Frank-Walter Steinmeier: Im permanenten Gespräch der Demokraten
Frank-Walter Steinmeier soll am Sonntag zum Bundespräsident gewählt werden. Mit ihm würde ein Mann ins Schloss Bellevue einziehen, der seine Anliegen seit jeher mit Nachdruck verfolgt. Welche sind das?
Das Büro im siebten Stock des Paul-Löbe-Hauses hat eine Größe, wie sie den Novizen des parlamentarischen Betriebes zugewiesen wird. Die Alphatiere des Bundestages haben deutlich mehr Quadratmeter, Spreeblick inklusive. Aber Frank-Walter Steinmeier ist ja auch nur Gast, quasi in einer, seiner Herberge auf Zeit. Aus dem Auswärtigen Amt hat er sich selbst ausquartiert, auf Kost und Logis im Bellevue darf er vorerst nur hoffen, wenn auch fest. Also erinnert sich der 60-jährige designierte, aber noch nicht etablierte Nachfolger von Joachim Gauck, seines Brot-und-Butter-Jobs, MdB eben, seit 2009.
Auf dem Schreibtisch, dessen Größe jeder Jungmanager als Zeichen der Missachtung werten würde, steht ein Globus. Ein geradezu rührendes Accessoire! Für einen Mann, der im Jahr 400.000 Kilometer dienstlich mit dem Flugzeug unterwegs ist, der mehr Spitzenpolitiker rund um den Erdball kennt als irgendein anderer deutscher Politiker, die Kanzlerin (vielleicht) ausgenommen. Länderkunde täglich, sozusagen. Doch der Globus auf dem Tisch Steinmeiers ist kein normaler Globus, seiner zeigt keine Staaten, sondern die Erde, wie sie ist, unberührt von Grenzziehungen. Der Mann denkt eben in größeren Zusammenhängen.
Offensichtlich will der ehemalige Außenminister an diesem Globalthema auch im neuen Amt festhalten. Vom Werderschen Markt bringt er seinen eingearbeiteten, vertrauten Arbeitsstab mit. Stephan Steinlein wird sein Staatssekretär, Wolfgang Silbermann, der junge und seine Gedankenwelt teilende Redenschreiber, wird dies weiterhin tun, Andreas Görgen, im Auswärtigen Amt Leiter der Abteilung Kultur und Kommunikation, führt künftig die Abteilung Inland, und Thomas Bagger, Leiter des Planungsstabes, wird selbstverständlich Chef der Auslandsabteilung. Und das sind noch nicht alle Namen.
Wird das ein Neben-Außenministerium im Bellevue? Strenger Blick: „Es kann doch wohl kein Fehler sein, wenn man in dieses Amt ein globales Netzwerk mitbringen kann und nicht erst mühsam eines knüpfen muss!“ Dann schaut er gleichsam spott- wie rauflustig: „Ist denn Kompetenz künftig ein Makel?“, fragt er provozierend.
Da schimmert durch, was Steinmeier auch sein kann: nicht nur wandelnder Vermittlungsausschuss, sondern zupackend. Und laut kann er werden. In der Öffentlichkeit hat er das nur einmal gezeigt, auf dem Berliner Alexanderplatz im Mai 2014, als er in einer Wahlkampfrede für Europa wirbt und von einer Gruppe von Pöblern im Chor als Kriegstreiber apostrophiert wird. Da brüllt er zurück, sechs Minuten lang, und schreit zornesrot: „Hätten wir auf Leute wie euch gehört, wäre Europa heute kaputt!“
Nun ist die Lautstärke kein Indiz für Volksnähe, aber dass ihm in seinem Leben nichts in den Schoß fiel, dass er bei seiner Geburt nicht in einen Kronleuchter blickte, dass es keinen Erfolg ohne Arbeit geben kann, das hat ihn schon geprägt, hat ihn durchaus hart gemacht. „In meinem Elternhaus stand kein Klavier und es gab keine Bibliothek“, sagt er. Nach dem Abitur studierte er Jura, wie sein politischer Mentor Gerhard Schröder, und wer in ihm aus der Zeit im Kanzleramt nur den geistigen Vater der Agenda 2010 und Zerstörer der sozialen Netzwerke sieht, versteht nicht den ganzen Steinmeier.
Der macht sich eher kenntlich in seinem evangelisch-christlichen Engagement - und auch im Thema seiner Doktorarbeit: Obdachlosigkeit und das Recht auf Wohnraum. Für Bodenhaftung im Alltag sorgt seine Frau, die Berliner Verwaltungsrichterin Elke Büdenbender, die von Berufs wegen aus dem Leben berichten kann, wie es außerhalb des Regierungsviertels ist, und der er durch eine Nierenspende aus einer das Leben gefährdenden Krankheit half.
Ob und wann das Ehepaar mit der erwachsenen Tochter ins Bellevue umzieht, steht noch nicht fest. Steinmeier sagt, er habe Joachim Gauck und Daniela Schadt signalisiert, sie könnten sich mit der Wohnungssuche ruhig Zeit lassen. Das Zehlendorfer Haus der Steinmeiers ist gesichert und überwacht, einstweilen bewegt sich der emeritierte Außenminister noch völlig ungestört und unbegleitet zwischen Fitnesscenter und Schokoladengeschäft. Die Berliner sind eben ein unaufgeregtes Volk.
Selbstbewusst, aber militärisch zurückhaltend
Es soll Leute geben, die auch Steinmeier für etwas zu unaufgeregt halten, ja fast langweilig. Denn Konsens zu finden, Verbindendes zu eruieren, Brücken zu bauen auf unsicherem Grund, war ihm vor allem in den Jahren als Außenminister - von 2005 bis 2009 und dann wieder seit 2013 - größtes Anliegen. In den Jahren dazwischen, in der Ära Westerwelle - doch, manchmal muss man auch schlecht über die Toten reden -, war das Amt immer wieder bis an die Grenzen belastet worden von einem Minister, der mit großem Stolz und geringer Kenntnis der komplexen Materie dort die Schlüsselgewalt hatte. Steinmeier musste viel heilen in der Zeit danach.
Dass das künftige - vermutliche - Staatsoberhaupt zu wenig problemkonzentriert, zu sehr auf Konfliktlösung durch Gesprächstherapie setze, wird ihm ja immer wieder zum Vorwurf gemacht. War das Abkommen mit dem Iran zur nuklearen Rüstung wirklich ein - auch deutscher - Verhandlungserfolg oder ein Sieg der ihre tatsächlichen Pläne vertuschenden Machthaber in Teheran? Was brachten die Gespräche über die russische Annexion der Krim und die subversive Zermürbungstaktik Wladimir Putins im Osten der Ukraine wirklich? Und Syrien? Putin führte und führt den Westen vor, der unter Obamas Nicht-Führung rote Linien beschwor, die der US-Präsident dann selbst verwischte - Gleichgültigkeit in Prinzipienfragen führt im Machtspiel der Weltmächte immer zu Punktverlust für den, der nicht aufpasst.
Hat Steinmeier aus dem Auswärtigen Amt also eine Erfolgsbilanz mitzubringen ins Bellevue? Er wäre ein schlechter Politiker, würde er verneinen. Aber nach den Alternativen zu dem, was geschah, würde er fragen und auf den Satz hinweisen, dass es seit 9/11 nur noch eine einzige Außenpolitik gebe, und das sei eben Welt-Innenpolitik. Und Deutschlands gewachsene Rolle in der Welt zwinge das Land dazu, Verantwortung zu übernehmen und sich dabei doch immer von jenen Skrupeln leiten zu lassen, die die Schneidigen in der Politik als Hasenfüßigkeit, die Nachdenklichen hingegen als Lehre aus der Geschichte begreifen.
In seiner letzten Rede im Bundestag am 26. Januar hat er das auch genau so formuliert: „Dass wir in Deutschland mit jedem Einsatz von militärischen Mitteln wirklich ringen, das ist doch vor dem Hintergrund unserer Geschichte wahrlich nichts Schlechtes. So sehr ich mir eine aktive, selbstbewusste deutsche Außenpolitik wünsche: Wir wären doch sicher kein besseres Land, wenn uns die Entsendung von Soldatinnen und Soldaten, von Polizistinnen und Polizisten, von Helferinnen und Helfern in Krisenregionen der Welt leichter von der Hand ginge.“
Nur der Parteidisziplin gehorchend
Ob die Steinmeiers nun im Bellevue die Bettwäsche auspacken oder nicht - das Schloss bekommt einen Schlossherrn, der so umfassend in das politische Geschäft eingeführt ist wie kaum einer seiner Vorgänger, Richard von Weizsäcker vielleicht ausgenommen. Seine Laufbahn begann in der Landespolitik in Niedersachsen, setzte sich fort im Kanzleramt in Berlin, in dessen Leitung er als Beauftragter für die Nachrichtendienste vor und nach der 9/11-Katastrophe intensivste exekutive Erfahrungen sammelte. Die Arbeit an der Agenda 2010, an deren Sinnhaftigkeit er auch heute noch nicht zweifelt, brachte ihm tiefes Wissen über den Sozialstaat.
In der Zeit während der schwarz-gelben Koalition war er SPD-Fraktionsvorsitzender. Die Niederlage in der Bundestagswahl 2009, bei der er gegen eigenen Willen, nur der Parteidisziplin gehorchend, als sozialdemokratischer Spitzenkandidat das bislang schlechteste Wahlergebnis für seine Partei erreichte, war die wohl deprimierendste Erfahrung seiner politischen Laufbahn. Dass ein Parteifreund wie der heutige schleswig-holsteinische Regierungschef Torsten Albig später der eigenen Partei riet, gegen die übermächtige Angela Merkel am besten keinen offiziellen Gegenkandidaten aufzustellen, weil die Kanzlerin nicht schlagbar sei, sagt viel über den Zustand der SPD aus.
Immerhin, da sinniert nun auch Steinmeier, hat sich durch den Spitzenkandidaten Martin Schulz das Bild von der angeblichen Chancenlosigkeit der Sozialdemokraten verändert. Das könnte, so ist ihm bewusst, sich auch durchaus auf sein Wahlergebnis bei der Präsidentenwahl am Sonntag auswirken. So mancher, der bislang vielleicht dachte, neben einer christdemokratischen Regierungschefin sei ein sozialdemokratisches Staatsoberhaupt leicht zu ertragen, käme jetzt vielleicht ins Grübeln.
Merkel hielt ihn in der CDU für nicht vermittelbar
Dass Angela Merkel ihn, den Sozialdemokraten, als Gauck-Nachfolger eigentlich mit allen Mitteln verhindern wollte, hat sie ihm selbst ganz offen gesagt. Das sei ihrer CDU nicht vermittelbar. Und es gab ja eine schwarz-grüne Mehrheit in der Bundesversammlung. Merkel hätte den grünen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Kretschmann für das höchste Staatsamt vorgeschlagen - allein, da stieß sie auf eisernen Widerstand bei Horst Seehofer. Das schien ihm zu sehr Menetekel. Der CSU-Fürst hätte allenfalls eine weniger prominente Grünen-Persönlichkeit mitgetragen.
So kam die Kanzlerin auf Marianne Birthler, die hoch angesehene frühere Leiterin der Stasiunterlagenbehörde. Die sagte, nach zustimmendem Überdenken des Angebots, ab - sie hatte Angst vor Überforderung. Norbert Lammert, der Bundestagspräsident, ein CDU-Mann von höchstem Ansehen, wäre von den Grünen mitgetragen worden. Aber den wollte Merkel nicht. Andreas Voßkuhle, der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, lehnte erneut aus privaten Gründen ab.
Am Ende gelang dem noch amtierenden SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel der Coup, er setzte Steinmeier durch, und als die drei Vorsitzenden am 16. November unter der Rotunde des Bundestages ihren Kandidaten Steinmeier offiziell präsentierten, freuten sich Merkel, Gabriel und Seehofer, als sei es nie anders geplant gewesen.
Natürlich redete auch Steinmeier bei diesem Anlass. Ein Absatz ist ein Fingerzeig für das, was ihn künftig bewegen wird, im Bellevue: „Die Verunsicherung in unserer krisenbefangenen Welt ist groß. Und daher ist Vertrauen in Demokratie - in demokratische Institutionen und ihre Repräsentanten - ein wichtiges Gut. Eine Ressource, die nicht garantiert ist, die knapp ist, und um die wir ringen müssen.“
Mit der Politik zu den Leuten gehen
Ach ja? Aber, Herr Präsident in spe, wenn wir uns diese Ressource als endlich vorstellen, wie etwa fossile Brennstoffe, was nehmen wir denn dann, wenn das Vertrauen alle ist? „Es muss ein permanentes Gespräch der Demokraten über das gemeinsame Fundament geben“, antwortet der Präsident in spe darauf, „darüber müssen wir Einigkeit erzielen, über die Generationen hinweg, das wird mir ein Anliegen sein.“
Und dann berichtet der Noch-Abgeordnete des Wahlkreises Brandenburg/Potsdam-Mittelmark, wie er einen Beraterkreis von Jugendlichen installiert hat, mit dem er sich zweimal im Jahr zusammensetzt und mit ihnen zum Beispiel über das Leben in abgehängten Regionen diskutiert und sie ermuntert, zu den Leuten zu gehen, sie zu befragen, ihre Anregungen mit ihren Smartphones aufzuzeichnen, daraus Absichtserklärungen und Forderungen zu formulieren und mit diesen wieder die Politiker anzusprechen. Das will Frank-Walter Steinmeier im Bellevue etablieren, Roman Herzog hat ja als erster Präsident vorgemacht, wie man das Schloss durch Tagungen und Kongresse öffnen kann.
Und dann geht es ihm um Internationalität, darum, dass sich Deutschland der Welt öffnen muss, dass Politiker, Abgeordnete, ermuntert werden, sich im Ausland umzuschauen. Im Wahlkreis kann man doch nicht nur mit Innenpolitik punkten, sagt Steinmeier, und erinnert an frühere Abgeordnete wie Hans-Ulrich Klose, Karsten Voigt und Ruprecht Polenz, die für die Weltläufigkeit der deutschen Parlamentarier stehen.
Ein Amt wird nun an ihm vorübergehen
Was wird ihm fehlen, sollte er am Sonntag gewählt werden? „Nichts, das ist doch eine wunderbare Aufgabe! Das Amt lebt von seiner Autorität und der Glaubwürdigkeit des Amtsinhabers und seiner Fähigkeit, die richtigen Themen zu setzen.“ Mit der Hinwendung zur Jugend, dem Beschwören der überlegenen Kraft der Demokratie und dem Werben um das internationale Engagement Deutschlands will er diese Themen gefunden haben. Sonst noch was? Kurzes Nachdenken, dann, doch: Präsident des Evangelischen Kirchentages 2019 in Dortmund könne er nun nicht mehr werden, obwohl das fest eingeplant war, von seiner Kirche und von ihm. Aber, mit einem Lächeln nahe am Grinsen: „Die Eröffnungsrede, die kann ich nun halten.“
Und, darauf möchte man wetten, den kleinen Globus wird er aus dem Abgeordnetenbüro mitnehmen. Tatsächlich, und im Innersten sowieso.