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Immer ansprechbar. Mit Plakaten wie diesen wirbt die Kassenärztliche Vereinigung (KV) für ihre Notrufnummer.
© imago images / Rolf Kremming

Die Nummer gegen die Corona-Angst: Wenn Opa sich weigert, ins Krankenhaus zu gehen

Halskratzen, Kontakt zu einem Corona-Patienten? Wenn die Leute nicht mehr weiter wissen, wählen sie den Notruf. Ein Blick in eines der Epizentren der Epidemie.

Es klingelt. Es klingelt ein zweites Mal. Dann meldet sich der Herr mit den Worten: „Der ärztliche Bereitschaftsdienst, guten Tag.“

Der Herr, ein schlanker Mann mittleren Alters, zurückhaltend gekleidet mit einer Vorliebe für bunt gemusterte Socken, hat eine sanfte Stimme. Und diese Stimme macht erstmal „Hm.“ Und wieder: „Hm.“ Auf seinem leicht ergrauten Haupt sitzt ein Headset, durch das er sich anhört, was ihm eine offensichtlich besorgte Mutter an diesem Vormittag berichtet.

Der Herr, nennen wir ihn Eins, weil es nicht wichtig ist, wie er heißt, sitzt in einem Raum mit drei weiteren Mitarbeitern der Koordinierungsstelle der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Brandenburgs und nimmt Anrufer entgegen, die direkt 116117 gewählt haben oder von der 112 zur 116117 weitervermittelt worden sind. Ihr Arbeitsplatz befindet sich in einem großen Bürogebäude im Norden Potsdams.

Die Nummer gibt es schon länger. Sie wurde eingerichtet, um Patienten von den Rettungsstellen fernzuhalten. Seit Anfang des Jahres ist sie rund um die Uhr erreichbar. Aber erst jetzt in der Corona-Krise und seit Bundesgesundheitsminister Jens Spahn sie offiziell zur Anlaufstelle für Gesundheitsfragen ernannt hat, stehen die Apparate auch in Potsdams KV-Zentrale nicht mehr still.

Der Opa weigert sich, ins Krankenhaus zu gehen

Und während Eins also zuhört und „Hm“ brummt, weil die Person am anderen Ende offenbar einiges zu erklären hat, tippt Zwei neben ihm die Adresse eines Anrufers in seinen Computer, Drei gegenüber am Fenster redet sehr laut mit einer älteren Dame, die starke Schmerzen hat und ihm beinahe ohnmächtig wird, und Vier klärt gerade einen Kollegen über das übliche Prozedere bei einem Weigerungsfall auf. Der Opa weigert sich, ins Krankenhaus zu gehen, obwohl seine Enkelin auf einem Krankentransport besteht. Die Frage ist nun: Soll der Rettungswagen ausrücken?

Der Kollege ist aus einem Nebenraum in diese Schaltzentrale geeilt, denn in zwei weiteren Zimmern versuchen Calltaker und Disponenten wie hier, den Ansturm zu bewältigen, den der Coronavirus auf das Gesundheitssystem ausgelöst hat.

„Hm.“

Eins ist ein Calltaker. Das bedeutet, dass er keine medizinische Ausbildung hat, sondern Fälle entgegennimmt, „um sie an die richtige Versorgungsebene zu vermitteln“, wie seine Chefin Andrea Albrecht seinen Job beschreibt. Kurz gesagt: Um herauszufinden, was die Menschen wollen.

Anders die Disponenten. Sie sind medizinische Fachkräfte, haben langjährige Erfahrungen als Rettungssanitäter, Intensivmediziner oder in Notaufnahmen hinter sich. Ihre Aufgabe ist es, die Gefahr eines leiblichen Problems einzuschätzen, mit dem sich ein Mensch an sie wendet.

Die Palette an Ratschlägen reicht von „Nudeln essen ist blöd, Gemüsebrühe ist wichtig, um den Elektrolytehaushalt aufzubauen“ bis „Natürlich können Sie zum Arzt gehen“ oder auch: „Schönen Gruß an Ihren Hausarzt, und sagen Sie ihm, dass er Sie nicht abweisen darf.“ Drei hat als Rettungssanitäter die entsprechend forsche Stimmlage, um solchen Worten das Gewicht der Unausweichlichkeit zu verleihen.

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Eins ist ein anderer Typ. Er hat die Lebensleistung eines Krankenkassen-Angestellten hinter sich. Nach seiner vorgezogenen Pensionierung fragte er sich, ob er es dabei belassen sollte. Er fand: Nein. So landete er bei der 116117. Jetzt hat er im Gegensetz zu früher sogar einen systemrelevanten Job.

Wenn nur die brandenburgische Landesregierung das genau so sehen würde. Doch im Moment ist die Koordinierungsstelle wie überhaupt die ganze KV nicht in die Liste der kritischen Infrastruktur aufgenommen. Dabei stellt sie den Notruf-Service per Gesetz bereit.

Während sich vor der Corona-Epidemie im Durchschnitt 4000 Hilfesuchende in der Woche an die Koordinierungsstelle wandten, sind es jetzt 1300 bis 1400 pro Tag. Vor allem nach 19 Uhr schnellt die Rate in die Höhe. Dann haben die Arztpraxen geschlossen, und die Leute suchen nach Bereitschaftsärzten in ihrer Nähe.

Bislang, Stand Dienstagnachmittag, wurden in Brandenburg 114 Menschen positiv auf das Coronavirus getestet.

„Hatte Ihr Kind Kontakt zu einer mit Corona infizierten Person?“, fragt Eins jetzt. „Nein? Dann hat ihr Kind nicht Corona, sondern einfach nur Fieber.“

Als die Mutter am anderen Ende sich für die Aufregung entschuldigt, die sie gerade verbreitet habe, und fragt, ob es vielen Menschen derzeit ebenso gehe, erwidert Eins höflich, dass mehr Leute Grippe hätten, aber mehr Leute wegen Corona anriefen.

„Haben Sie Symptome?“

Nur eine Stunde an dieser Schaltstelle der Krise, einer Art epidemischen Sorgentelefon, macht deutlich, wie sehr die gegenwärtige Situation vertraute Sicherheiten zertrümmert. Der bei weitem größte Teil der Anrufer, sagt Andrea Albrecht, habe Angst – davor „nicht wahrgenommen, abgewiesen zu werden“.

Nicht, dass sie Menschen von der 116117-Zentrale nicht auch abweisen würden. Aber es fühlt sich für die Betroffenen nicht wie eine Abweisung an. Das ist der Trick.

„Wie kann ich Ihnen helfen“, sagt Drei, der Rettungssanitäter nach einem erneuten Klingeln und verstummt.

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„Hm“, sagt er, zuhörend.

„Gibt zwei Möglichkeiten“, hebt Drei schließlich an. „Entweder, Sie gehen arbeiten, oder Sie rufen Ihren Hausarzt an und lassen sich krankschreiben…“

„Haben Sie Symptome?“, fragt Eins an seinem Platz gegenüber.

„Ja“, sagt Drei, „wenn Sie sich nicht in der Lage sehen zu arbeiten, müssen Sie sich an den Hausarzt wenden…“

„Ohne Symptome gibt es auch keinen Anlass, einen Test durchzuführen.“

„Das kann ich natürlich nicht für Sie entscheiden…“

„Die Quelle wäre natürlich interessant.“

„Ganz entspannt. Sie können ihren Arbeitgeber doch anrufen, um ihm zu sagen, dass der Hausarzt Sie erst um 13 Uhr untersuchen kann…“

„Das kommentiere ich jetzt nicht…“

„Der entscheidet dann, ob Sie einen Tag zuhause bleiben oder eine Woche… Ganz genau. Tschüs.“ So geht das hin und her. In Wellen branden die Gespräche an. Nach einer solchen Aufwallung geballter Sorgen, die an jedem der vier Plätze mit derselben Geduld wieder eingeebnet werden, versinkt der Raum manchmal minutenlang in Stille.

Dann klingelt es wieder.

Einmal ist der Mitarbeiter einer Brandenburger Klinik am Apparat, ein Radiologe, will wissen, ob er als Urlaubsrückkehrer aus einem Risikogebiet einen Test machen solle. Da sind die Hotliner überfragt. Es ist nicht ihre Sache, das zu empfehlen. Aber der Krankenhausmediziner kann in seinem Haus niemanden erreichen. Keiner spreche mit ihm.

Dieses Problem haben derzeit viele. Sie wollen Antworten.

Ihr größter Gegner ist die Desinformation

„Praktische Lebensberatung“, nennt Andrea Albrecht, was sie und ihre Kollegen im Schichtdienst betreiben. Fragt man die 41-Jährige nach den Gründen für die sich ausbreitende Panik, dann spricht sie von einer Service-Mentalität der Menschen, die sich auf ihre eigene Gesundheit ausgedehnt habe. „Die Hilfe zur Selbsthilfe, die man von Omas Kraftsuppe her kannte, ist ein Stück weit verloren gegangen.“

Dabei ist die Sache ganz einfach. Man ist entweder krank oder ist es eben nicht. Bei entsprechenden Krankheitssymptomen hat man entweder den Covid-19 in sich oder einen ordinären Influenza-Virus. Auf den bloßen Verdacht hin, wird kaum jemand getestet. Denn der Test hat medizinisch keinerlei Konsequenzen. Es gibt keine Therapie, die ein Arzt bei positivem Ergebnis anwenden könnte. Die Ergebnisse haben vor allem epidemologischen Wert, indem sie die Verbreitung des Virus sichtbar machen.

Man liegt im Bett und steht es durch. Wenn es hart kommt, ist es das Bett einer Intensivstation.

Trotzdem wollen die Leute Antworten, und der Test soll sie ihnen geben. Da ist zum Beispiel die Mitarbeiterin eines häuslichen Pflegedienstes. Ihr Hausarzt will sie nicht testen. Sie beschwert sich bei Eins, der seinen rollbaren Stuhl mit der hohen Rückenlehne Richtung Fenster gedreht hat. Die aufgebrachte Frau sagt, dass ihr Chef gerade aus Österreich zurückgekehrt sei. Das müsse als Grund doch genügen.

Eins kann nur wiederholen, was er an diesem Vormittag wohl hunderte Male schon gesagt hat, nur diesmal etwas förmlicher, dass „anhand der Symptomatik vom Hausarzt eingeschätzt wird, welche Schritte notwendig sind“. Was bedeutet: Der Arzt entscheidet. Punkt.

Ist doch wie immer.

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Die Ärzte im Land werden überrannt von Leuten, die Husten oder erhöhte Temperatur hatten, und ihre Arbeitgeber fordern einen Test mit negativem Ergebnis, damit sie weiterarbeiten können. Kosten eines Abstrichtests: 59 Euro. Und die Labore können nur eine bestimmte Anzahl an Tests pro Tag bewältigen. Ärzte gehen also vorsichtig mit dieser Ressource um. Die Kapazitäten sind zu knapp, um bloß die Befürchtungen von Arbeitgebern zu zerstreuen.

Hektisch wird es in der Telefonhilfe selten. Die Leute kennen sich als Notfallexperten mit Stress aus, lassen ihn abperlen, dächten stets „lösungsorientiert“, wie Albrecht sagt. Ihr größter Gegner ist die Desinformation. Eins hat jetzt einen Herrn an der Strippe, der das Bundesgesundheitsministerium erreichen will. Er habe einen Flyer, auf dem stehe, das jedermann getestet werde.

Eins holt tief Luft, rückt seine runde Brille zurecht: „Ich kann Ihnen nur sagen, wenn Sie das Bundesgesundheitsministerium erreichen wollen, ist das hier die falsche Telefonnummer.“

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