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Flüchtlinge protestieren gegen die Maßnahmen in Ungarn.
© AFP

Flüchtlingskrise: Der Weg von Budapest nach Bayern

In Budapest wird der Bahnhof für Flüchtlinge gesperrt, in Wien wollen sie nicht bleiben. Die Menschen wollen nur zum Zug, der sie nach München bringt. Eine Reportage.

Das Zentrum der ungarischen Hauptstadt wirkt, als tagte gerade der G7-Gipfel in Budapest. Überall patrouillieren Sicherheitskräfte in voller Montur. Bei 35 Grad durchkämmen sie die kleinen Straßen des jüdischen Viertels. Sehen in erstaunte Touristenaugen, die an einem Cocktail nippen. Und suchen.

Sitzen da auf der Café-Terrasse junge syrische Flüchtlinge? Oder sind es nur Besucher aus Tel Aviv? „Man kann sie nicht immer gut unterscheiden“, sagt ein Polizist. In den bahnhofnahen „Transitzonen“ gibt es weder Strom, noch Internetzugang. Dabei ist beides für die meisten Flüchtlinge unverzichtbar, um sich in der neuen Umgebung zu orientieren und ein Lebenszeichen nach Hause zu schicken. In den Cafés gibt es kostenloses WLAN. Das, was die Menschen aus Syrien oder Afghanistan gerade so brauchen. Deswegen ordnete die ungarische Hauptstadtpolizei „verschärfte Kontrollen“ in den Innenbezirken an. Um zu prüfen, wer dort an den Tischen sitzt.

Flüchtlinge protestieren gegen Sperrung

Zur gleichen Zeit am Budapester Ostbahnhof: Gegen 9 Uhr morgens räumen ihn die Einsatzkräfte. Zwei Stunden lang wird der Zugverkehr komplett eingestellt. Flüchtlinge, die dort seit Tagen ausharren, protestieren. Touristen und Pendler, die Solidarität mit den Asylsuchenden zeigen, kritisieren die Abschottung Ungarns. „Das ist lächerlich“, beschwert sich eine Gruppe junger Italiener, die mit dem Zug zurück nach Venedig reisen will. „Man kann doch nicht ein ganzes Land lahmlegen, nur weil man keine Muslime sehen möchte.“

Kurz vor Mittag fahren die ersten Züge wieder in Richtung Westen. Was die Polizei aber nicht aufhebt, sind die Blockaden vor den Bahnhofzugängen. Die Beamten versuchen, nur europäisch aussehende Passagiere in die Hallen zu lassen. Drei dunkelhäutigen Reisenden wird der Zugang zu den Gleisen verwehrt. Bis sich herausstellt, dass sie amerikanische Touristen sind. Auf einer Sondersitzung der parlamentarischen Ausschüsse für Verteidigung und nationale Sicherheit erklärt Minister János Lázár, der Chef des Premieramts, die „linke“ Migrationspolitik der EU für „bankrott“. „Europa und auch Deutschland brauchen gar keine Einwanderer“, sagt Lázár.

Manche wollen auf Busse ausweichen

Verteidigungsminister Csaba Hende schlägt vor, die Grenze zu Serbien mit militärischen Drohnen zu überwachen. Nach Angaben der Polizei gelangten auch am Dienstag jede Stunde rund 100 „illegale Migranten“ nach Ungarn. Antal Rogán, Fraktionsvorsitzender der rechtspopulistischen Regierungspartei Fidesz sagt in einem Zeitungsinterview: „Wir müssen uns fragen, ob wir wollen, dass unsere Enkel im Vereinigten Kalifat Europas leben.“ Regierungskritische Journalisten machen sich über solche Botschaften lustig: „Es ist, als ob die Westeuropäer 1956 nach der Unterdrückung der antikommunistischen Aufstände keine Flüchtlinge aufgenommen hätten – unter dem Vorwand, sonst würde Westeuropa kommunistisch“, schreibt das Portal Index.hu.

Asylsuchende, vor allem Syrer, zeigen ihre Wut über die ungarische Politik auch in der Budapester Innenstadt. Nur wenige Minuten vom Bahnhof Keleti entfernt. Viele hatten bereits Fahrkarten nach Zürich und München gekauft. „Überall wurden uns bisher kostenlos Busse oder Züge zur Verfügung gestellt, in Mazedonien und in Serbien. Jetzt geben wir 130 Euro aus und das Geld ist futsch?“, regt sich ein Lehrer aus Damaskus auf. „Und wieso ist heute nicht mehr möglich, was gestern noch möglich war?“ Manche Flüchtlinge überlegen, auf Busse oder Taxis auszuweichen. Wegen der österreichischen Kontrollen auf den Autobahnen bilden sich in den grenznahen Gebieten aber immer wieder lange Staus.

Kaum jemand möchte in Wien bleiben

In Wien werden Lebensmittel an die Menschen verteilt.
In Wien werden Lebensmittel an die Menschen verteilt.
© dpa

Nach dem Chaos vom Vortag kehrt in Wien zumindest am Westbahnhof Routine ein: Helfer in grüngelben Warnwesten stehen am Gleis und verteilen Lebensmittel. Brote. Wasserflaschen. Oft werden sie nach Hygieneartikeln gefragt. Windeln sind den Flüchtlingen wichtig. Für die vielen kleinen Kinder ist Babynahrung da. Manchen wird ein Spielzeug gegeben. Für die Zeit, in der sie warten.

Es ist gerade mittags, kurz vor 12 Uhr. Der fünfte Zug mit Flüchtlingen aus Budapest trifft am Westbahnhof ein. Hier und da sind „Welcome“-Schilder zu sehen. Wie bei der Demonstration am Montagabend, als 20 000 Menschen für die geflohenen Menschen demonstrierten. Die Polizei sagt: Seit Montagnachmittag sind am Wiener Bahnhof mehr als 4000 Flüchtlinge angekommen. Nur wenige möchten bleiben. Bisher baten sechs Afghanen um Asyl. Stattdessen rennen die meisten der jungen Männer sofort auf die andere Seite des Bahnsteigs. Zu dem Zug, der sie nach Deutschland bringen soll.

Vor allem die Frauen sind erschöpft

Für manche waren die Strapazen der Flucht allerdings zu viel. Sie wurden wegen Übermüdung und hohem Fieber in ein Krankenhaus gebracht. Vor allem den Frauen ist die Erschöpfung im Gesicht anzusehen. Diejenigen, die schon seit Montag hier sind, verbringen die Nacht in einem geräumten Bürogebäude. Oder in einem Zug, der für sie geräumt wurde. Polizisten beobachten das Geschehen, aber halten sich zurück. Nur in Einzelfällen kontrollieren sie die Ausweise der Reisenden. Meist lassen sie die Menschen passieren.

Ob Österreich wie Ungarn gänzlich auf die Kontrolle und Identifizierung der Flüchtlinge verzichte? Innenministerin Johanna Mikl-Leitner weist den Verdacht zurück. „Dublin gilt für uns weiter, wir kontrollieren stichprobenartig, vor allem auf Schlepper”, sagt sie. Darauf würden die Beamten auch in den Zügen achten. Oft in zivil.

Die Bahn nennt die Lage "angespannt"

Die österreichische Bahn sieht sich mittlerweile an den Grenzen ihrer Ressourcen. Schnell wurde nach zusätzlichem Personal gefragt, als sie am Montag die Meldungen aus Ungarn hörten. Viele der mehrsprachigen Mitarbeiter hätten sich freiwillig gemeldet. Und trotzdem: „Die Lage ist angespannt”, sagt ÖBB-Sprecher Michael Braun. Auch wenn Wien für die meisten Menschen nur ein Zwischenstopp ist. Auf dem Weg nach Salzburg. Und weiter nach München.

Die Hilfsbereitschaft in München ist riesig

Flüchtlinge, die kurz zuvor mit einem Zug aus Wien angekommen sind, warten in München.
Flüchtlinge, die kurz zuvor mit einem Zug aus Wien angekommen sind, warten in München.
© dpa

Der Zug fährt ein im Hauptbahnhof. Am Gleis stehen Bundespolizisten, betrachten die aussteigenden Passagiere. Wer dunkle Haare hat, muss seine Papiere zeigen. Eine Frau und ein Mann haben keinen Ausweis. Die Beamten fordern sie auf, ihnen zu folgen. Die beiden schieben ihre Rollkoffer hinter sich her. Sie sind verheiratet und seit einem Monat und zwei Tagen unterwegs. Heba und Ali. Sie sind auch durch Ungarn geflohen, wo Heba geschlagen wurde, weil sie keinen Fingerabdruck abgeben wollte. Jetzt hat Heba Angst, dass sie zurückgeschickt wird.

Als sich am Montag in München die Nachricht verbreitete, dass hunderte Asylsuchende in überfüllten Zügen auf Bayern zurollen, haben sich alle bereit gemacht: Die Regierung von Oberbayern, die für die Erstregistrierung zuständig ist. Die Bundespolizei, die den Hauptbahnhof bewacht und nun die Asylsuchenden auf den Platz an der Nordseite des Hauptbahnhofs bringt. Die Landespolizei, die bei der Einleitung des Asylverfahrens hilft. Die Feuerwehr, die Wasser bringt. Das Sozialreferat, das sich um die Spenden kümmert. Und auch die Münchener, die spenden und helfen wollen.

Tausende Asylsuchende kommen an

Bis Mitternacht kommen noch am selben Tag in sechs Zügen etwa 800 Flüchtlinge am Münchner Hauptbahnhof an. Am Dienstag sind es bis mittags weitere 1875 Asylsuchende. Die Bundespolizisten führen Heba und Ali in den nördlichen Teil des Bahnhofs zur Schalterhalle 2, wo normalerweise die Flüchtlinge registriert werden. Aber heute erstmals nicht. Es gibt einen orangefarbenen Container, in dem medizinische Checks stattfinden, um vor allem Menschen, die an Krätze leiden, von den anderen zu trennen.

Nebenan im Kinder- und Seifenblasenmuseum geben die Münchner ihre Spenden ab, die dort sortiert und verteilt werden. Es gibt fünf Dixi-Toiletten. Es gibt den Platz vor der Bahnhofswand, auf dem viele Familien hocken und liegen. Der ganze Platz sieht aus wie ein orientalischer Basar, mit seinen hunderten Wasserflaschen, hunderten Beikostgläsern, hunderten Windelpackungen, Shampooflaschen, Bananen, Äpfeln, leeren Plastiktüten. Eine Frau stillt ihr Baby.

Die Flüchtlinge bilden kleinere Gruppen, viele haben sich erst auf der letzten Etappe kennengelernt und stehen nun zusammen. Die Bundespolizisten bringen Heba und Ali zum Container. Sie reihen sich in die Schlange ein. Ein junger Mann, der in München studiert, spricht Arabisch und hilft einem Journalisten. Er fragt Heba und Ali, wo sie herkommen. „Aus Bagdad.“

Frau nimmt Flüchtlinge im Auto mit

Ein Bundespolizist bittet den Übersetzer, auch ihm zu helfen. Er muss Menschen aus Syrien erklären, was sie jetzt als nächstes tun müssen. Zwölf Personen, vier Kinder sind darunter, sie sind aus Burgmal vor dem IS geflohen, über die Türkei, Griechenland, Serbien, Ungarn und Österreich. Die größte Strecke zu Fuß, ein Mal konnten sie 40 Kilometer mit dem Auto zurücklegen. Jetzt haben sie einen Zettel in der Hand, auf dem steht „Nächste Aufnahmeeinrichtung: Regierung von Oberbayern, Ankunftszentrum für Asylbewerber, Maria Probst Straße 14.“ Gemeint ist das im Juli von der Regierung von Oberbayern eröffnete Ankunftszentrum für Flüchtlinge. Zehn Kilometer entfernt. Wie sollen sie dorthin kommen? Wenn sie das Taxi nicht selber bezahlen können, zahlt es der Bund, erklärt ein Polizist. Aber sie passen nicht alle in ein Taxi.

Eine Münchnerin hat die Diskussion gehört. Sie wohne dort in der Nähe und nehme so viele mit, wie in ihr Auto passen. Zwei weitere Männer übersetzen, einer aus der Türkei und einer aus dem Libanon. Sie leben seit Jahren in München und sind hier , um als Dolmetscher zu helfen. Die Gruppe aus Syrien, die Tausende Kilometer zu Fuß gegangen ist und jetzt die letzten zehn Kilometer in die Marie-Probst-Straße vor sich hat, will noch nach Berlin, zu Verwandten. Heba und Ali sind mittlerweile verschwunden. Ihnen sah man ihre lange Flucht nicht an. Sein T-Shirt war blütenweiß, ihr Rock gebügelt, ihre Fingernägel strahlten in Lachsrot. In Wien durften sie duschen.

Vorgestern, als abends die Nachrichten die erste Welle aus Budapest meldeten, machte sich auch Mario Tille auf den Weg zum Hauptbahnhof. Der Erzieher hat gerade Urlaub. Vor dem Kinder- und Seifenblasenmuseum postierte er sich um 19 Uhr, sammelt seitdem Spenden. Er hat bis jetzt noch nicht geschlafen. Das Museum hat Regale und Tische zur Verfügung gestellt. Immer noch ist er überrascht, wie viele gekommen sind, um die Spenden zu verteilen.

Turnhalle in der Nähe wurde gemietet

Die Sozialarbeiterin Anna hat am Morgen im Radio gehört, dass jede Hilfe benötigt wird. Auch sie hat Urlaub und packt gerade die Windelpackungen aus. Ein Junge kommt. Er hat gerade ein deutsches Wort gelernt, aber er hat es schon wieder vergessen. „Äh“, sagt er und hält sein Eis fest. Eine Frau neben ihm sagt „Sch…“. Da fällt ihm das Wort wieder ein: „Shampoo!“, ruft er und lacht. Anna reicht ihm ein Shampoo. Ein paar Meter weiter steht Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter. Zwei Männer kommen zu ihm und sagen: „We need another shirt.“ Einer trägt ein T-Shirt, auf dem „IRAQ“ steht. Der Oberbürgermeister bittet einen Helfer, ihnen noch ein T-Shirt zu geben. „Es ist so heiß, die Menschen schwitzen“, sagt er. Und zu den Journalisten: „Ungarn verhält sich unmöglich.“ Es sei nicht richtig, die Vorteile der Währungsunion zu nutzen, aber bei Herausforderungen die „nationalistischen Interessen“ zu verfolgen.

Reiter freut sich über die vielen Helfer und zeigt auf zwei hochgewachsene Männer, die gerade in Anzügen und Sonnenbrillen 100 Brezeln abgeben. Johannes Malkmes und Benedikt von Canal arbeiten bei Ernst & Young an der Donnersbergerbrücke. Heute haben sie den „Welcome Day“ in ihrem Büro, neue Mitarbeiter werden mit mit einem kleinen Buffet begrüßt. Also haben sie die 100 Brezn eingepackt und sind hierher gekommen, nachdem sie morgens in der Zeitung erfahren haben, welches Beben München erwartet. Und sie wollen noch öfter kommen, an diesem Tag. Papier, Stifte und weiteres Essen möchten sie bringen. Es könne einfach nicht wahr sein, dass in einem der reichsten Länder der Welt die Menschen auf der Straße schlafen.

Das Kreisverwaltungsreferat hat die Turnhalle des Luisen-Gymnasiums gemietet, in der Nähe des Hauptbahnhofs, um weitere Menschen kurzfristig unterzubringen. Noch sei der Ansturm zu bewältigen, versichern die Polizeisprecher. Die Situation kenne man ja eigentlich seit Monaten, nur kämen jetzt geballt mehr Asylsuchende an. Wie alle anderen hat sich die Polizei am Montag aber auf das Schlimmste vorbereitet. Und noch etwas ist nun anders: Die Erstregistrierung wurde erstmal verschoben. Alle haben sich darauf geeinigt, dass jetzt die humanitäre Hilfe an erster Stelle steht.

Olga Havenetidis, Silviu Mihai, Reinhard Frauscher

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