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Ralph Ghadban bleibt vorsichtig.
© Jens Gyarmaty / VISUM

„Seid gnadenlos“: Kriminelle wollen einen Berliner Clan-Experten mundtot machen

Der Berliner Ralph Ghadban ist Experte für Clan-Kriminalität. Seit er dem libanesischen Fernsehen ein Interview gab, steht er unter Polizeischutz.

Es gibt Tage, bei denen erfährt man erst im Nachhinein, wie einschneidend sie waren. Für Ralph Ghadban ist der 8. April 2019 so ein Datum. Wie sehr der sein Leben veränderte, das wurde ihm erst zweieinhalb Wochen später klar. Seit dem 24. April kann man ihn nicht mehr einfach so besuchen. Wer eine Verabredung mit ihm ausmacht, der muss zunächst mit einem Anruf aus dem Berliner Landeskriminalamt rechnen. Ghadban steht unter Polizeischutz, der Ort dieses Treffens ist geheim.

Am 8. April war er im libanesischen Fernsehen zu sehen, in einem im arabischen Raum bekannten Politmagazin, das Thema diesmal war die Macht der libanesischen Mafia in Europa. Ralph Ghadban sprach über die kriminellen Machenschaften von Clans libanesischer Herkunft in Deutschland.

Ghadban wurde 1949 im Libanon geboren, er spricht neben Deutsch, Englisch, Französisch auch Arabisch und war per Skype zugeschaltet. Er hat im vergangenen Jahr ein Buch mit dem Titel „Arabische Clans – Die unterschätzte Gefahr“ veröffentlicht, zu diesem Thema ist er ein gesuchter Experte, und ein häufiger Gast im arabischen Fernsehen ist der Wissenschaftler ohnehin. Auch die Polizei im Westen schätzt ihn als Referenten. Die zentrale These seiner harschen Kritik: Es gibt Clans, die keinen Respekt vor dem deutschen Staat und seinen Institutionen haben, die sich von der Gesellschaft abschotten, sie als Beute betrachten.

Wie Abdulkadir O., das jüngste in Berlin auffällig gewordene Beispiel. Ein Mittdreißiger, der mit Frau und Kindern in Spandau in einer Wohnung seiner Großfamilie lebt, von der die Staatsanwaltschaft vor einem Jahr 77 Immobilien konfiszierte, weil sie mit Beutegeld gekauft worden sein sollen. O. soll, so die Vorwürfe, seine Nachbarn terrorisieren, sie anbrüllen, schlagen, Autoreifen zerstechen. Will O. die Wohnungen der verängstigten Nachbarn nach deren Auszug aufkaufen lassen – wie im Milieu üblich von einer unverdächtigen Strohfrau? Familie O. ist für immobilienbezogenen Terror bekannt.

In Berlin leben – je nachdem, wie weit der Begriff gefasst wird – zehn bis 15 einschlägige Großfamilien mit tausenden Angehörigen. Hunderte Männer dieser Familien sind als Mehrfachtäter aktenkundig. In seinem Buch zitiert Ghadban aus der Berichterstattung über Taten wie den Überfall auf das Pokerturnier im Hyatt 2010 oder den Diebstahl der Goldmünze 2017 aus dem Bode-Museum und die Verwicklung von Clans wie den Abou-Chakers und den Remmos in diese Fälle. Er selbst nennt keine Namen – solange das Verfahren schwebt.

Er identifizierte drei Urheber aus dem Clan-Milieu

Was am 24. April über Ghadban niederging, könnte man als Shitstorm abtun. Er mag den Ausdruck nicht. „Das klingt verharmlosend“, sagt er, „nach Facebook, nach Spielerei.“ Ghadban, grauhaarig, Seitenscheitel, Schnauzbart, nimmt sein Handy vom Tisch, scrollt durch Videobotschaften. Zum Beispiel dieser aufgeregte Mann. „Er beschimpft mich, ich hätte keinen Respekt bewiesen“, übersetzt Ghadban dessen arabische Worte. Sein elektronischer Briefkasten ist voll solcher Botschaften, manche enthalten unverhohlene Drohungen: Wir holen dich, wir kriegen dich, wir werden auf deinen Kopf treten, denn, „wo ihr ihn findet“, so ein Wortlaut, „seid gnadenlos“. Die Drohungen sind nicht anonym. Die Urheber nennen ihre Namen und ihren Heimatort. Libanon, Syrien, Türkei, sogar Nordamerika, vor allem aber zwei Regionen in Deutschland: Nordrhein-Westfalen und den Berliner Raum.

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Warum das erst zwei Wochen nach der Ausstrahlung des Interviews begann? Ghadban äußert einen Verdacht: Am 24. April sei die Familien-Union zusammengetreten, dieser Verein gründete sich vor elf Jahren in Essen, als eine Art Interessenvertretung der Clans.

Bis dahin gab es gelegentlich kritische Stimmen zu seinem Buch. So warf ihm ein Rezensent vor, zu pauschal in seinem kritischen Urteil über den Islam und die kriminellen Machenschaften libanesischer Migranten zu sein. Aber in der arabischen Gemeinde erhob niemand seine Stimme. Nie sei er physisch bedroht worden. Weder das Buch noch die Reaktionen der deutschen Medien seien dort zur Kenntnis genommen worden. Erst nach einem Treffen der Familien-Union, von der er sicher wisse, brach die Welle der Tiraden los. Die bezogen sich auf jene Sendung im libanesischen Fernsehen. Auch der Moderator wurde bedroht.

Ghadban ahnt, warum das so ist: Das Urteil der deutschen Gesellschaft sei den Clans gleichgültig. Nicht aber, was die libanesische Verwandtschaft denke. Ghadban identifizierte drei Urheber aus dem Clan-Milieu, er spricht von „den Bossen“, von denen die Videobotschaften ausgegangen seien. Er erstattete Anzeige. Seitdem wird ermittelt und offenkundig nimmt die Polizei den Fall sehr ernst. Sein Leben habe sich verändert, sagt Ghadban und weder aus seiner Mimik noch aus seinem Tonfall lässt sich ableiten, ob ihm das zu schaffen macht.

Untertauchen! Das riet ihm die Polizei

Die Polizei habe ihm als erstes geraten unterzutauchen, er hielt sich dran. Er überlege es sich genau, ob er die schützende Wohnung verlassen sollte. Er meidet öffentliche Orte und selbst ein Spaziergang um den Block ist plötzlich zum Risiko geworden. „Zum Glück“, sagt er mit einem Lächeln, „bin ich ein langweiliger Mensch ohne Hobbies“. Er gönne sich nur eine Leidenschaft: das Lesen. Dafür müsse er ja nicht nach draußen.

Inzwischen hat die Familien-Union eine Stellungnahme veröffentlicht, die man als Aufruf zu Mäßigung verstehen kann. Den Mitgliedern wird empfohlen, sich zu beherrschen und die Justiz einzuschalten, wenn sie sich beleidigt fühlen. Ghadban sagt, dass die Clans wohl erwartet hätten, er sei es, der zu belangen sei, weil er ihre Ehre verletzt habe. „Die haben gar nicht verstanden, warum von Seiten der Justiz nicht gegen mich vorgegangen wurde.“ An seiner Bedrohungslage habe das aber wenig geändert, denn auch diese Erklärung sei voller Zorn gewesen. Und schließlich sei ein Aufruf zur Gewalt, einmal im Internet veröffentlicht, schwer wieder zurückzunehmen.

Ghadban bleibt vorsichtig. Er spricht nicht über seine Familie, weder darüber, ob es hier eine gibt, noch über die in der alten Heimat. Er hat das noch nie getan, „weil meine Arbeit wichtig ist, nicht meine Person“. Nur so viel verrät er: er hat Ende der 60er Jahre in Beirut studiert, damals, vor dem Bürgerkrieg, eine wunderbare Stadt, freizügig in jeder Hinsicht. Die Aufbruchsstimmung unter den Studenten, man spürte sie auch dort. Jedenfalls sei Beirut 1000mal schöner gewesen als West-Berlin, wohin er 1974 mit einem Doktorandenstipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes kam. Hier wurde er schnell zu einem Experten für die arabische Migration, leitete die Beratungsstelle des Diakonischen Werks. Denn mit dem Beginn des Bürgerkriegs im Libanon 1975 kamen die Flüchtlinge.

Unter ihnen auch die Männer und Frauen, die das Milieu in West-Berlin begründeten. Sie zogen in die günstigen Viertel, nach Kreuzberg, Wedding und Neukölln. Einige lebten schon in Beirut als Flüchtlinge. Weil sie als Mhallami, einen arabischen Dialekt sprechende Familien aus der Türkei oder als Palästinenser aus Israel flohen. Entscheidend war und ist bis heute immer: die eigene Familie.

Am Rand der Gesellschaft eingerichtet

Die meisten, das bestätigen Gerichtsakten, sind heute deutsche Staatsbürger. Doch mindestens 100 Männer aus dem Milieu verfügen über libanesische Papiere – oder im Libanon ausgestellte Identitätskarten der UN-Einrichtung für palästinensische Flüchtlinge, die seit 1948 zu Hunderttausenden dort leben. Oft ist nicht zweifelsfrei zu klären, wer wo geboren und mit wem verwandt ist. Deutsche Ämter ließen sich zur Wendezeit die Namen regeloffen diktieren, die Transkription tat ihr Übriges: aus Katib konnte Kateb, Kathib oder Khateb werden.

West-Berlin sei Mitte der 70er eine seltsame Stadt gewesen, sagt Ralph Ghadban, es zerfiel in zwei Welten. Die aufgeklärte Welt der Studenten – und eine Welt voller Alltagsrassismus, der es für ihn gefährlich machte, die falsche Kneipe zu betreten. Damals sei mit einer verfehlten Integrationspolitik die Basis für das Entstehen dieser Parallelgesellschaft gelegt worden.

Aber damit könne man nicht alles erklären. Nicht, warum die Arbeitslosigkeit unter libanesischen Migranten so viel höher gewesen sei als unter den Einwanderern aus anderen Kulturen. Die Clans hätten sich am Rand der Gesellschaft eingerichtet, sähen gar keinen Grund mehr, diese Position aufzugeben, denn dort hätten sie ihre Stärke erlangt. Ghadban zeichnet das Bild einer Welt, die nach ihren eigenen Gesetzen funktioniert, in der Polizisten eingeschüchtert, Zeugen gekauft oder mundtot gemacht werden.

Wie diesem Phänomen noch beizukommen sei? Durch Mädchenarbeit vielleicht. Denn essentiell für die geschlossene Welt der Clans sei die Endogamie, die Ehe innerhalb der Großfamilie: Damit einher gingen oft die Verheiratung Minderjähriger sowie Zwangsehen. So etwas dürfe nicht zugelassen werden. Der andere Aspekt sei das neue Vermögensabschöpfungsgesetz, das seit 2017 gilt. Nun kann Eigentum schneller beschlagnahmt werden, wenn der Verdacht besteht, es sei mit illegalem Vermögen erworben worden. Ghadban sagt, ihm geht das Gesetz nicht weit genug – tatsächlich haben Ermittler in Italien umfangreichere Befugnisse.

Die Politik hat das Problem erkannt

In den Kiezen der Stadt, auch unter Ermittlern und Anwälten, wird seit 30 Jahren über die Abou-Chakers, Remmos, El-Zeins, Rabihs, Osmans, Charours geredet, wenn wieder wegen Nötigung, Raub, Körperverletzung, Diebstahl, Totschlag, Drogenhandel, Hehlerei, Steuerhinterziehung oder Sozial- und Versicherungsbetrug ermittelt wird. Rechtlich lässt sich ein „krimineller Clan“ nicht verbieten, offiziell verwendet die Polizei den Begriff nicht. Das Bundeskriminalamt, das BKA, arbeitet daran, für jene Täter einen Marker zu entwickeln: Dies wäre eine polizeiliche Definition für „Clan-Kriminelle“, mit Hinweisen zu Gefährlichkeit – so wie es das für Extremisten und Rocker gibt. Im Juni soll ein BKA-Lagebild erstmals ein Kapitel über Clans enthalten. Titel: „Kriminelle Mitglieder von Großfamilien ethnisch abgeschotteter Subkulturen.“

Mittlerweile wird das Problem von der Politik erkannt. Berlins Innensenator Andreas Geisel, SPD, intensivierte den Kampf gegen kriminelle Familienbanden in Neukölln, Wedding und Schöneberg und forderte die Bundesregierung auf, die Lage ernster zu nehmen. Plötzlich passiert in wenigen Monaten so viel wie in den Jahren zuvor nicht.

In Neukölln überprüfen Ordnungsamtsmitarbeiter einschlägige Shisha-Bars so oft, dass Clan-Männer aufs Späti-Geschäft ausweichen wollen. Noch vor einigen Jahren fürchteten Mitarbeiter des Bezirksamtes, von einem Mob umringt zu werden, wenn sie dem BMW einer bekannten Familie im Halteverbot zu nahe kamen – inzwischen rücken Polizeihundertschaften an, um die Strafzettelvergabe zu sichern. Immer öfter werden Luxusautos kontrolliert, um sie wegen technischer Mängel oder unklarer Besitzverhältnisse einzuziehen. Eine „Strategie der Nadelstiche“ hatten Staatsanwälte das genannt: Nicht auf den spektakulären Fang warten, sondern kleine Delikte konsequent verfolgen.

Über Clan-Kriminalität soll bei der kommenden Innenministerkonferenz gesprochen werden. Und an diesem Montag spricht Senator Geisel in Beirut mit libanesischen Spitzenpolitikern. Er will dort die Modalitäten klären, um islamistische Gefährder und mafiöse Clan-Männer ausweisen zu können.

Ralph Ghadban schiebt sich beim Abschied im Flur rasch an seinem Besucher vorbei. Er will als Erster an der Tür sein. Will er prüfen, ob jemand auf der anderen Seite steht? Er lächelt, nein, nein, er wolle nur die Tür entriegeln. Er habe es sich zur Angewohnheit gemacht, auch tagsüber abzuschließen.

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