Evolutionsbiologe Jared Diamond: „Zum ersten Mal gibt es die Möglichkeit eines weltweiten Kollapses“
Pulitzer-Preis-Träger Jared Diamond warnt die Politik, sich nur auf den Klimawandel zu konzentrieren. Das Zusammenspiel mehrerer Krisen sei das Gefährliche.
Jared Diamond, geboren 1937 in Boston an der US-Ostküste, ist Evolutionsbiologe und Anthropologe. Er hat ebenso über menschliche Sexualität geschrieben, wie über die Spaltung zwischen Arm und Reich und warum sich dominante Kulturen vor allem in Europa und Asien ausbildeten. Zuletzt veröffentlichte er das Buch "Wie Nationen sich erneuern können". Darin beschreibt er, wie Staaten mit den Megaherausforderungen der Zukunft wie dem Klimawandel umgehen können.
Herr Diamond, in Ihrem neuen Buch untersuchen Sie, wie Staaten in ihrer Geschichte mit existenzbedrohlichen Situationen umgegangen sind. Ist die Krise angesichts von politischer Polarisierung, Terror und Brexit nicht der neue Normalzustand?
Für mein Buch fand ich es sinnvoll, Krise als etwas zu definieren, das nur alle paar Dekaden oder alle zwei, drei Generationen vorkommt. Trump wäre demnach keine neue, sondern Teil einer längerfristigen Krise. Doch natürlich erlebe auch ich jeden Tag eine Krise in meinem Leben. Heute Morgen zum Beispiel: Vor 15 Minuten war ich noch nicht sicher, ob ich es schaffe, Skype zum Laufen zu bringen, damit wir sprechen können. Zugegeben, eine kleine Krise.
Erleben wir durch die weltweiten Probleme heute eine größere Bedrohung als beispielsweise nach dem Börsencrash von 1929?
Man kann darüber streiten, ob die Probleme der USA heute größer oder geringer sind als damals. Aber die Welt trägt heute wohl ein so großes Risiko für einen Zusammenbruch wie noch nie. Schuld ist die Globalisierung. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte gibt es die Möglichkeit eines weltweiten Kollapses. Bis vor Kurzem war es immer so: Wenn ein Land zusammenbrach, waren die anderen nicht betroffen. Als im 9. Jahrhundert mit den Maya die damals fortschrittlichste Kultur unterging, bekam man davon nebenan in Mexiko nichts mit. Würden heute Somalia oder Afghanistan kollabieren, beträfe das die ganze Welt.
Welche ist in Ihren Augen die derzeit größte Krise?
Vielleicht, dass die Welt versucht, die größte Krise von allen zu finden. Wir stehen einer Anzahl von Problemen gegenüber, von denen uns jedes einzelne ruinieren könnte. Falls wir den Klimawandel, die Ungleichheit und den Ressourcenmangel bewältigen, aber die Ausbreitung von Nuklearwaffen nicht, sind wir geliefert. Wenn uns die nukleare Abrüstung gelingt, aber wir den Klimawandel nicht aufhalten, sind wir ebenfalls dran. Das ist wie bei einer Ehe. Wenn mich jemand fragt: Was ist der wichtigste Faktor für eine funktionierende Partnerschaft?, dann weiß ich schon, das wird nichts. Eine stabile Beziehung hängt nicht an einem einzelnen Punkt. Dafür müssen Sie Dutzende Dinge gleichzeitig organisieren.
Geschichte wiederholt sich nicht, heißt es. Lassen sich aus den historischen Begebenheiten wie dem Winterkrieg zwischen Finnland und der Sowjetunion 1939 oder der Besiedlung Australiens, die Sie untersuchen, überhaupt Schlüsse für heute ziehen?
Natürlich. Ein Problem bei uns in den USA ist jedoch, dass wir glauben, wir wären einmalig. Das stimmt ja auch, daraus leiten wir jedoch ab, dass wir von anderen Ländern nichts lernen können. Tatsächlich aber stehen wir heute Problemen gegenüber, die auch Demokratien wie Deutschland, Kanada oder Großbritannien haben: in der Bildung, der Gesundheitsversorgung, bei Gefängnissen, Renten … Und man muss schon sagen, dass die damit oft erfolgreicher umgegangen sind als wir.
Um Probleme anzugehen, braucht es Einigkeit. Die USA sind jedoch wie Europa extrem gespalten.
Das stimmt. Das ist auch einer der Auslöser für nationale Krisen. Zum Überwinden muss es eine Art von landesweitem Konsens geben. Sowas haben wir in den USA nicht. Anders als zum Beispiel die Finnen im Jahr 1939. Als die Sowjetunion angriff, gab es über Nacht eine nationale Einigung. Jeder in Finnland, inklusive der Kommunisten, sah ein, dass das eine existenzielle Bedrohung sei und sich Finnland gegen die Sowjets verteidigen müsse.
Also brauchen die USA nur einen starken Feind?
Ich sehe nicht, dass diese 50/50-Teilung in naher Zukunft verschwindet. Das ist kein neues Phänomen. Diese Polarisierung entwickelt sich seit Anfang der 1990er Jahre. Den Anstoß gab wohl die Politik des Republikaners Newt Gingrich, der, als Bill Clinton gewählt wurde, sagte, dass seine Partei nun gegen alles stimmen würde, was der Präsident zu tun gedenke. In jüngerer Zeit haben die Republikaner sich gegen alles gestellt, was Barack Obama tat. Was das beenden könnte, wäre wohl ein schreckliches Ereignis wie der Angriff auf das World-Trade-Center. Damals wurden für einige Zeit viele Gräben überwunden.
Mit Nietzsche gesprochen: Was dich nicht umbringt, macht dich stärker.
Es hilft, eine Krise zu haben. Ein Land ist weniger geneigt, etwas zu unternehmen, wenn es sich mit einem schleichenden Problem konfrontiert sieht. Der britische Autor Samuel Johnson hat das im 18. Jahrhundert schön formuliert: „Glaubt mir, Sir, wenn ein Mann weiß, dass er in zwei Wochen gehängt wird, schärft das seine Aufmerksamkeit ungemein.“ Das gilt für Nationen wie für Menschen. Nicht umsonst besteht das chinesische Schriftzeichen für Krise aus zwei Elementen, dem Zeichen für Gefahr und dem für Chance. Das Ende meiner ersten Ehe war fürchterlich schmerzhaft, allerdings habe ich dadurch auch gelernt, was ich falsch gemacht hatte. Das Gleiche gilt für meine heutige Frau Marie, auch sie hatte schon eine Ehe hinter sich, als wir 1982 heirateten. Das Ergebnis ist, dass wir nun seit fast 40 Jahren sehr glücklich miteinander sind.
Die Geschichte kennt nicht immer ein Happy End.
Ja. Es besteht durchaus ein Risiko, dass die USA auseinanderbrechen. Wenn ich ein Buch schreibe, teste ich die Thesen immer an meinen Studenten. Ich kann an ihren Gesichtern ablesen, wenn meine Erklärung unklar oder falsch ist. Das Beispiel, das ihnen am meisten Sorge bereitete, war Chile. Die Parallele ist so deutlich. Da ist ein Land, das stolz war auf seine lange demokratische Geschichte. Als ich 1967 in Chile lebte, und meine Freunde mir ihr Land erklärten, sagten sie: „Du denkst vielleicht, wir sind wie Brasilien oder Peru. Wir Chilenen sind aber keine Lateinamerikaner, wir sind eher Europäer. Wir sind eine Demokratie, wir wissen, wie wir uns regieren.“ Sechs Jahre später beendete ein Staatsstreich die Demokratie. Auch für die USA sehe ich eine Möglichkeit, dass wir das Ende der Demokratie erleben.
Durch einen Putsch wie durch Pinochet?
Nein. Das US-Militär hat sich nie in die Politik eingemischt. Wenn die Demokratie untergeht, ist es die Folge aktueller Entwicklungen. Zum Beispiel die Einschränkungen des Wahlrechts. Ich lese jeden Morgen zum Frühstück die „New York Times“ und die „Los Angeles Times“. Dann schalte ich den Rest des Tages das Radio und den Fernseher nicht mehr ein. Das würde mich nur aufregen, ich könnte nicht mehr schlafen. In den USA muss man sich zum Beispiel registrieren, um zu wählen. Die Hürden dafür sind unterschiedlich hoch. Im Staat Alabama etwa regieren die Republikaner, große Teile der Bevölkerung aber sind schwarz und würden eher demokratisch stimmen. Also verlangt Alabama einen Führerschein, damit man wählen kann. Viele Afroamerikaner jedoch haben keinen. Später wurden in primär schwarzen Bezirken auch noch die Zulassungsstellen geschlossen.
„Wie homogen ein Staat sein sollte, ist eine legitime Frage“
In Ihrem Buch vergleichen Sie persönliche Krisen mit politischen. Geht das überhaupt?
Natürlich gibt es Unterschiede, und wer auf Seite 7 aufhört zu lesen, wird sagen: Das kann nicht funktionieren. Zu den großen Unterschieden gehört, dass in Nationen Gruppen miteinander interagieren. Bei persönlichen Krisen geht es auch nicht um Führungsfiguren. Als meine Ehe scheiterte, gab es keinen Chef, der mir helfen oder dem ich die Schuld geben konnte. Wo mein Modell nicht passt, ist in allen Bereichen, wo es um Anführer geht. Beim Thema Hilfe jedoch gibt es deutliche Parallelen. Eine Person kann Hilfe von anderen Personen bekommen, eine Nation von anderen Nationen. Aber: Ein Mensch hat Persönlichkeit, ein Selbstbewusstsein. Eine Nation hat das nicht. Dort kann Persönlichkeit aber eine Chiffre sein für nationale Eigenheiten.
Sie haben auch den Wiederaufbau der Bundesrepublik untersucht. Geht man hierzulande mit Krisen anders um als in anderen Ländern?
Ja. In den Nachkriegsjahren hatten Sie keinen einzigen schwachen, gescheiterten Kanzler, dafür einige herausragende. Das war keine Glückssache, Ihr System funktioniert anders. Bei Ihnen müssen sich Politiker durch die Gremien nach oben arbeiten. Die qualitativen Unterschiede der US-Präsidenten sind da sehr viel größer. Im Moment haben wir sogar einen, den ich als böse bezeichnen würde. Auch George Bush junior fiel schon in diese Kategorie. Einer der wichtigsten Faktoren, um eine Krise zu meistern, ist, einzusehen, dass man selbst etwas daran ändern kann. Sie sind nicht nur ein Opfer. Selbstmitleid hilft nicht. Das hat Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg besser erkannt als zum Beispiel Japan.
Wie meinen Sie das?
In Ihrem Land, in dem ich 1961 einmal gelebt habe, ist man später sehr ehrlich damit gewesen, sich einzugestehen, was hier geschehen ist. Deutsche Schulkinder wurden angehalten, die ehemaligen KZs und Israel zu besuchen und nicht wegen der Bombardierung von Dresden in Selbstmitleid zu versinken. Japan hat das anders gemacht. Dort war man sehr fokussiert auf das Leid nach den Atombomben und hat sich nicht damit auseinandergesetzt, welche Rolle man selbst gespielt hat. Auch unser Präsident fokussiert sich auf die Probleme, die China und Mexiko uns bereiten, und weigert sich, Verantwortung zu übernehmen für die Probleme in den USA. Aber die Einzigen, die die Demokratie in den USA abschaffen können, sind wir Amerikaner. Nicht die Chinesen oder Mexikaner.
Gibt es einen entscheidenden Faktor, der Staaten besonders stabil macht?
Wenn wir über Demokratien reden: Staaten, deren Bewohner gut gebildet sind und gemeinsame Werte teilen, sind stabiler. Aber auf einen bestimmten Faktor kann man die Frage nicht reduzieren. Journalisten frustriert es immer, das zu hören. Was soll ich machen? Das Leben ist kompliziert. Wenn ich Ihnen jetzt den entscheidenden Faktor für Stabilität auftischen würde, sollten Sie unser Gespräch sofort beenden. Dann wäre ich ein dummer Lügner.
Herr Diamond, lassen Sie uns noch ein wenig über die Probleme der Gegenwart sprechen. Die Europäische Union steckt spätestens seit dem Brexit in der Krise.
Schon beim Referendum und bis heute fehlt es den Brexit-Anhängern an Ehrlichkeit, was die negativen Konsequenzen eines Ausscheidens aus der EU angeht. Davon abgesehen hat es im Zuge des geplanten Austritts aber eine ehrliche Debatte gegeben über die Frage „Wer sind die Briten?“ Sind es die Leute, die seit 1000 Jahren in Großbritannien leben? Gehören die Immigranten aus dem Commonwealth dazu? Und was ist mit den vielen Polen, die später dazukamen? Wie homogen ein Staat sein sollte, ist eine legitime Frage. Japan zum Beispiel will keine Immigranten, nach Amerika kommen sehr viele. Die EU muss sich fragen: Wann wird man ehrlich mit der Tatsache umgehen, dass der eigene Kontinent an einen anderen mit einer Milliarde Einwohnern grenzt?
Sie sprechen von Afrika.
Ja. Den meisten Afrikanern ginge es besser, wenn sie in Europa leben könnten: politisch, wirtschaftlich und was ihre Sicherheit betrifft. Was wird Europa tun, um dieses Problem zu lösen? Meine italienischen Freunde sind sehr frustriert. Sie sagen, dass die Schiffe, die Migranten auf dem Mittelmeer abfangen oder ihnen helfen sollen, allesamt italienische sind. Deutschland oder Finnland schicken keine Unterstützung für die Patrouillen. Auf dem Papier hat die EU ein Konzept zur Absicherung der Grenzen, aber die Politik wird nicht umgesetzt.
Was ist mit dem Konflikt mit Russland, wie sollte sich der Westen verhalten?
Bill Clinton, der ansonsten ein sehr guter Präsident war, hat im Umgang mit Russland leider große Fehler gemacht. Er hat Moskau mit Geringschätzung behandelt. Es war falsch, die baltischen Länder in die Nato aufzunehmen und amerikanische Raketen in Osteuropa zu stationieren. Die Finnen haben aus der historischen Erfahrung gelernt, immer mit den Russen im Gespräch zu bleiben. Auch die USA hatten nach der Kubakrise 1962 jahrzehntelang engen Austausch auf allen Ebenen. Das wäre wieder nötig, damit die Russen wissen, was wir denken, und umgekehrt.
Viele Experten glauben, dass die kommende große Krise ein Konflikt zwischen den Vereinigten Staaten und China sein wird. Man spricht von der „Falle des Thukydides“: Ein Krieg zwischen absteigender und aufsteigender Macht sei unausweichlich.
Vor 100 Jahren war das vielleicht noch so. Heutzutage, in globalisierten Zeiten, wo die Länder so eng miteinander verbunden sind: nein! Wir Amerikaner sind paranoid, wenn es um den Aufstieg Chinas geht. Ich glaube, dass die USA enorme geographische und historische Vorteile besitzen, die nicht einfach so verschwinden werden. Wir sind seit Anbeginn eine Demokratie, China dagegen war immer eine zentralisierte Diktatur, seit es 220 vor Christus vereint wurde. Unsere Regierung führte einst Krieg in Vietnam, aber junge Amerikaner demonstrierten dagegen, sie bekamen Tränengas ab, manche wurden sogar erschossen, doch schließlich wurde der Krieg beendet. In China ist es nicht möglich, dass Proteste die Regierungspolitik verändern. Das 21. Jahrhundert wird kein chinesisches sein, sondern eher ein nordamerikanisches und westeuropäisches, vielleicht auch ein japanisches.