sex, aus Angst, erneut zu versagen. »Ich habe meine Freundin gefragt, ob es ausreicht, wenn wir uns küssen und kuscheln«, sagt Walther. Offensichtlich war sie von dieser Aussicht nicht recht begeistert. So dass er sich schließlich aufraffte und sich von seinem Hausarzt an den Andrologen Wolfgang Harth überweisen ließ.

Bis zu diesem Entschluss hatte Walther die typische Abwärtsspirale aus Versagensangst, Selbstbeobachtung und schließlich realem »Versagen« durchlaufen. Wenn es ein paar Mal mit der Potenz nicht funktioniert, denkt der Mann beim Sex nur noch über seinen Penis nach. »Klappt es diesmal oder lässt ER mich wieder im Stich?« Und je mehr der Mann auf die rein physische Funktionsweise seines eigenen Körpers fixiert ist, desto weniger funktioniert der.

Wolfgang Harth ist Chefarzt der Abteilung für Hautkrankheiten am Vivantes Klinikum Spandau und als Androloge auch auf die Behandlung von Erektionsstörungen spezialisiert.
Wolfgang Harth ist Chefarzt der Abteilung für Hautkrankheiten am Vivantes Klinikum Spandau und als Androloge auch auf die Behandlung von Erektionsstörungen spezialisiert.
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Wolfgang Harth hat schon viele Patienten gesehen wie Horst Walther. Und auch wenn sich nach dem ersten Gespräch bereits abzeichnet, dass die Psyche bei den Potenzproblemen wohl die entscheidende Rolle spielt, so könnten doch organische Ursachen ebenso beteiligt sein. Denn Walther erfüllt die Voraussetzungen dafür: Er hat offensichtlich starkes Übergewicht, er ist Diabetiker, über 60 Jahre alt und ein Bewegungsmuffel. Alles typische Risikofaktoren - weitere wären zum Beispiel Bluthochdruck oder Alkoholismus -, die den Prozess der Erektion, bei dem die Schwellkörper des Penis mit Blut gefüllt werden, erschweren können. Und die Abklärung möglicher organischer Ursachen hat noch einen weiteren Grund. Denn inzwischen ist klar, dass eine Potenzstörung auch als früher Vorbote einer schweren Erkrankung auftritt. »Es kann ein erstes Warnsignal sein, dass einige Jahre später eine Herzerkrankung und sogar ein Infarkt droht«, sagt Harth.

Und deshalb muss jetzt auch Horst Walther in den Diagnostikdurchlauf - und hofft dabei wie meisten betroffenen Männer, es möge doch bitte ein körperliches Problem sein, das sich mit einem Arzneimittel schnell beheben lässt. Welcher Mann ist schon auf eine möglicherweise jahrelange Psychotherapie erpicht, um irgendwann mal wieder unbeschwerten Sex haben zu können. »Eine jahrelange Therapie wäre aber auch bei vielen Betroffenen übertrieben«, sagt Chefarzt Harth. Bei einigen reichten schon ein paar Gespräche mit dem Therapeuten, um wieder auf dem richtigen Gleis zu sein. Deshalb gehören zum diagnostischen Instrumentarium auch Fragebögen zur Selbsteinschätzung.

Dort finden sich Aussagen, die mit einer bestimmten Punktezahl verbunden sind. Zum Beispiel Sätze wie diese: »Ich sehe mutlos in die Zukunft«, »Ich habe das Gefühl, als Mensch ein völliger Versager zu sein« oder »Ich erwarte, bestraft zu werden«. Der Hintergrund solcher Fragen? »Oft steckt hinter einer Potenzstörung eine handfeste Depression des Mannes«, sagt Harth. Doch diese Diagnose steht bei Horst Walther jetzt noch nicht an. Zunächst geht es um einige Tests, mit denen physische Malaisen ausgeschlossen werden sollen. Zum Beispiel die Größe der Hoden. Harth zeigt eine Kette, an der der Größe nach geordnet bunte Holzeier aufgezogen sind. Von rot für XXL über blau und grün für durchschnittliches L und M bis hin zu gelb für S. »Die Größe der Keimdrüsen gibt Hinweise auf die Testosteronproduktion. Je größer sie sind, desto mehr des männlichen Sexualhormons produzieren sie.«

Allerdings ersetzt der vergleichende Blick auf die Holzeier nicht die Analyse des Blutes auf den Testosterongehalt, der über die sexuelle Lust und das Erektionsvermögen mitentscheidet. »Morgens vor 11 Uhr ist der Hormonspiegel üblicherweise am höchsten«, sagt Harth. »Deshalb haben viele Männer morgens spontane Erektionen und mehr Lust auf Sex.« Deshalb hat auch Walther an diesem Morgen schon eine Blutprobe abgeben müssen.

Allerdings ist diese Sicht auf das Testosteron unter Andrologen durchaus umstritten. Während die einen, wie Wolfgang Harth, einen direkten Zusammenhang zwischen dem Testosteronspiegel und der männlichen Libido sehen, bezweifeln andere dies (siehe Seite 73).

Nach der Blutabgabe für die Analyse des Testosterons beginnt für Horst Walther der aufwendigste und wohl für die meisten Männer unangenehmste Teil der Diagnostik: die Ultraschalluntersuchung der Schwellkörper oder, wie Mediziner sagen, die Pharmakoduplex-Untersuchung. Dafür gibt es einen besonderen Raum. Draußen an der Tür hängt ein Zettel mit der Warnung: »Untersuchung läuft gerade. Eintritt bitte nur nach ausdrücklicher Aufforderung.« Das soll vor unerbetenen Blicken in einem intimen Augenblick eines Mannes schützen. Jetzt muss der Patient die Hose herunterlassen. Der Arzt injiziert direkt in den Penisschaft ein Medikament, das umgehend eine Erektion auslöst. »Die Spritze merkt man fast gar nicht«, sagt Horst Walther erleichtert. Das liegt daran, dass im Schaft des Penis nur wenige Nerven verlaufen.

Kurz danach liegt Walther auf der Untersuchungsliege. Er hat eine Erektion - und drei Ärzte stehen um ihn herum, die Fragen stellen, den Ultraschallkopf an das Glied halten, die flimmernden Bilder auf dem Monitor kommentieren. »Deutlicher Blutfluss, gut gefüllte Schwellkörper.« Unter solchen Umständen wären wohl nur wenige Männer erregt. Auch Horst Walther ist es nicht. Es ist nur das Medikament, das das Blut in seinen Penis zwingt.

Der Instrumentenkasten des Andrologen gäbe noch mehr an interessanten Gerätschaften her, den Rigiscan zum Beispiel. Dabei wird mit zwei ringförmigen Sensoren über dem Penis die Stärke und Frequenz der nächtlichen Erektionen gemessen.

Aber das ist bei Horst Walther nicht mehr nötig, der Befund ist jetzt schon klar. Gäbe es ein körperliches Problem, hätte selbst die Spritze nicht so eine Reaktion erzwingen können. »Alles in Ordnung, Herr Walther«, sagt Chefarzt Harth. »Wir sollten einen neuen Termin ausmachen für ein Gespräch.«

Damit ist Walther einer von den vielen Männern, bei denen die Potenzstörungen psychischer Natur sind. Nähe-Distanz-Probleme in der Partnerschaft zum Beispiel, frühe Missbrauchserfahrungen, Depressionen, Versagensängste und vieles mehr, was einen Mann fertigmachen kann, sind oft die Ursache. Die meisten möchten aber unter keinen Umständen darüber reden. »Organisch ist alles gesund, das zwingt zum Umdenken«, sagt Harth.

Aber nicht nur der Instrumentenkasten zur Diagnostik ist mittlerweile gut gefüllt, sondern auch der mit den Behandlungsmöglichkeiten (siehe Seite 55). Im besten Sinne also: Symptombekämpfung, ohne die Ursache zu beseitigen. Denn das kann schon der entscheidende Schritt sein, um aus dem Teufelskreis aus Versagensangst und tatsächlichem Versagen auszubrechen. Wer sich darauf verlassen kann, dass Pille, Zäpfchen oder Spritze »ihn schon wieder hochkriegen«, achtet nicht mehr auf den eigenen Penis, sondern auf das, was eine Beziehung wirklich bestimmt: die Fähigkeit, sich aufeinander einzulassen. »Die Härte des Penis ist nicht die Messlatte für eine gute Partnerschaft«, sagt Wolfgang Harth.

Und hat, wahrscheinlich völlig unbeabsichtigt, nun doch einen zweideutigen Witz gerissen.

Suche im Internet
Auf der Suche nach einem geeigneten Sexualtherapeuten hilft die Deutsche Gesellschaft für Sexualmedizin, Sexualtherapie und Sexualwissenschaft (DGSMTW), die ein Verzeichnis mit Sexualtherapeuten führt. Als Qualifikationsmerkmal für diese Ärzte gilt die Zusatzbezeichnung Sexualmedizin. Die Gesellschaft im Internet: dgsmtw.de

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