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US-Soldaten üben im Sommer 2018 im Baltikum den Krieg - gegen Russland?
© REUTERS/ Kalnins

Baltikum, Polen und Russland: Wie ein deutscher General die Nato-Ostgrenze schützt

Sollte Russland ins Baltikum vordringen, kommandiert General Manfred Hofmann in den ersten Stunden 35.000 Nato-Soldaten. Dabei ist er gar kein Hardliner.

Zwei Kampfhubschrauber donnern über den Fluss. Schüsse fallen. Soldaten, die Gesichter mit Tarnfarben bemalt, stürmen an die Böschung. Mit Helm, Schutzweste, Maschinenpistole, Funkgerät, Messer, Trinkflasche hocken sie sich ins Schilf. Nun rasen Panzerwagen zum Ufer, an dem fast zur gleichen Zeit moosgrüne Amphibienfahrzeuge anlanden. Die High-Tech-Flöße werden die Soldaten und Wagen ans andere Ufer transportieren – dort werden die Maschinengewehrsalven lauter.

Beobachtet wird das von Kameraleuten, Reportern und einem US-Major mit strahlend weißen, linealgeraden Zähnen. Ein heißer Sommertag an der Memel nahe Kaunas. Nicht weit von hier grenzt Litauen an Russland, Polen und Weißrussland. Die Schüsse, die Hubschrauber, die Amphibienfahrzeuge – alles gehört zu einer Übung von Nato-Soldaten unter Führung der US-Armee.

Der Major, in Ohio aufgewachsen, in Bayern stationiert, nun im Memelland den Krieg simulierend, sagt: „Wir sind nicht zum Spaß hier, das ist eine reale Mission.“ Man übe, verlorenes Terrain zurückzuerobern. Von welchem Feind? Der US-Major spricht es nicht aus, die britischen und deutschen Soldaten, die den Fluss überquert haben, auch nicht. Die Antwort überlasse man, sagt ein Panzerwagenfahrer, den Politikern.

Einen Monat später sitzt Manfred Hofmann in einer Kaserne in Stettin, 700 Kilometer westlich in Polen. Auch Hofmann ist kein Politiker, hat aber als Soldat einen so hohen Rang, dass er die Lage öffentlich kommentieren darf.

„Klar“, sagt Hofmann leise, fast schon sanft, „es geht um Russland.“

Hofmann, in grüner Flecktarnuniform, schwarzen Schnürstiefeln und mit randloser Brille, ist Generalleutnant des deutschen Heeres und Kommandeur des Multinationalen Nato-Korps in Stettin. Er ist einer der Top-Offiziere der Bundeswehr. Was Hofmann schreibt, wird auch in den Büros von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg gelesen.

Hofmann hat 2100 Kilometer Nato-Außengrenze mit Russland und seinem Verbündeten Weißrussland im Blick. Er besucht fast wöchentlich Stützpunkte alliierter Truppen von Stettin in Polen bis Narwa in Estland. Käme es zu einem „Zwischenfall“, wie Hofmann sagt, sollte die russische Armee ins Baltikum marschieren und Artikel 5 des Nato-Vertrages wirksam werden, dann entscheidet Hofmann darüber, wie die größte Militärallianz der Geschichte auf die Aggression reagiert. Bis sich die 29 Staatschefs der Nato-Länder abgesprochen haben, koordiniert Hofmann die Bewegungen von 35.000 Soldaten.

Das mit der Krim ging schnell

Artikel 5 des Nato-Vertrages regelt, dass ein Angriff gegen einen Mitgliedsland als Angriff gegen alle Nato-Staaten gewertet wird – und dass die gesamte Militärallianz dann zurückschlagen werde. Doch seit Monaten bezweifelt Donald Trump öffentlich, ob diese Beistandverpflichtung für die Amerikaner noch gilt – der US-Präsident sagt, die Europäer müssten mehr in die Gemeinschaftskasse zahlen, wenn sie den Schutz seiner Streitkräfte wollen. Im Nato-Land Türkei wiederum ist unklar, ob sich Staatschef Recep Tayyip Erdogan dem Westen überhaupt verpflichtet fühlt. General Hofmann, schlafen Sie noch gut?

„Machen Sie sich keine Sorgen“, sagt Hofmann. „Hervorragend.“ In der Regel geht er um 23.30 Uhr ins Bett. Aber: Vorbereitet, wachsam, entschlossen müsse man schon sein. Auf der Krim habe der Westen 2014 gesehen, sagt Hofmann, dass ein Wochenende reichen kann: Die Halbinsel gehört nun Russland.

Im Streit mit einander - und der Nato. Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan und US-Präsident Donald Trump.
Im Streit mit einander - und der Nato. Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan und US-Präsident Donald Trump.
© ALTAN and SAUL LOEB / AFP

Polen trat 1999 der Nato bei, 2004 wurden die Russland-Anrainer Litauen, Lettland und Estland in das Militärbündnis aufgenommen – nicht nur aus Sicht Wladimir Putins ein Affront. In Moskau will man mehr Ostausdehnung verhindern, konkret die Nato-Aufnahme der Ukraine. Auch deshalb wurden russische Soldaten auf die Krim entsandt.

Putin, das befürchten im Westen nicht wenige, betrachtet das Baltikum als russische Einflusszone. Wie in der Ukraine gibt es in Litauen, Lettland und Estland russische Gemeinden. Vor allem in den beiden letztgenannten Staaten werden sie tatsächlich diskriminiert. Nach dem Ende der Sowjetunion wurden russischsprachige Balten den ethnischen Letten und Esten rechtlich nicht gleichgestellt. Bis heute werden Russischsprachler im Baltikum verdächtigt, ihrer neuen Heimat gegenüber nicht loyal zu sein. Putin sagte, die Rechte russischer Landsleute werde man auch im Baltikum verteidigen. Polens Premier Mateusz Morawiecki verkündete, um Russland zu trotzen, bräuchten die Europäer „mehr Kampfpanzer“. Hofmanns Job wäre es, zu sagen, auf wen die Panzer feuern sollen.

60 Analysten werten nach Hinweisen aus Russland aus

Noch bis 2014 waren die Truppen, die dem Stettiner Korps unterstehen, so aufgestellt, dass sie nach 180 Tagen Vorbereitung in den Krieg hätten ziehen können. Nun reichen 30, für Hofmanns Vorauskommandos drei Tage.

„Der kritische Faktor ist die Schnelligkeit“, sagt Hofmann. „Wer kann zügig Raum besetzen?“ Die baltischen Staaten sind klein, von der russischen Grenze bis zur Ostsee braucht auch ein Autofahrer zwei, höchstens drei Stunden.

Im Stettiner Nato-Quartier, wo 450 Soldaten – meist Polen, Dänen, Deutsche – ihren Dienst verrichten, suchen 60 Analysten täglich in offen zugänglichen und klassifizierten Meldungen nach Hinweisen auf russische Truppenbewegungen, Waffenkäufe, Baumaßnahmen.

Kommandeur Hofmann stammt aus Kaiserslautern, seine Familie wohnt noch in Rheinland-Pfalz. Nach dem Abitur begann er 1974 bei der Bundeswehr, studierte an deren Universität in Hamburg, arbeitete im Verteidigungsministerium, wurde 2004 in Bosnien eingesetzt, übernahm 2015 das Nato-Quartier in Stettin. Hier wird Hofmann zwei, drei Mal im Monat von IT-Spezialisten vor Cyberattacken gewarnt. Das Telefon auf seiner Bürokommode und das Handy auf dem Kaffeetisch – abhörsicher. Die Dienstwohnung wurde von der Polizei inspiziert.

Für russische Nachrichtendienste ist Hofmann ein Topziel. Fotografiert ihn jemand, beobachtet ein Fremder sein Auto, kommt ihm ein Tresengespräch merkwürdig vor, müssen die Sicherheitsexperten der Nato davon erfahren.

Der 64-jährige Soldat steht um 5.30 Uhr auf. Manchmal folgt Gymnastik – früher hat er Aikido trainiert, was die Hofmannsche Ruhe erklären könnte. Um 7.30 Uhr sitzt er im Büro, wenig später beginnt die Morgenrunde. Die leitenden Offiziere haben eine Presseschau vorbereitet. Den Tag über geht es um Auftragsmodalitäten für Technik, Truppenbesuche in ganz Osteuropa, Manöverplanungen mit anderen Kommandeuren, 20 Uhr sitzt Hofmann vor der Tagesschau, 21.45 Uhr vor den Tagesthemen.

Artilleriefeuer - an der Memel steigt Rauch auf

Zurück an der Memel steigt am gegenüberliegenden Ufer nun Rauch auf, die Kampfhubschrauber sind gelandet, noch ein paar Sekunden heftiges Artilleriefeuer. Die Amphibienfahrzeuge verlassen das Ufer stromabwärts, die Panzerwagen rollen durch die Büsche. Der vermeintliche Feind wurde mit Platzpatronen vertrieben. Einige Soldaten scheinen einen Gefechtsstand aus Geländefahrzeugen einzurichten.

Der US-Major lächelt zufrieden. Heuschrecken zirpen, Schmetterlinge flattern, ein Storch landet. Auf einem Wall haben sich Neugierige aus dem nächsten Dorf versammelt. Ein Junger sagt: „Irgendwann ist es so weit, dann kommen die Russen.“ Ach was, entgegnet ein Älterer, das sei sehr unwahrscheinlich. „Sie würden es sowieso nicht schaffen“, sagt eine Frau. „Oder?“ Ihr Blick wandert über den Fluss zu den Panzerwagen. Ihre zwei Töchter bestaunen mit kleckerndem Eis in der Hand die schwerbepackten Soldaten, die sich noch auf dieser Seite des Flusses befinden. Einige der Männer bleiben, bis sie abends in Mückenschwärmen stehen.

Für russische Nachrichtendienste ist General Manfred Hofmann ein Topziel. Gibt es Krieg zwischen Russland und den Balten, muss er für die Nato entscheiden.
Für russische Nachrichtendienste ist General Manfred Hofmann ein Topziel. Gibt es Krieg zwischen Russland und den Balten, muss er für die Nato entscheiden.
© Simoes/NFIU Lithuania

Die Städte zwischen den Auen und Birkenwäldern des Baltikums waren einst Vielvölkergemische. Kaum irgendwo gab es solch prosperierene jüdische Gemeinden. Dann kämpften Balten, Polen, Russen, Deutsche um die Herrschaft. Der Friedensvertrag von Versailles 1919 erklärte die Memel zum internationalen Fluss, was die Nazis nicht akzeptierten: 20 Jahre später raubten sie das Memelland von Litauen. Von der Sowjetunion wurde es 1944 erobert, seit 1990 gehört es zum unabhängigen Litauen.

Warum das Manöver an diesem Fluss stattfindet? Der Übungsort liegt vor einem litauisch-polnischem Grenzstreifen, der nur 75 Kilometer lang ist. Eine Autostunde im Westen befindet sich das russische Kaliningrad, eine Stunde im Süden das mit Moskau verbündete Weißrussland. In der Nato befürchten einige, Russland könnte diesen litauisch-polnischen Korridor im Kriegsfall als Erstes besetzen, das Baltikum wäre abgeschnitten.

Außerdem, darauf macht Manfred Hofmann in Stettin aufmerksam, treffe man in Europa im Schnitt alle drei Kilometer auf ein Fließgewässer. Das Überqueren mit schwerem Gerät zu üben sei nötig, wenn die Nato überzeugend sein wolle. Hofmann glaubt an Abschreckung. „Aber Abschreckung hilft nur, wenn klar ist, dass die erprobten Szenarien jederzeit umgesetzt werden könnten.“

Da dürfte es zuletzt gehapert haben. Im vergangenen Jahr ärgerte sich Hofmann, während er die Tagesschau sah: Bei der Bundeswehr schien nichts fliegen, schießen, schwimmen zu können. Hubschrauber, Gewehre, U-Boote – nur noch wenig war einsatzbereit.

Nato-Soldaten reden „gefechtssicher“ auf Englisch

„Die Bundesregierung hat das erkannt“, sagt Hofmann höflich. „Es wird besser.“ Aber es reicht ihm nicht. Der Sanitätsdienst der Bundeswehr beispielsweise sei einer der besten der Welt – nur leider viel zu klein für den Ernstfall. Und der Leopard-Panzer fährt in Deutschland mit Diesel, im Nato-Land Norwegen aber mit Kerosin. Schon bei einer Manöverübung ist die Treibstoffversorgung da schwierig, im Kriegsfall sowieso.

Hofmann befasst sich täglich mit solchen Fragen. Wie bekomme ich eine kroatische Kompanie in den deutschen Funk – und beide Truppen mit dem litauischen Netzwerk abgestimmt? Er wünsche sich, sagt der General, generell ein „höheres Maß an Interoperabilität“, soll heißen: Technik, Abläufe, Treibstoffe der einzelnen Armeen besser aufeinander abzustimmen. Dass alle Soldaten „gefechtssicher“ auf Englisch kommunizieren müssen, verstehe sich von selbst.

Nato-Truppen üben in Litauen das Überqueren von Flüssen mit Kampfpanzern.
Nato-Truppen üben in Litauen das Überqueren von Flüssen mit Kampfpanzern.
© AFP/ Malukas

Die litauischen Soldaten, die am Memelufer dabei sind, sprechen neben Englisch oft Russisch. Ein wenig abseits steht einer ihrer höchsten Generäle, Vitaljius Vaiksnoras. Als das Maschinengewehrfeuer verstummt ist, nähert er sich den Reportern, die meist für osteuropäische Sender und Zeitungen arbeiten und deren Anreise – auch für den Tagesspiegel – die Nato organisiert hat. „Litauen muss schnell reagieren können“, sagt Vaiksnoras. „Und jedes Szenario erproben.“ Man verteidige die Nato-Ostgrenze gemeinsam, keiner der Verbündeten leiste sich da Schwächen.

Wenn die Zusammenarbeit in der Nato immer besser klappt, die Abschreckung funktioniert, dann, General Hofmann, gibt es keinen Krieg mit Russland?

"Besser wäre, der Westen macht Russland zum Kooperationspartner"

„Ein Krieg wäre eine Katastrophe für Europa, für die Welt“, sagt Hofmann. „Es wird ihn nicht geben, auch weil unser Signal der Geschlossenheit wirkt.“ In Moskau erkenne man, dass die großen Nato-Staaten hinter den Balten stünden. Scharfmachern in der Politik, die behaupten, Putin greife bald nach Narwa, der russischsprachigen Stadt im Osten Estlands, würde Hofmann entgegnen: „Das glaube ich nicht. Man muss militärischen Abenteurern zeigen, dass sie zu viel riskieren würden.“

Vielleicht hat Hofmann recht, wenn er behauptet: Abschreckung könne auch zu Dialog führen. Nachdem sich Trump und Putin kürzlich getroffen haben, kündigte der US-Verteidigungsminister an, mit seinem russischen Amtskollegen sprechen zu wollen. Aufbau und Abläufe in der russischen Armee hält Hofmann für „sehr systematisch“.

Hofmann war mal in Moskau, privat, 2005. „Beeindruckend“, sagt er, „die Sauberkeit, die Metro.“ Nun darf er nur nach Russland, wenn ihm das Verteidigungsministerium das nach Rücksprache mit den deutschen Geheimdiensten erlaubt.

Wenn alles nach Plan läuft, scheidet Hofmann im Herbst aus dem Dienst aus, Rentenalter. Zu dieser Zeit wird die Nato eines der größten Manöver jemals abhalten: 40.000 Soldaten üben in Norwegen für den Krieg, wieder Training in einem Staat mit einer Grenze zu Russland.

Hofmann muss zu einer Besprechung. Was er noch sagen möchte? „Im Westen hat man Angebote aus Russland oft ignoriert. Besser wäre, der Westen macht Russland zum Kooperationspartner.“ Die angespannte Lage derzeit – sie behagt dem Kommandeur nicht.

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