BVG-Chefin in Japan: Was Berlin von Tokio lernen will
So sauber wie Tokios U-Bahn? Wird die BVG wohl nie. Sigrid Nikutta möchte sich in Japan trotzdem etwas für den Berliner Nahverkehr abschauen.
Die Managerin Sigrid Evelyn Nikutta ist nicht der Typ, der gern Anweisungen entgegennimmt. Aber wenn ihr Gegenüber Berlins Regierender Bürgermeister ist und damit zumindest um drei Ecken auch Verantwortung trägt für die landeseigenen Verkehrsbetriebe BVG, die Nikutta führt, und wenn er freundlich „bitte“ sagt, kann es sein, dass sie mitspielt. So geschehen Anfang der Woche im fernen Tokio. Michael Müller erklärt „Sigrid“ nach einem spätabendlichen Streifzug durch das Vergnügungsviertel Shibuya, dass sie doch bitteschön die Fahrkarten organisieren solle, wenn sie schon unbedingt U-Bahn fahren wolle.
Mit ihrer Marotte, den öffentlichen Personennahverkehr zu nutzen, geht Nikutta Teilnehmern von Wirtschaftsdelegationen, die Müller auf Dienstreisen begleiten, regelmäßig auf die Nerven. Schließlich steht immer ein gemieteter Bus bereit, der bis ans Hotelbett fährt. Müller selbst hat damit kein Problem. Er geht im Zweifel sowieso am liebsten zu Fuß. Wann immer möglich, mache er sich von seiner Tagesordnung frei, um für ein paar Stunden die fremde Stadt zu „erlaufen“, erklärt eine Vertraute. Das war beim letzten großen Trip in Argentiniens Hauptstadt Buenos Aires so. Und so ist es auch in Tokio.
Doch Nikutta, seit bald neun Jahren Chefin der BVG, will eben Öffis fahren. Berufskrankheit. Und in Tokio hat sie neben Müller nun 20 weitere Begleiter im Schlepptau, von denen die meisten, genau wie sie, noch nie einen japanischen Fahrkartenautomaten bedient haben, geschweige denn wissen, wie man auf die Schnelle zum Hotel ins Nachbarviertel Shinjuku kommt.
Für seine U-Bahn ist Japans Hauptstadt weltberühmt, sie ist das wichtigste Massentransportmittel der Stadt, die mit ihren angrenzenden Kommunen als größte Metropolregion der Welt gilt. 38 Millionen Menschen leben hier.
Nikutta tippt auf den Touchscreen des Automaten und füttert ihn mit Yen-Scheinen, sie jubelt, als er die Fahrscheine ausspuckt und verteilt sie. Müllers Personenschützer hätten alles Recht der Welt, jetzt nervös zu werden in den U-Bahn-Katakomben einer fremden Riesenstadt, wo eine Gruppe von 20 Europäern sofort auffällt, doch sie scheinen zu merken: Nikutta hat die Situation im Griff. Sie marschiert voran, der Tross hinterher, auch der Umstieg am nächsten Bahnhof klappt, alle kommen heil ins Bett.
Was derweil 8000 Flugkilometer westlich in Berlin passiert, könnte manchen verantwortlichen Manager um den Schlaf bringen. Es gibt Ärger um den Kauf von 1500 U-Bahn-Wagen. Sigrid Nikutta wirkt ausgeschlafen beim Morgentermin im fensterlos grauen Besprechungsraum im Wolkenkratzer der Tokioter Stadtverwaltung, wo Toei Subway residiert, eines von mehreren kommunalen Verkehrsunternehmen. Hier will sie alles wissen über U-Bahnen in einer Stadt, in der nur 20 Prozent der Bürger mit dem Auto fahren, da allein schon der Parkplatz in der City schnell rund 800 Euro im Monat kostet: Spurweiten der Gleise, elektronische Systeme für führerlose Züge, Zugangskontrollen, Umgang mit Videos der Überwachungskameras.
"Wer braucht das denn? Das machen wir alles digital"
Nikutta trägt, wie fast immer bei offiziellen Anlässen, das kleine gelbe BVG-Herz am Revers und einen Schal im Muster der U-Bahn-Sitze um den Hals. Bei Toei Subway wundert sie sich darüber, wie dicht nebeneinander die Verwaltungsmitarbeiter im Großraumbüro sitzen und darüber, dass die Verantwortlichen ihr einen mit winzigster Schrift bedruckten Fahrplan mit allen Abfahrtzeiten an allen Haltestellen zeigen. „Wer braucht das denn? Das machen wir alles digital.“
Sie staunt darüber, dass zwischen Mitternacht und halb sechs Uhr morgens in Tokio nichts mehr fährt: keine U-Bahn, kein Bus, auch nicht die einzige Straßenbahn-Linie. „Unser Ziel ist es, auch nachts jeden Ort in Berlin im 30-Minuten-Takt anzubinden“, sagt sie – und erntet erstmals an diesem Tag ein Lachen von ihren sonst sehr kontrollierten Gesprächspartnern.
Auf dem Weg unterm Regenschirm zum nächsten Verkehrskonzern regt sie sich ein bisschen auf über Berliner Presseberichte, die sie auf dem Handy gelesen hat: Die Ausschreibung zum Kauf von bis zu 1500 U-Bahnen bis zum Jahr 2030, die ihr Aufsichtsrat beschlossen hat, sei geplatzt, steht da. Zumindest um Wochen verschoben.
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Der größte Beschaffungsauftrag in der Geschichte der stolzen BVG, gegründet 1928, sei nicht „geplatzt“, sagt Nikutta. Der BVG-Aufsichtsrat wollte dem Zugbauer Stadler in Pankow den Zuschlag für den Rahmenvertrag erteilen. Die französische Firma Alstom, der bei der U-Bahn-Ausschreibung unterlegene Anbieter, werde die Entscheidung nun juristisch überprüfen. „Es ist ganz normal, dass ein Unternehmen, das bei einer solch großen Ausschreibung unterliegt, eine Prüfung beantragt.“ Das sei legitim. Alles in diesem „strengstens formalisierten Verfahren“ sei mit rechten Dingen zugegangen.
Sigrid Nikutta, geboren in Polen, aufgewachsen in Besenkamp, einem winzigen Ortsteil der Gemeinde Enger bei Bielefeld in Nordrhein-Westfalen, ist eine Exotin in der Verkehrs- und Transportbranche, ja der Berliner Wirtschaft insgesamt. Als promovierte Psychologin wollte sie eigentlich früher in Gefängnissen arbeiten, sagt sie. Aber ihre Karriere führte sie zur Logistik, weil sie ihre Liebe zu großer Technik und komplexen Organisationsabläufen entdeckt habe. So wurde sie in den 90er Jahren Managerin bei der Deutsche-Bahn-Tochter DB Cargo, 2010 rückte sie an die Spitze der BVG.
„Wie spät ist es jetzt in Deutschland?“, fragt sie im Fahrstuhl, sie will ihre Chefjuristin anrufen und fragen, wie es in der Heimat wirklich läuft. „Noch tiefste Nacht“, lautet die Antwort. Dann geht es weiter ins nächste Hochhaus, zum Besuch bei der Tokyo Metro, einem Verkehrsunternehmen, das dem japanischen Staat und der Stadt Tokio gehört.
Ein wohl 15 Meter langer dunkler Holztisch, schwere Ledersessel, die Flaggen Deutschlands und Japans: Tokyo-Metro-Vorstandschef Ahiyoshi Yamamura empfängt Nikutta wie einen Staatsgast. Der ältere Herr berichtet, er habe vor zehn Jahren einmal Berlin besucht. „Eine sehr angenehme Erfahrung.“ Auch Nikutta schwärmt freundlich von seiner U-Bahn, vor allem wie sauber sie sei. Das ist keine Selbstverständlichkeit: Immerhin befördert Tokyo Metro einen großen Teil der insgesamt 8,5 Millionen Fahrgäste täglich. „Nur“ rund 1,5 Millionen Fahrgäste pro Werktag befördert Berlins U-Bahn, das ist mehr als die Hälfte des gesamten Verkehrs der BVG, die ja auch 1440 Busse, 365 Straßenbahnen und sechs Fähren betreibt.
Tokyo Metro musste Milliarden investieren, um Wände an der Bahnsteigkante aufzubauen, deren Türen sich erst öffnen, sobald der Zug steht. Dadurch habe man die Zahl der Suizide an Bahnhöfen spürbar reduzieren können, berichtet der Chef. Nikutta und ihre Begleiter staunen über einen Warteraum an Tokios ältestem U-Bahnhof Ueno, gebaut 1927: Blumen, Internetzugang, bequeme Hocker an Tresen, ein Getränkeautomat. Pendler sitzen hier, surfen im Internet. Still. „So ein Raum würde bei uns keine einzige Nacht unbeschadet überstehen“, sagt Nikutta. Keine Zigarettenkippe – Rauchen in der Öffentlichkeit ist nicht erlaubt –, keinen Kaugummi findet man in den endlosen Gängen der Metros.
Wenn auch die Dimensionen von Tokios Nahverkehr andere sind als die in der deutschen Hauptstadt, die Logistik hinter dem Berliner Betrieb ist nicht minder komplex als in Japan, wie bei einem Besuch in der Leitstelle der Berliner U-Bahn schnell deutlich wird. Diese residiert seit bald vier Jahren in einem geschwungenen Zweckbau an einer Berliner Adresse, die aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden soll. In drei Schichten, rund um die Uhr und 365 Tage im Jahr koordinieren ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter den Betrieb im immerhin größten U-Bahn-Netz im deutschsprachigen Raum: 173 Stationen, verteilt auf 146 Kilometer Strecke. Tokios U-Bahnen bringen es auf 590 Kilometer.
Knapp 20 Menschen haben gerade Dienst, fast jeder trägt Uniform: weißes Hemd, dunkelblaue Weste – obwohl das nicht mehr verpflichtend wäre. Jeder Kollege sitzt an einem ergonomisch geschwungenen Schreibtisch vor einem halben Dutzend Bildschirmen. Auf vieren davon hat jeder eine schematische Darstellung seines Linienbereiches, den er gerade betreut. Von U1 über U5 und U55 bis U9. Weitere Kollegen behalten das große Ganze im Blick und halten Kontakt zur Fahrzeugabteilung, zur Leitstelle für Busse, Straßenbahnen und zur Sicherheitsabteilung. Klebten auf einem Bildschirm nicht eine Miniatur-U-Bahn aus gefalteter Pappe und auf einem anderen zwei Playmobil-Männchen mit BVG-Westen – könnte man sich auch auf dem Raumschiff Enterprise wähnen.
Grün bedeutet pünktlich, rote Züge haben Verspätung
Die Züge auf den Bildschirmen sind durch kurze Striche gekennzeichnet: Sind diese grün, sind sie pünktlich im Fahrplan unterwegs. Gelb bedeutet, sie sind mehr als 90 Sekunden aus dem Takt, Rot: mehr als drei Minuten. Bei Abweichungen kann die Leitstelle Kontakt zu der Fahrerin oder dem Fahrer aufnehmen. Es gibt kaum Rot gerade.
Leitstellen-Abteilungsleiterin Antje Michalak sagt, das Aggressionspotenzial der Berliner Fahrgäste habe in den vergangenen Jahren zugenommen. „Jeder fordert seine Rechte ein, mancher auch mehr als seine Rechte, und mancher auch mit Gewalt.“
Auch in Tokios Untergrund falle mal ein scharfes Wort, sagt ein Stationsleiter Sigrid Nikutta in seinem Bahnhofsbüro vor einer Wand mit Monitoren, die Bilder von Überwachungskameras zeigen. Zehn Tage würden die gespeichert, in Berlin sind nur zwei erlaubt. Aber insgesamt habe man kein Gewaltproblem, auch nicht mit Vandalismus.
Nach rund acht Stunden in Besprechungsräumen und unter Grund nimmt ein Teil von Sigrid Nikuttas Begleitern den direkten Weg zurück ins Hotel. Die BVG-Chefin aber hat noch nicht genug und schlägt sich durch zum Startpunkt der Arakawa-Linie, der einzigen verbliebenen Straßenbahn Tokios.
Die schrulligen Waggons stammen aus dem Jahr 1964, als die Linie für die Olympischen Sommerspiele gebaut wurde. Nikutta macht Handyfotos für die Kollegen daheim. „Die werden sich nicht mehr einkriegen vor Glück“, sagt sie.