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Auf der grünen Wiese: Die meisten Gründer in Berlin starten als Ein-Mann-Betrieb.
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Exklusiv

Hauptstadt der Gründer: Frische Ideen aus Berlin

In Berlin sind in den vergangenen Jahren so viele neue Unternehmen entstanden wie nirgends sonst in der Republik. Das geht aus Berechnungen der bundeseigenen KfW-Bankengruppe für den Tagesspiegel hervor.

Dazu gehört viel Mut: 2008 kündigte Jens Begemann seinen leitenden Posten in einer Berliner Internetfirma, um endlich sein eigenes Unternehmen zu gründen. Das wollte der Mittdreißiger schon immer. Er und seine Mitgründer setzten ihre Ersparnisse und all ihre Energie ein. Heute ist World of Gaming, kurz: Wooga, einer der größten Spieleanbieter im sozialen Netzwerk Facebook. 2011 sammelte Wooga noch einmal 24 Millionen Dollar Risikokapital ein. Inzwischen beschäftigt das Start-up 150 Mitarbeiter aus 28 Nationen. In diesem Jahr will Begemann 100 weitere Stellen in Berlin schaffen.

Gidsy, 6Wunderkinder, Amen oder eben Wooga heißen die neuen In-Unternehmen in der Stadt. Sie sind der letzte Schrei im Internet. Andere Gründer liefern Getränkekisten, braten Würstchen oder reparieren tropfende Wasserhähne – und sind plötzlich ihr eigener Chef. 2011 sind fast 49 000 Berliner den großen Schritt gegangen – das waren so viele wie noch nie seit Beginn der Zählung.

Berlin, bislang die Hauptstadt der Hartz-IV-Empfänger, wird plötzlich zur Hauptstadt der Firmengründer. Nicht nur im historischen Vergleich, auch bundesweit liegt Berlin in Sachen Existenzgründung an der Spitze. Zwischen 2006 und 2010 gab es in keinem Bundesland bezogen auf die Bevölkerung mehr neue Selbstständige, wie die KfW-Bankengruppe exklusiv für den Tagesspiegel am Sonntag berechnet hat. 2,7 Prozent der Menschen zwischen 18 und 64 Jahren haben an der Spree eine Firma gegründet. In Hamburg waren es 2,5 Prozent, in Bremen 2,0 Prozent. „In Ballungsräumen gibt es einen großen Absatzmarkt, genügend Arbeitskräfte und kurze Transportwege, deshalb ist die Gründungsquote dort höher“, erklärt Norbert Irsch, Chefvolkswirt der KfW. Vor allem in Berlin – hier werden 50 Prozent mehr Firmen gegründet als im Schnitt der übrigen Republik.

Das Aushängeschild der Gründerszene ist die Internet-Wirtschaft. Junge, kreative Menschen treffen sich hier, angezogen von der Aufbruchstimmung in der Stadt, von den geringen Mieten und Löhnen. Branchenkenner sehen Berlins Szene gleichauf mit New York und San Francisco. Sie ist das neue Kapital einer Stadt, die ihren Vorkriegs-Nimbus als wichtigste Industriemetropole Europas durch die Teilung wohl für immer eingebüßt hat.

Der jahrelange Niedergang der Wirtschaftskraft scheint aber nun gestoppt, es wächst etwas Neues. Das ist wichtig, denn vor allem Konzernzentralen mit ihrer Strahlkraft fehlen, den letzten Dax- Konzern verlor Berlin 2006, als Bayer Schering schluckte. „Vermutlich wird nicht jede Internet-Firma das nächste Google sein“, sagt Wirtschafts-Staatssekretär Christoph von Knobelsdorff nüchtern. „Aber es gibt die Chance, dass welche dabei sind, die morgen für eine hohe Wertschöpfung am Standort Berlin sorgen.“ Einen sich selbst verstärkenden Effekt beobachtet Hartmut Mertens, Chefökonom der Investitionsbank Berlin. „Berlin ist hip, das zieht Touristen und Kreative an. In der zweiten Welle kommen nun Kapitalgeber und Leute, die etwas von Dauer schaffen wollen.“

Doch nicht jeder Jungunternehmer sitzt im schicken Loft in Mitte und wartet darauf, von Google übernommen zu werden. Die meisten neuen Firmen entstehen in den Branchen Bau, Handel und wirtschaftliche Dienstleistungen – darunter vor allem das Gastgewerbe. Der typische Gründer eröffnet einen Ein-Mann- Betrieb, ist in zwei von drei Fällen männlich, jünger als 44 und Facharbeiter. Nur die wenigsten – zwei von hundert – kommen mit einer echten Weltneuheit an den Markt. Und nach drei Jahren ist jeder Dritte bereits wieder verschwunden.

Die meisten starten ohnehin nicht aus Überzeugung, sondern aus Verzweiflung. In Städten wie Berlin gebe es „mehr Notgründungen von Leuten, die ansonsten keine Perspektive sehen“, weiß KfW- Experte Irsch. Viele versuchen es einfach – mit einem Kiosk, als Änderungsschneider oder als Pächter einer der großen Imbiss-Ketten wie Subway. Oder sie arbeiten in einem Mini-Job und betreiben das eigene Unternehmen nur im Nebenerwerb vom Wohnzimmer aus.

Zwar gibt es in Berlin ein breites Beratungsangebot für Firmengründer, von der Industrie- und Handelskammer bis zu privaten Crashkursen. Doch die Arbeitsagenturen wissen um das häufige Scheitern der jungen Firmen. Angesichts der auch in der Hauptstadt immer besseren Arbeitsmarktlage raten sie im Zweifel eher zum festen Jobs als zum Abenteuer Unternehmertum. Hinzu kommt, dass sie ihre Zuschüsse für die Gründer drastisch zurückgefahren haben, im März bekamen nur noch 67 von ihnen die Förderung. Neue Rekorde bei den neuen Firmen wird es daher 2012 eher nicht geben. „Insgesamt dürfte die Gründerzahl eher zurückgehen“, erwartet Fachmann Irsch.

Ohnehin bringt ein Gründer-Boom zwar Schwung in die Unternehmenslandschaft – aber er hat nicht nur Vorteile. „Je mehr Selbstständige es gibt, desto geringer ist die Wirtschaftsleistung pro Kopf“, gibt Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung zu bedenken. Die Vorteile für einen Standort seien keinesfalls ausgemacht. Die höchste Selbstständigenquote Europas habe ausgerechnet Griechenland. „Berlin sollte sich andere Vorbilder suchen“, rät Brenke.

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