Geschichten aus Chile: Unwirkliche Demokratie
„Ferngespräch“: Alejandro Zambras Geschichten über eine verlorene chilenische Generation sind gleichermaßen autobiografisch wie repräsentativ.
Ein Chilene müsste es ihm eigentlich übel nehmen – so viel „Ich“, wie in Alejandro Zambras Kurzgeschichtenband „Ferngespräch“ vorkommt. Über sich selbst zu reden, galt in Chile als unschick, und erst recht hatte man keine Ansprüche zu stellen, wie es der 1975 in Santiago de Chile geborene Schriftsteller selbst einmal gesagt hat. Dennoch ist Zambra der aktuell meistgefeierte lebende Autor Chiles. Obwohl er weder Poesie schreibt (die Chilenen sind bekannter für ihre Poesie als für ihre Prosa) noch zur Schriftstellergeneration der besungenen „Übergangsliteratur“ gehört, die in den neunziger Jahren öffentlichkeitswirksam den Übergang von der Diktatur zur Demokratie begleitete. 2007 stand Zambras Name auf der Liste „Bogotá39“, er zählte zu den 39 besten lateinamerikanischen Schriftstellern unter 39.
„Ferngespräch“ besteht aus Erzählungen, die fragmentarischen Charakter haben; Geschichten über das Chile der achtziger bis hin zu den nuller Jahren, über den Alltag, über Kindheit und Jugend zu Zeiten der Diktatur. Pinochet ist einfach da, eine Folie der Normalität, auf der sich die Geschichten abspielen, auch in den neunziger Jahren noch, obwohl die Diktatur vorbei ist. Einer der Erzähler erinnert sich: „März 1988 fing ich am Instituto Nacional an. Dann kamen zugleich die Demokratie und die Pubertät. Die Pubertät war wirklich. Die Demokratie nicht.“
Zambras Figuren blicken zurück: auf die erste Telefonleitung, die allerletzte Zigarette, verschwundene Katzen und verflossene Liebschaften. Die ungeschönten Alltagserinnerungen sind auch eine Entblößung. Zambra skizziert die Mittelmäßigkeit einer Generation, die gelernt hat, mit Schweigen weiterzukommen als mit Charakter und Meinungen. Zambras Ich ist kollektiv, es ist das Ich einer chilenischen Generation, die ihre Geschichte, ihre Identität, ihre Helden sucht.
Zambras Schreiben ist eine Suche
Der Autor prägte den Begriff „Literatur der Söhne und Töchter“ und meint damit die Literatur derjenigen Chilenen, die zu Diktaturzeiten Kinder waren, zu jung, um politisch wirken zu können. Die Eltern waren entweder Kommunisten und gegen Pinochet oder Rechte und beim Militär. Oder sie waren schlichtweg apolitisch. „Es hat lange gedauert, bis wir verstanden haben, dass wir unsere eigene Geschichte haben und dass wir auch etwas darüber sagen können“, sagt Zambra über seine Generation.
In „Instituto Nacional“ zum Beispiel blickt der Erzähler zurück auf seine Schulzeit an einer Eliteschule in Santiago de Chile. Die Schüler haben Nummern, keine Namen, und den seiner eigenen Figur hat der Erzähler vergessen. Egal, um Individualität geht es nicht. Zentraler sind die hellseherischen Kräfte von Mitschüler 34, der kollektive Horror vor dem Sitzenbleiben oder der Suizid eines Mitschülers. Teilweise sind es lediglich meisterhaft komprimierte Erinnerungsbruchstücke: „Ich erinnere mich an die Krämpfe in der rechten Hand nach dem Geschichtsunterricht, weil Godoy uns zwei Stunden lang nur diktierte. Er nahm die Attische Demokratie durch und diktierte dabei, wie man in der Diktatur diktiert.“ Oder er erinnert sich an den Lehrer Musa, der droht, er werde ihm nun etwas sagen, was er nie im Leben vergessen werde. „Musa betonte das Wort nie und dann im Leben und wiederholte den Satz zweimal. Was es war, weiß ich nicht mehr, vergaß es sofort, weiß wirklich nicht mehr, was Musa mir damals sagte.“ Beiläufig siegt die subjektive Erinnerung über die offizielle Version.
In ihrem Detailfanatismus haben die Erinnerungen etwas Kompulsives. Zambras Schreiben ist eine Suche, ein Ferngespräch mit einem früheren Selbst, das erst heute zu Wort kommen darf. Nostalgisch, melancholisch, aber auch lässig, witzig und feinsinnig machen sich die Erzähler auf die Suche nach einer verlorenen Zeit. Jede der elf Geschichten steht für sich, doch sie alle korrespondieren auch miteinander.
Treffsichere Pointen
Wie in seinem nur neunzig Seiten umfassenden Debütroman „Bonsai“, für den er 2007 den chilenischen Kritikerpreis bekam, kreist Zambra um bestimmte Themen, Motive und Figuren. Rauchen, lieben, lesen, schreiben, scheitern, unterrichten, über Fußball reden, hinfallen, wieder aufstehen, sich in der Bequemlichkeit der Lüge einrichten, dafür die Leidenschaft opfern. Zambras Figuren sind einsam, leben im Als-ob aus Angst vor der Realität oder erzählen pointenlose Witze über den „chilenischsten Mann der Welt“.
Die Pointen dagegen sind treffsicher, die kurzen Sätze präzise und komplex, Zambra ist ein Meister der kurzen Form. Und mitten in einer Liebeserklärung an das Rauchen wird er plötzlich poetisch: „Die Zigaretten sind die Satzzeichen des Lebens.“ Doch ununterbrochen hinterfragt Zambra sich selbst, kommentiert er seine Erzählungen metafiktional: Selbstironie ist seine Waffe gegen Kitsch. Er rettet sich vor Klischees, indem er konjunktivisch auflistet, was jetzt normalerweise passieren müsste. Oder indem er eine Geschichte enden lässt mit den Worten: „Ich denke, dass die Geschichte so nicht enden kann, mit Vater Camilo, der um seinen toten Sohn weint, seinen fast unbekannten Sohn. Aber so endet sie.“
So klafft die Lücke zwischen Literatur und Realität, zwischen Erinnerung und Imagination immer wieder neu. Schließlich ist Zambra auch Literaturwissenschaftler und Dozent an einer chilenischen Universität. Von Sonntagsschreibern ist bei ihm häufig scherzhaft die Rede. Doch er ist kein Literaturwissenschaftler, der nebenbei Prosa schreibt, sondern der sie schreiben muss, aus einer inneren Notwendigkeit heraus. Seine Geschichten sind gleichermaßen autobiografisch wie repräsentativ . Sicherlich ist ihm seine Generation in Chile für dieses Ich dankbar.
Alejandro Zambra: Ferngespräch. Stories. Aus dem chilenischen Spanisch von Susanne Lange. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017, 237 Seiten, 22 €.
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