Hüfte: Damit es wieder losgehen kann
Das Einsetzen einer Hüftprothese ist inzwischen ein Routineeingriff. Zu Besuch im Operationssaal.
Evangelisches Waldkrankenhaus Spandau, 7.30 Uhr. In einem abgedunkelten Zimmer wirft ein Videoprojektor Röntgenaufnahmen auf eine Leinwand. Knochenbrüche, ausgekugelte Prothesen, vom Krebs zerfressene Knochen sind auf den blau-weißen Kontrastbildern zu sehen. Ulrich Nöth, Chefarzt der Orthopädischen Klinik, bespricht wie an jedem Morgen mit seinen Kollegen, wie seinen Patienten am besten zu helfen ist. Eines der Bilder, das an diesem Morgen an der Wand erscheint, zeigt die Hüfte der 67-jährigen Heike Wend*. Die Rentnerin wird an diesem Tag Nöths erste Patientin auf dem OP-Tisch sein. Diagnose Coxarthrose: Der Oberschenkelhalskopf des linken Hüftgelenks liegt direkt auf der Gelenkpfanne. In einem gesunden Gelenk sorgen zwei Knorpelschichten auf den Knochenenden für eine reibungslose Bewegung. Auf Heike Wends Röntgenbild ist von diesen Schichten aber kein einziger Millimeter mehr zu sehen. Ohne den natürlichen Stoßdämpfer wird jeder Schritt zur Qual. Die Hüften gehören zu den am stärksten beanspruchten Gelenken im menschlichen Körper. »Pro Jahr tritt der Mensch mit dem Bein zwei Millionen Mal auf«, sagt Nöth. Heike Wend hatte viele Jahrzehnte lang keine Probleme mit ihren Hüften: Als junge Frau rannte sie auf dem Tenniscourt dem Ball hinterher, in den 80ern und 90ern unternahm sie mehrere Weltreisen. Doch mit zunehmendem Verschleiß und dem immer stärker werdenden Schmerz versuchte die Rentnerin, jeden Schritt zu vermeiden. Zum Einkaufen fuhr sie nur noch mit dem Auto - bis zum Schluss auch das nicht mehr klappte. »Ich kam nicht einmal in meinen Mini rein«, klagt sie. Obwohl Wend litt, haderte sie fünf Jahre mit dem Einsatz eines künstlichen Hüftgelenks. Aus einem einfachen Grund: Sie hat bereits schlechte Erfahrungen mit dieser OP gemacht. Wieder gibt Wends Röntgenbild Aufschluss: Bereits im September 2009 wurde ihr eine erste Prothese in das rechte Hüftgelenk implantiert. Dabei verletzte der Chirurg eines anderen Berliner Krankenhauses den Ischiasnerv der Rentnerin. Eine seltene, aber dauerhafte Komplikation: Wends rechtes Bein schmerzt und kribbelt noch immer. Kein Wunder also, dass sie es mit dem Eingriff an ihrer linken Hüfte nicht eilig hatte - trotz der Schmerzen durch die Arthrose. Im Februar 2014 rang sich die Rentnerin dann doch zu einem Eingriff durch, sie wollte endlich wieder den Sommer unbeschwert genießen - auf Empfehlung ihrer Freundinnen ging sie ins Waldkrankenhaus Spandau.
Die Implantation von Hüftprothesen gehört zu den Routineeingriffen in der Orthopädie. Allein im Jahr 2012 implantierten Berliner Kliniken knapp 3000 künstliche Hüften - mit 729 Prothesen war das Evangelische Waldkrankenhaus Spitzenreiter. Wie viele Gelenke Nöth schon eingesetzt hat? »Bei 1000 habe ich aufgehört zu zählen«, sagt er schmunzelnd. Nicht alle dieser OPs hat er am Waldkrankenhaus durchgeführt, dort ist er erst seit Ende 2013 Chefarzt - vorher war Nöth an der Uniklinik Würzburg. Als Ulrich Nöth eine halbe Stunde später den Operationssaal betritt, liegt Heike Wend bereits in Vollnarkose auf dem OP-Tisch. Ein mit Filzstift gezeichnetes Kreuz markiert auf ihrem linken Oberschenkel die zu operierende Seite, ein Pfeil zeigt in Richtung Hüfte. In der Vergangenheit machten in Deutschland immer wieder spektakuläre Behandlungsfehler Schlagzeilen, neue Behandlungsroutinen sollen die Sicherheit im OP verbessern. Beim sogenannten Team-Time-Out hakt Nöth »wie ein Pilot im Cockpit eines Flugzeugs« eine Checkliste ab: Name der Patienten? Heike Wend, geboren 1946. Art des Eingriffs? Minimalinvasive Totalendoprothese. Eingriffsort? Linke Hüfte. Prothesengröße? 52er Pfanne, 11er Schaft. Alles stimmt, es kann losgehen.
Es gibt viele Zugänge, um eine Hüftprothese einzusetzen - in der Leistengegend, am Gesäß, seitlich oder vorn über der Hüfte. Nöth ist Spezialist, wenn es um minimalinvasive, muskelschonende Verfahren geht: An der Vorderseite des Oberschenkels, einige Zentimeter unter dem Hüftknochen, setzt Nöth mit dem Skalpell einen zehn Zentimeter langen Schnitt und öffnet die Faszie, eine hauchdünne, perlmutt-weiße Schicht, die mehrere Muskeln umgibt. Doch statt wie im herkömmlichen Verfahren die Muskeln nun zu durchtrennen, drängt Nöth mit Zeige- und Mittelfinger zwischen die beiden freigelegten Muskelstränge und dehnt sie so weit, dass er mehrere Wundhaken hindurch bis zum Oberschenkelknochen schieben kann. Sie werden die Wunde während des Eingriffs offen halten. »Im Vergleich zum Muskelschnitt ist das Risiko, Nerven zu verletzten, die für die Bewegung des Beines verantwortlich sind, beim weichteilschonenden Verfahren geringer«, erklärt Nöth seine Operationsmethode. Weitere Vorteile seien eine kleinere Narbe und eine schnellere Belastbarkeit, da die für den sicheren Stand verantwortlichen Muskeln nicht verletzt würden. Blut wird während dieser OP kaum fließen: Immer wieder verödet Nöth kleine Gefäße mit einer von Strom durchflossenen Pinzette. Rauch steigt aus der Wunde auf. Es riecht nach verbranntem Menschenfleisch. Ein Geruch, der in der Nase bleibt. Um den alten und abgenutzten Gelenkkopf aus der Gelenkpfanne zu holen, durchtrennt der Chefarzt mit einer Handsäge, die wie ein großer Küchen-Pürierstab aussieht und sich auch so anhört, den Oberschenkelhals. Wieder greift Nöth zu einem Instrument, das wirkt, als stamme es aus der Küche: ein übergroßer Korkenzieher, dessen Spirale er in den abgetrennten Gelenkkopf schraubt. Körpereinsatz ist gefragt, um den Hüftkopf aus der ihn eng umschließenden Beckenpfanne zu ziehen - nach einigen Anläufen gelingt der Kraftakt. Leise ploppt der Knochen aus der Halterung. Das künstliche Hüftgelenk, das Nöth gleich Stück für Stück einsetzen wird, besteht aus vier Teilen: einer Titanpfanne, die in den Beckenknochen geklemmt wird, ein Polyethylen-Inlay, das im Zusammenspiel mit einem Keramik-Kugelkopf für eine geringe Reibung im Gelenk sorgt, und einem Titanschaft, der in den Oberschenkelknochen eingehämmert wird. Bevor der Arzt die Titanpfanne in den Beckenknochen einpressen kann, schabt er Reste des zerstörten Knorpels mit einer Fräse ab. Mit Stößel und Hammer macht sich der Chefarzt daran, die künstliche Pfanne in der ausgefrästen Gelenkpfanne zu verankern. »Die Kunst ist, die Pfanne exakt zu positionieren, damit die Prothese nicht wieder herausspringt«, sagt Nöth, während er auf den Stößel einschlägt. Um Platz für den Schaft des künstlichen Hüftgelenks zu schaffen, höhlt Nöth mit einer Raspel den mit Mark gefüllten Knochen aus. Dabei prüft der Operateur auch die Qualität des Knochens - denn davon hängt die Wahl des Implantats ab. Ist der Knochen porös, wie bei Patienten, die unter Osteoporose leiden, muss der Schaft in den Knochen einzementiert werden. Heike Wends Oberschenkelknochen dagegen ist gesund und stabil genug, bei ihr genügt ein Schaft ohne Zementverankerung. Das obere Ende des Titanschaftes ist angeraut, so wächst er nach einigen Wochen in den Knochen ein und sitzt stabil. Auf den Konus am oberen Ende des Schafts steckt Nöth eine cremeweiße Keramikkugel, die etwas kleiner als ein Golfball ist - sie ist die neue Gelenkkugel, die den verschlissenen Oberschenkelkopf ersetzt.
Noth hebt die Keramikkugel in die neue Gelenkpfanne. Gemeinsam mit seinen assistierenden Ärzten bewegt er den Oberschenkel zum Test in verschiedene Richtungen und misst die Länge des zur operierten Hüftseite gehörenden Beines. Es passt: Beide Beine sind gleich lang, und die Kugel springt nicht aus der Pfanne. Die Prothese sitzt. Wenige Tage später: »Die ersten Schritte waren herrlich«, berichtet Wend. Noch liegt sie im Krankenbett. Tulpen zieren das Fensterbrett, obwohl es erst Anfang März ist, bricht der Frühling herein. Noch fühlt sich die frisch Operierte etwas wackelig auf den Beinen, Krücken stützen sie beim Gehen. Deshalb geht es in zwei Wochen zur Reha in den Spreewald: Beim behutsamen Muskelaufbau sollen die Hüft- und Oberschenkelmuskeln gestärkt und so wieder ein natürliches Laufen ermöglicht werden. Eine Hüftprothese ist kein Grund, auf Sport zu verzichten. Wenn Wend es wollte, könnte sie mit ihrer neuen Hüfte auch Joggen gehen. Im Schnitt hält eine solche Prothese 15 bis 20 Jahre. Je belastender der Sport für das Gelenk ist, desto schneller nutzt es sich aber auch ab. »Der Verschleiß einer Prothese ist abhängig von Aktivität und Körpergewicht«, sagt Nöth. Übergewichtige verschleißen ihre Prothesen schneller als Normalgewichtige, Leistungssportler schneller als Menschen, die gar keinem Sport nachgehen. Tennis wie einst als junge Frau will Wend nicht mehr spielen, auch aufgrund ihres Alters. Aber auf Reisen möchte sie wieder gehen: in ihre Geburtsstadt Leipzig, an die Ostsee oder nach Mallorca mit ihren Freundinnen. Den Blick zum Fenster gewandt, freut sich Heike Wend über ihre neue Hüfte: »Ich habe einen ganz anderen Lebensmut gewonnen«, sagt sie. * Name geändert
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