Frau: "Das ist falsch verstandene Emanzipation
Frauen und Männer sind verschieden - auch gesundheitlich. Die Gendermedizinerin Natascha Hess über die kleinen, aber bedeutenden Unterschiede.
Frau Hess, werden Männer und Frauen unterschiedlich krank?
Ja, mittlerweile können wir mit Sicherheit sagen: Männer und Frauen unterscheiden sich in vielen Krankheiten. Und zwar sowohl, was die Erkrankungen an sich angeht, als auch hinsichtlich Symptomen, Häufigkeit von Erkrankungen sowie dem Zeitpunkt einer Erkrankung. Ein sehr deutliches Beispiel hierfür finden wir in der Kardiologie: Jahrzehntelang galten Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems wie etwa Herzinfarkte als reine Männerkrankheiten. Mittlerweile ist klar: Genauso viele Frauen erleiden Infarkte. Allerdings treten diese bei ihnen etwa sechs bis acht Jahre später auf als bei Männern. Sprich: Während Männer meist ab Ende 40 Herzinfarkte erleiden, treten Infarkte bei Frauen gehäuft erst mit Mitte, Ende 50 auf. Frauen zeigen bei der Diagnosestellung dann auch meist andere Symptome, zudem ist der erste Infarkt bei ihnen statistisch gesehen tödlicher als bei Männern. Dies ist unter anderem durch das höhere Alter bedingt: Frauen leiden zu diesem Zeitpunkt häufiger unter Nebenerkrankungen wie etwa Diabetes. Außerdem leben sie bei ihrem ersten Infarkt häufiger alleine, weil ihr Mann bereits gestorben ist - und somit niemand da ist, der den Notarzt alarmieren könnte. Übrigens sind es auch zu mehr als 90 Prozent Frauen, die in einer extremen Stresssituation wie einem familiären Todesfall eine akute Herzschwäche erleiden: das sogenannte Broken-Heart-Syndrom, oder auch Tako-Tsubo-Kardiomyopathie, dessen Symptome denen eines Infarktes ähneln und das auch ähnlich lebensbedrohlich ist. Warum dieses Syndrom vor allem Frauen betrifft, ist jedoch nach wie vor ungeklärt.
Wie sieht es bei anderen Erkrankungen jenseits des Herz-Kreislauf-Systems aus?
Auch hier gibt es sehr große Unterschiede. So sind beispielsweise von Autoimmunerkrankungen der Schilddrüse wie der Hashimoto-Thyreoiditis oder rheumatischen Erkrankungen zu gut 90 Prozent Frauen betroffen. Eine Erklärung gibt es dafür bisher nicht. Schlimmer noch: Es scheint die Forschung bisher einfach nicht interessiert zu haben, warum es diese Unterschiede gibt, sie wurden einfach so hingenommen. Genauso, wie die Osteoporose-Forschung jahrelang die Männer vernachlässigte und Studien vor allem mit Frauen durchführte. Dabei betrifft diese orthopädische Erkrankung natürlich auch Männer. Bei anderen Krankheiten, zum Beispiel Fettstoffwechselstörungen, Bluthochdruck und auch Diabetes ist das Geschlechterverhältnis übrigens anscheinend ausgeglichen.
Wie verhält es sich bei psychischen Erkrankungen?
Es ist ein offenes Geheimnis, dass derzeit beispielsweise Depressionen zu 90 Prozent Frauen betreffen, wie fast alle psychischen Erkrankungen, die mit Störungen des Gefühlslebens einhergehen. Dies muss man natürlich hinterfragen: Solche affektiven Störungen werden Männern in unserer Gesellschaft meist schlicht nicht zugebilligt. Sie leiden natürlich genauso unter Depressionen, outen sich jedoch weniger, zudem zeigen sie meist andere Symptome: Während Frauen sich zurückziehen, treten Männer nach außen häufig aggressiver auf. Eine Diagnose wie Burn-out kann in manchen Fällen möglicherweise wie ein Alibi für Männer sein, die eigentlich unter einer Depression leiden.
Ist es auch ein unterschiedlicher Lebensstil, der zu solchen unterschiedlichen Erkrankungen führt?
Natürlich, der Lebensstil schlägt sich ja immer in der Gesundheit eines Menschen nieder - und in diesem Punkt sind Männer und Frauen eben nach wie vor unterschiedlich. So kommt der Frau ja auch heute noch die Rolle der sich kümmernden Mutter zu, die die Familie vielleicht nicht finanziell, aber in allen anderen Bereichen versorgt. Das führt dazu, dass Frauen - obwohl sie bei der Vorsorge führend und Männer in diesem Bereich eher die Präventionsmuffel sind - im Ernstfall beispielsweise vor Krankenhausaufenthalten zurückschrecken, obwohl diese nötig sind. Sie wollen oft schlicht die Familie nicht so lange alleine lassen und stellen die eigene Gesundheit hintan. Männer sind hier rigoroser, sie können sich in solchen Fällen besser abgrenzen und sagen: Ich bin krank, ich muss mich jetzt behandeln lassen. Ein weiterer Unterschied zwischen Männern und Frauen: Männer machen in der Regel mehr Sport, sie gehen ins Fitnessstudio oder spielen Fußball. Frauen sind nach wie vor sportlich eher weniger aktiv. Das wirkt sich natürlich auch auf Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems aus - und zwar negativ. Studien haben gezeigt, dass insbesondere Frauen mit Diabetes, die ein bis zu siebenfach erhöhtes Risiko haben, einen Herzinfarkt zu erleiden, überproportional von Sport profitieren würden.
Wirkt sich auch die Gleichberechtigung von Männern und Frauen auf ihren Gesundheitszustand aus?
Ja - aber leider nicht unbedingt positiv. Ein Beispiel dafür ist das Rauchen: Während die jungen Männer mehrheitlich aufhören zu rauchen, fangen die jungen Frauen damit an. Das wird sich in 20 bis 30 Jahren noch sehr rächen. Schon 2015 wird das Lungenkarzinom wohl erstmalig den Brustkrebs bei den häufigsten Krebsarten von Frauen ablösen. In der Vergangenheit litten Frauen verglichen mit Männern seltener an diesem Krebs, da es sich schlicht für sie nicht gehörte, zu rauchen. Dass sie es heute können und auch tun, ist wirklich eine völlig falsch verstandene Emanzipation!
Die Gendermedizin befasst sich mit diesen gesundheitlichen Unterschieden zwischen Frauen und Männern - sowohl was biologische Faktoren betrifft als auch gesellschaftliche. Welche Konsequenzen sollte die Medizin insgesamt aus Ihren Erkenntnissen ziehen?
Dies betrifft alle Bereiche des ärztlichen Arbeitens und fängt bereits bei der Prävention und Aufklärung an: Mittlerweile haben beispielsweise sowohl Ärzte als auch die meisten Patienten verstanden, dass Frauen bei Herzinfarkten andere Symptome zeigen können als Männer. Dass sie also nicht unbedingt an den typischen Symptomen wie Schmerzen in der Brust, die in den linken Arm ausstrahlen, leiden, sondern vielleicht an Luftnot, Müdigkeit und Übelkeit. Auch auf die Diagnose von Krankheiten haben die Erkenntnisse der Gendermedizin Auswirkungen: Wir müssen die Patienten differenzierter betrachten, genauer hinhören und anders diagnostizieren. Zum Beispiel reicht eine Ergometrie - also ein Elektrokardiogramm, das die Herzstromkurve bei Belastung oder Stress misst - bei Frauen oft nicht aus, um eine koronare Herzerkrankung eindeutig zu diagnostizieren: Oft sind bei ihnen die Ergebnisse falsch positiv, das heißt sie deuten auf eine Erkrankung hin, die eigentlich gar nicht vorliegt. Warum das so ist, ist bisher nicht eindeutig geklärt. Es hängt jedoch möglicherweise unter anderem damit zusammen, dass weibliche Patienten weniger Sport treiben als männliche und außerdem bei der Untersuchung meist bereits älter sind. Dadurch reagieren sie auf die körperliche Belastung durch das »Radfahren« auf dem Ergometer anders. Es braucht also bei ihnen für eine eindeutige Diagnose häufig zusätzlich eine Ultraschalluntersuchung, eine sogenannte Stressechokardiografie, oder eine Myokard-Szintigrafie, bei der wir mithilfe von schwach radioaktiven Substanzen feststellen können, wie gut der Herzmuskel funktioniert. Mittlerweile gibt es außerdem tatsächlich unterschiedliche Labormarker für Männer und Frauen, mit denen sich das Herzinfarkt-Risiko feststellen lässt. Auch die Therapie von Männern und Frauen kann und sollte sich unterscheiden, da sie beispielsweise Medikamente unterschiedlich aufnehmen und verstoffwechseln. Wichtig ist dabei: Bei der Gendermedizin geht es weniger um Feminismus oder eine Bevorzugung der Frauen, wie ihr oft vorgeworfen wird. Es geht viel mehr darum, die beste Medizin für alle zu finden. Und zum Beispiel auch die Frage zu beantworten, warum Männer noch immer sechs bis acht Jahre früher sterben als Frauen. Das ist nämlich mitnichten ein unverrückbares Schicksal. Daher arbeiten wir daran, dass sich auch diese Ungleichheit ändert.
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