Arabischer Clan aus Neukölln: Großfamilie R. – die Berliner Blutsbande
Issa R. gilt als Oberhaupt, er hat zig Geschwister und mindestens 13 Kinder. Die Immobilien seiner Familie haben Staatsanwälte beschlagnahmt. Doch der Clan wirkt weit über mutmaßliche Geldwäsche hinaus.
Offiziell arbeitet er im Baugewerbe und in der Gastronomie. Vor der gelbgestrichenen Villa am Berliner Stadtrand, in der Issa R. seit Jahren ein- und ausgeht, hängt eine Deutschlandfahne am Gartentor. Ermittler sagen, R. habe sich seinen Patriotismus gar auf dem Körper verewigen lassen: Auf seiner Brust prange angeblich ein tätowierter Bundesadler, dazu der Schriftzug „Ich bin ein Berliner“.
Die Großfamilie des Issa R. gilt als berüchtigster Clan Berlins. Angehörige wurden wegen Erpressung, Körperverletzung, Raub, Diebstahl und Hehlerei verurteilt. Die Villa in Alt-Buckow ist eine von 77 Immobilien, die vor einem Monat beschlagnahmt wurden – wegen des Verdachts, die R. hätten sie mit illegalem Geld erworben. Die Aktion könnte sich als massiver Schlag im Kampf gegen kriminelle Großfamilien erweisen. Vorausgesetzt, die Beschlagnahme hält einer gerichtlichen Prüfung stand.
Clans haben hochdotierte Anwälte. Diese behaupten gern, die Angst vor den kriminellen Großfamilien sei übertrieben, das Phänomen herbeifantasiert. Schließlich handle es sich bei Nachnamen wie Al-Zein, Miri, Abou-Chaker oder Omeirat eben um häufig vorkommende arabische Familiennamen. Man rechne ja auch nicht alle Straftaten sämtlicher Müllers oder Lehmanns einer Stadt zusammen und konstruiere daraus eine Clanzugehörigkeit. Warum dann bei Ali Khans und Chahrours, bei Osmans, Remmos und Rabihs?
Der Einwand der Anwälte klingt logisch. Aber trifft er zu? Oder lassen sich, wenn man genau hinschaut, doch konkrete Verwandtschaftsverhältnisse nachweisen und bestimmten Angehörigen eine Fülle schwerer Taten zurechnen – etwa bei Familie R.?
Die gelbe Villa in Alt-Buckow ist weiter bewohnt, gilt nach wie vor als Hauptquartier der Familie. Das 500 Quadratmeter große Grundstück liegt gegenüber einer alten Feldsteinkirche, in der Einfahrt parkt ein Mercedes-Bus, im Garten stehen Planschbecken, Schaukel und Grill. Issa R., der Patriarch mit dem tätowierten Bundesadler, zog hier vor sechs Jahren ein. Die Polizei ermittelte immer wieder. Ob R. je verurteilt wurde, ist unklar. Im Gegensatz zu etlichen seiner Söhne, Brüder, Neffen.
Nachbarn wurden bedroht
Wie die meisten arabischen Clans stammen die R. aus dem Libanon. Issas Vater Mohammed floh in den Achtzigern mit Frau und Kindern vor dem dortigen Bürgerkrieg. Schon in Beirut war er nur geduldet, seine Vorfahren waren Jahrzehnte zuvor aus Südanatolien geflüchtet, erhielten keine Arbeitserlaubnis, die Kinder gingen nicht zur Schule. Moralische Instanz und ökonomische Absicherung war immer nur die Familie.
Issa R. hat 15 Geschwister und mindestens 13 eigene Kinder. Die Villa in Alt-Buckow kaufte er nicht selbst, den Vertrag unterschrieb einer seiner Söhne, damals 19 Jahre alt und Hartz-IV-Empfänger.
Seit dem Einzug in die Villa wird regelmäßig die Polizei nach Alt-Buckow gerufen. Ermittler und Anwohner berichten von bizarren Szenen. Nachbarn wurden bedroht, ein angrenzendes Grundstück mit Müll beworfen. Issas Söhne brachen in einem nahen Supermarkt mit dem Einkaufswagen durch eine Kassenabsperrung.
Oder der Tag, als Fahnder ausrückten, um einen von Issas Söhnen wegen Mordverdachts festzunehmen. Vater und Sohn fuhren gerade im Auto durch den Norden Neuköllns, Beamte bremsten den Wagen aus und nahmen den Sohn mit. Vater Issa machte einen erleichterten Eindruck – und bedankte sich bei den Beamten, dass die Festnahme auf der Straße stattfand und nicht wieder seine Wohnungstür von einem Spezialeinsatzkommando zertrümmert wurde. Sorge um den Sohn zeigte er weniger.
Messerstechereien und Massenschlägereien
Vor einigen Jahren hat Issa R. häufig im Familien-Café an der Hermannstraße gesessen, damals war er ein Koloss von Mann und hielt gewissermaßen öffentlich Hof. Es war die Zeit, in der die Berliner Politik zunehmend von arabischen Großfamilien sprach und den Kontrolldruck erhöhte – Gewerbeaufsicht, Ordnungsamt, örtlicher Polizeiabschnitt, schließlich Landeskriminalamt. Später, und das bestätigen im Kiez einige, ließ sich Issa den Magen verkleinern. Seitdem ist er schlank.
Seine Angehörigen waren in Messerstechereien und Massenschlägereien ebenso verwickelt wie in den Diebstahl wertvoller KPM-Vasen. Ein Mann, der ebenfalls der Großfamilie zugerechnet wird, verbrachte Jahre wegen schwerer Gewalttaten in der Psychiatrie. Ein anderer stand wegen Überfällen auf Sex-Shops vor Gericht. Ein Dritter soll seine Schwester getötet haben, um die „Familienehre“ wiederherzustellen. Die Frau war zuvor vergewaltigt worden.
Was es auch bedeutet, diesem Clan anzugehören, lässt ein Besuch des muslimischen Friedhofs neben der Sehitlik-Moschee am Columbiadamm erahnen. Dort liegen Hunderte Männer und Frauen begraben, die einst als Gastarbeiter nach Deutschland kamen, sich hier eine Existenz aufbauten, Familien gründeten. Es sind unauffällige Gräber, auf den kleinen Steinen finden sich Koransuren.
Intensivtäter, Clanfreunde, Serienräuber
Aus der Masse der Ruhestätten stechen zwei Gräber heraus. Ihre riesigen Marmorplatten fallen schon von Weitem auf, sie sind edel verziert, die Gräber aufwendig gepflegt und mit Lampen, Bilderrahmen und Dekoherzen geschmückt. Für Besucher stehen Stühle bereit. Hier liegen die Brüder Ibrahim Osman R. und Bilal Osman R. Beide wurden in den Nullerjahren von der Polizei als Intensivtäter geführt.
Im Oktober 2008 raste Ibrahim, damals 19, im BMW durch die Innenstadt, fuhr am Potsdamer Platz einen Rentner tot. Zwei Monate später brach er mit seinem Bruder Bilal in eine Drogerie ein, bei der anschließenden Flucht vor der Polizei prallten sie mit ihrem Wagen gegen einen Baum und waren sofort tot. Die Beerdigung glich einem Prominentenbegräbnis: Intensivtäter aus Neukölln, Clanfreunde aus Schöneberg, Serienräuber aus Wedding.
Ermittler fürchten, dass der zur Schau gestellte Protz der Clans, der sich auch hier auf dem Friedhof zwischen den vielen bescheidenen Gräbern materialisiert, eine fatale Botschaft sendet: dass es für Zugezogene in Deutschland offensichtlich schnellere, effektivere Wege zu Wohlstand gibt als reguläre, steuer- und sozialversicherungspflichtige Arbeit.
„Fahr weiter, du Idiot!“
Den Taten der R., da sind sich Fachpolitiker aller Parteien einig, wurde zu lange zugesehen. Schon kurz nach der Wende war die Familie aufgefallen: Zwei Brüder erschossen 1992 in Schöneberg einen jugoslawischen Gastronomen. Einen anderen Mann verletzten sie schwer, dem Tod entging er wohl nur, weil die Waffe leergefeuert war. Als Beamte die Wohnung der Brüder stürmten, fanden sie Heroin und libanesische Blanko-Geburtsurkunden.
„Knast macht Männer“, sagt eine Mutter
Zu den Konstanten des Clanlebens gehört, dass einzelne Mitglieder immer wieder Gefängnisstrafen absitzen müssen. In früheren Jahren häufig wegen Drogenhandels, Hehlerei und Bandendiebstahls, beispielsweise Buntmetall, abmontiert auf Friedhöfen und von Verkehrsanlagen, später häufiger wegen Gewalttaten. Die Haftstrafen sind eingepreist. Eine Mutter, die in den Clan einheiratete und 15 Kinder bekam, hat das gegenüber einem Mitarbeiter des Bezirksamts Neukölln einmal so zusammengefasst: „Knast macht Männer.“
Auf einer Liste, die von den Innenministern der Bundesländer geführt wird, stehen Mehrfachtäter, die man eigentlich in den Libanon ausweisen möchte, darunter etliche R. und Mitglieder anderer Großfamilien. Eine Ausweisung ist schwierig, weil viele schon dort als staatenlos galten, jedenfalls keine von Beirut anerkannten Papiere besitzen – etwa Issa R.
Deutschland als Beutegesellschaft
Eine Anwältin, die ihre Mandanten wohlwollend als „Originale“ bezeichnet, bestreitet nicht, dass diese Deutschland als „Beutegesellschaft“ betrachten. Geheiratet wird in der verzweigten Familie oder in einen befreundeten Clan. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass bei Weitem nicht alle R. straffällig geworden sind. Manche haben sich gelöst, zogen weg, einer soll ein Studium begonnen haben.
Ein jüngerer Bruder von Issa R. schaffte es zu echter Prominenz: Ashraf R., 36, saß wegen Raub und Körperverletzung drei Jahre im Gefängnis, war mehrfach in Schießereien verwickelt. Gerade steht er als neuer Vertrauter des Gangsta-Rappers Bushido in der Öffentlichkeit. Dieser hatte sich mit seinem Geschäftspartner Arafat Abou-Chaker, Mitglied einer weiteren bekannten Großfamilie, zerstritten. Seitdem spekulieren Boulevardmedien darüber, ob Bushido nicht dringend einen anderen Beschützer, im Szenejargon „Rücken“ genannt, benötige.
Ashraf R. ist auch als Gastronom tätig. Seit zwei Jahren betreibt er in der Blissestraße in Wilmersdorf, zwischen Casino und Sonnenstudio, eine Shisha-Bar. Der Chef hockt oft im Ledersessel, raucht Wasserpfeife und spielt auf seinem Handy. Aus den Boxen kommt stundenlang Gangstarap, auch das neue Lied seines Schützlings Bushido: „Sie wollen, dass ich zahlelele... Aber Bra, ich hab’ ne Knarrerere und genug Kugeln für euch allelele.“ Regelmäßig muss Ashraf R. das Spiel auf seinem Handy unterbrechen, weil Gäste kommen und ihm die Hände schütteln. Einer fragt: „Hast du immer noch Stress und so?“ Ashraf R. sagt: „Ach, das nimmt alles seinen Lauf.“
„Wie im Wahn“
In den letzten Tagen hat sich der Ton zwischen Bushidos altem und neuem Beschützer verschärft. Auf der Internetplattform Instagram behauptet Ashraf R., dass Abou-Chaker die Polizei auf ihn gehetzt habe. Die hat seine Wohnung durchsucht, weil Ashraf R. laut Ermittlern geplant haben soll, „mit einer vollautomatischen Schusswaffe oder ebenfalls zum Dauerfeuer geeigneten Kriegswaffe“ auf die Bar seines Kontrahenten zu schießen.
Ashraf R. interessierte sich schon vor Bushido für Gangstarap. Bereits vor zehn Jahren war er Manager des Weddinger Rappers und damaligen Bushido-Feindes Massiv. In dessen Autobiografie findet sich ein Kapitel, das einen ungewöhnlichen Einblick in die Welt des Ashraf R. gewährt. So kann man detailliert nachlesen, wie beide mit einem Fremden wegen einer Nichtigkeit in Streit geraten. Als der Unbekannte droht, er habe eine Pistole dabei, geht Ashraf zum Kofferraum seines Autos und zieht ein Samurai-Schwert. Massiv schreibt, Ashraf habe „wie im Wahn“ immer wieder mit dem Schwert ausgeholt, den Flüchtenden so durch die Straßen gejagt.
Die Frage bleibt: Handelt es sich bei den Vergehen um Taten von Menschen, die zufällig den Nachnamen R. tragen? Ist es, wie Anwälte sagen, unangebracht, von einem „Clan“ zu sprechen?
Mord, Körperverletzung, Einbrüche
Zum Fall Issa R. äußert sich die Staatsanwaltschaft nicht. Eine aktive Rolle konnte man ihm bisher offenbar nicht nachweisen. Für den Tagesspiegel war R. in diesen Tagen nicht erreichbar. In der „Bild“ wies er die Vorwürfe zurück. Dass es sich bei seiner Familie um einen einschlägigen Clan handelt, ist jedoch klar. Es genügt, Taten vergangener Jahre zu rekonstruieren. Eine Auswahl:
Issas Sohn Ismail R. sitzt gerade in Untersuchungshaft. Er soll im Mai 2017 in Britz einen Mann ermordet haben. Das 47-jährige Opfer wurde auf offener Straße so mit Schlagstöcken zugerichtet, dass Ermittler sagen, die Leiche habe ausgesehen „wie nach einem Flugzeugcrash“. Die Staatsanwaltschaft glaubt, auch das Motiv für den Mord zu kennen. Das Opfer habe Issa R. vor Jahren Geld geliehen und es nun zurückgefordert.
Jusuf R., ein anderer Sohn von Issa, wurde wegen Körperverletzung verurteilt, bevor er an einer dreisten Einbruchsserie teilnahm. Mit Komplizen klaute er Kleintransporter von Lieferfirmen. Die fuhren sie nachts vor die Eingänge diverser Lagerhallen, brachen ein und nahmen alles mit, was in die Wagen passte: Couchgarnituren, Boxspringbetten, Elektrogeräte. Wurden die Transporter betankt, fuhr die Bande davon, ohne zu zahlen. Trotzdem dauerte es Monate, bis Jusuf R. geschnappt wurde.
9,1 Millionen Euro verschwunden
Toufic R., ein Bruder von Issa, musste ins Gefängnis, weil er 2014 in eine Mariendorfer Sparkassenfiliale eingebrochen war, mit Komplizen 330 Schließfächer aufbrach und dann Feuer legte, um seine Spuren zu verwischen. Die erbeuteten 9,1 Millionen Euro sind bis heute verschwunden, der Täter schwieg.
Ein zweiter Bruder von Issa R. stand wegen Diebstahls vor Gericht, ein dritter musste nach einem Raub ins Gefängnis. Drei Neffen von Issa R. befinden sich derzeit in Untersuchungshaft: Sie sollen die millionenschwere Goldmünze aus dem Bode-Museum geraubt haben.
Gibt es Hoffnung? In einem Charlottenburger Zweig des Clans hat sich der dortige Familienvater nach einer wilden Zeit in Neukölln offenbar beruhigt. Er war einige Jahre wegen Bandendiebstahls, Hehlerei und Raub in Haft. Jetzt, heißt es, widme er sich ganz dem Nachwuchs. Einer seiner älteren Söhne hatte, in den Worten eines Lehrers, „erheblichen Lernbedarf“: Umgangsformen, Lautstärke, Stillsitzen – Lesen, Schreiben, Rechnen sowieso. Nun wird der Jüngste eingeschult. Vielleicht ahnt Papa R., dass es gewisse Befürchtungen gibt. In der Schule soll er angekündigt haben: „Ich komme zum Elternabend, versprochen!“
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