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Nahrung der Zukunft: Warum Insekten uns bald alle retten werden

Sechsfüßler auf Crème fraîche oder Grille Royal. Gerichte wie diese werden künftig häufiger auf unseren Tellern landen.

Ein bisschen gemein ist das schon. Draußen tauchen die letzten Sonnenstrahlen den Backsteinhof in ein honigfarbenes Licht. Unter den Sonnenschirmen servieren Kellner im Ganzen gegarten Blumenkohl, Ceviche von der Meerforelle oder zwöf Stunden geschmortes Duroc-Schwein. Im „Katz Orange“ verdichtet sich die kulinarische Gegenwart.

Drinnen im Seitenflügel hingegen: Seminar-Atmosphäre. Kunstlicht, Resopaltische, 25 Menschen, die beim „Contemporary Food Lab“ ihre Nasen in eine Ampulle mit Wasserwanzen-Aroma halten. Dazu schauen sie Bilder von thailändischen Märkten an, wo sich Grillen, Grashüpfer und anderes vielbeiniges Getier in Plastikwannen stapeln. Eine Verkostung von Bienenlarven steht auch auf dem Programm. So könnte die Zukunft des Essens aussehen. Zumindest glauben das gerade viele.

In Europa haben sich Insekten als Nahrung noch nicht durchgesetzt

„Insects. Disgusting, Delicious, Sustainable?“ heißt der Workshop von Andrew Müller, dessen T-Shirt die Raupe eines Totenkopfschwärmers zeigt. Als Jugendlicher hat er die Schmetterlinge mal gezüchtet und später in Laos auch gegessen. Entomophagie ist das Fachwort für den Verzehr von Insekten – und der erlebt einen Hype, der jetzt mit etwas Verspätung auch in Deutschland ankommt. Und weil Andrew Müller nicht nur eine achtmonatige Forschungsreise durch Südostasien hinter sich hat, sondern gerade auch an seiner Abschlussarbeit in Soziologie über das Thema schreibt, sagt der 30-jährige Berliner: total eurozentrisch, unser Konzept der Entomophagie.

Etwa zweieinhalb Milliarden Menschen auf der Welt essen regelmäßig Insekten. In Asien, Afrika und Lateinamerika gehören die wechselwarmen Tierchen fest zum Speiseplan. Weil sie geschmacklich interessant und besonders nahrhaft sind. Hornissenlarven und Riesenwasserwanzen gelten in Laos und Thailand als Delikatessen. In Mexiko ruht der Wurm nicht nur im Mezcal, sondern auch zerstoßen im Salz auf der Limette, die zum Kurzen gereicht wird. Nach den Escamoles, Ameiseneiern, lecken sich Feinschmecker die Finger. In Uganda werden manche Käfer deutlich teurer gehandelt als Rindfleisch.

Ekel vor dem Krabbelvieh

Nur Europäer und Nordamerikaner konnten bislang keinen rechten Appetit auf Krabbler und Kriecher entwickeln, weswegen dem Begriff Entomophagie, der Ende des 19. Jahrhunderts entstand, auch etwas Abwertendes anhaftet. Dabei gab es durchaus Traditionen, an die man anknüpfen könnte. Aristoteles war ein eifriger Zikadenesser, bei Wilhelm Busch kommt noch eine Maikäfersuppe vor, die nach Krabben geschmeckt haben soll. Noch heute gibt es Milbenkäse wie Würchwitzer oder Mimolette, bei denen die mikroskopisch kleinen Gliederfüßler mit ihren Enzymen den Reifungsprozess vorantreiben.

Warum hat der Westen einen kulturell habitualisierten Ekel gegen Insekten entwickelt? Darüber kann man nur spekulieren, sagt Müller. Es mag mit der Christianisierung zu tun haben, Stichwort Heuschreckenplage. Die Urbanisierung könnte eine Rolle spielen. Durch sie wurden Insekten vor allem als Ungeziefer wahrgenommen. Und dann das Klima: Die Winter sind zu kalt für Insekten, und so groß wie eine laotische Riesenwasserwanze wird der gemeine Junikäfer nicht – den Müller gegrillt empfehlen kann. Er sammelt sie manchmal auf dem Tempelhofer Feld.

Aristoteles war ein eifriger Zikadenesser

Die Rezeptideen für Speisen mit Insekten stapeln sich.
Die Rezeptideen für Speisen mit Insekten stapeln sich.
© Chris Tonnesen aus "On Eating Insects", Phaidon

Die Frage, weswegen das Thema gerade so präsent ist, lässt sich leichter beantworten. Da war einmal die Publikation „Edible Insects: Future Prospects for Food and Feed Security“, mit der die FAO, die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, 2013 alle Download-Rekorde sprengte. Sie pries Insekten als äußerst wertvolle Nahrungsquelle an. Bei aller Unterschiedlichkeit sind sie reich an wertvollen tierischen Proteinen, Vitaminen und Mineralien. Und nachhaltig sind sie obendrein. Insekten sind zu 80 Prozent essbar, und die Tierchen brauchen pro Kilo essbares Gewicht nur zwei Kilo Nahrung. Bei Rindern sind es acht Kilo. Die Zucht würde also vergleichsweise wenig Ackerfläche für Futter und Wasser beanspruchen. Und nach allem, was man bislang weiß, dürften sie sich auch im großen Maßstab gut züchten lassen.

Ameise auf Kohlblatt und mit Crème fraîche

Mindestens so wichtig für den Insektenhype war allerdings eine Ameise, die 2011 den Atlantik überquerte. Die brachte der brasilianische Starkoch Alex Atala nach Kopenhagen mit und ließ sie bei einer Veranstaltung verkosten. René Redzepi, der einflussreichste Koch des letzten Jahrzehnts, probierte – und war begeistert. Sie schmeckte frisch und leicht säuerlich. Redzepi vermutete, dass Atala sie mit Zitronengras gefüttert hätte, so intensiv war ihr Aroma. Hatte er aber nicht. Redzepi kreierte einen „Ameisengang“: Serviert wurden die Sechsfüßler auf einem Kohlblatt mit Crème fraîche. Und er fermentierte Ameisen zu einer Paste, die er ob ihres säuerlichen Geschmacks als Ersatz für importierte Zitrusfrüchte verwendete. Denn seine Küche folgt dem strengen Diktat der Regionalität. Das von ihm initiierte Nordic Food Lab hat dieses Jahr auch einen opulenten Band über das Essen von Insekten herausgegeben: „On Eating Insects“ (Phaidon).

All das blieb nicht ohne Folgen. Tatsächlich lässt sich ein Gründerboom beobachten. Schlagzeilen machten die Mehlwurmburger, die man in der Schweiz seit August in den Coop-Supermärkten kaufen kann. Hackbällchen sollen folgen. Der Hersteller, Essento, hat auch ein Kochbuch herausgegeben (Christian Bärtsch, Adrian Kessler: „Grillen, Heuschrecken & Co“, AT Verlag) In Belgien und den Niederlanden gibt es längst zahlreiche Insektenzüchter und Hersteller von Produkten wie Chips, Riegel und Mehl.

Neues Gesetz erleichtert den Insektenverzehr

Deutschland hinkt da etwas hinterher. Denn hier wurde die europaweite Novel-Food-Verordnung strenger ausgelegt als in anderen Ländern. „Sie wurde 1997 erlassen, vorwiegend, um das in Verkehrbringen von genetisch modifizierten Organismen zu regeln“, erklärt Birgit Rumpold von der TU Berlin, die jüngst die Konferenz „Insecta“ in Berlin mitorganisierte. Wenn ein Lebensmittel bis Mai 1997 innerhalb der EU nicht in nennenswertem Umfang auf dem Markt war, galt es fortan als zulassungspflichtig. „Dadurch wurden auch viele Produkte, die außerhalb Europas traditionell verzehrt werden, wie exotische Früchte oder Insekten ausgeschlossen.“ Und müssen damit einer Sicherheitsprüfung unterzogen werden, bevor sie auf den Markt kommen können.

Doch mit dem komplizierten Genehmigungsverfahren ist es bald vorbei. Ab 1.1. 2018 tritt eine neue Novel-Food-Verordnung in Kraft, die Insekten einschließt. Schon jetzt positionieren sich Anbieter, jüngst brachte das Kölner Start-up „Swarm Protein“ einen Riegel für Sportler auf den Markt. Die getrockneten und gemahlenen Grillen stammen laut Hersteller von Kleinbauern aus Thailand. „Wicked Cricket“ aus München verkauft seit Frühjahr geröstete Heimchen als Knabberkram mit drei Geschmacksrichtungen.

Mehlwurm-Bolognese und Crème Brûlée aus Larven

Menschen, die auf proteinreiche Ernährung achten, kommen hier auf ihre Kosten.
Menschen, die auf proteinreiche Ernährung achten, kommen hier auf ihre Kosten.
© Chris Tonnesen aus "On Eating Insects", Phaidon

Ob wir also bald Mehlwurm-Bolognese essen? Birgit Rumpold mag da nicht groß spekulieren. „Ich kann mir schon vorstellen, dass das Essen von Insekten trendy wird, so wie Sushi, besonders für Menschen, die sich proteinreich ernähren wollen.“ Das passe ja auch zur Paleo-Ernährung. Womöglich größeres Potenzial hätten Insekten aber als Futtermittel: „Insekten sind die natürliche Nahrungsquelle von Vögeln und Fischen. Sie könnten ein nachhaltiger Ersatz für Fischmehl und Soja werden. Im Augenblick ist das aber noch zu teuer.“

Gefragt, ob die gehobene Küche vielleicht ein Vorreiter beim Insektenessen sein werde, winkt der Berliner Sternekoch Tim Raue ab: "In der Lebensmittelindustrie spielt das vielleicht eine Rolle, um den Proteinwert von Produkten zu erhöhen", sagt er. Gleichzeitig glaubt er aber nicht, dass Insekten in den kommenden Jahrzehnten in unseren Breiten auf dem Teller landen werden. "Bei den meisten Deutschen lösen Insekten, wie sie zum Beispiel auf den Märkten in Bangkok als Snack zu haben sind, einfach zu viel Ekel aus."

Gebacken, blanchiert oder zerstoßen - Insekten eignen sich für fast alles

Im Contemporary Food Lab liegt ein aufgeschnittener Bienenstock auf dem Tisch. Viele Larven wurden daraus entfernt, manche stecken noch in den Waben. Klein, weiß und länglich sind sie. Die Bienen, die sie mal bald hätten werden können, kann man schon ganz gut erkennen. Für die Imker ist der sogenannten Drohnenschnitt wichtig. So schützen sie ihre Völker vor der Varroamilbe. Einige hundert Tonnen Drohnenmaden landen jährlich als Abfall auf dem Müll, erklärt Andrew Müller. Als Lebensmittel sind sie nicht zugelassen. Noch nicht.

Dabei kann man sie vielfältig einsetzen. An diesem Abend in Berlin gibt es die Larven knusprig als Granola gebacken, dann kurz blanchiert als Topping für einen Spinatsalat und schließlich zerstoßen als Crème Brûlée. Alle Teilnehmer probieren, manche vorsichtig, andere forsch. Ekel ist kaum ein Thema. Die Gruppensituation mag helfen, Schwellenängste abzubauen. Und tatsächlich schmecken die kleinen Larven gut. Eher zart im Aroma, leicht süß, nussig.

Mit den Bienenlarven wird man nicht die Nahrungssicherheit der Welt gewährleisten. Aber man fängt an, die richtigen Fragen zu stellen: Wo kommt unser Essen her? Wie ist sein ökologischer Fußabdruck? Woher kommt Ekel? Und kann man ihn auch überwinden? im Workshop sagt jedenfalls keiner: Igitt.

Mitarbeit: Moritz Honert

Felix Denk

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