Züge aus Ungarn: 1000 Flüchtlinge eingetroffen, 1600 weitere unterwegs
Nachdem die Polizei in Budapest die Bahnsteige freigegeben hatte, reisten am Montag rund 1000 Flüchtlinge per Bahn nach Deutschland. 1600 weitere sind unterwegs.
Die Flüchtlingskrise in Europa hat sich am Montag nochmals verschärft: Die ungarische Polizei zog sich vom Budapester Ostbahnhof zurück, wo Hunderte festsitzende Migranten seit dem Morgen in nun völlig überfüllte Züge nach Wien, aber auch nach München und Berlin stiegen.
Insgesamt wurden einem Polizeisprecher zufolge am Montag in München rund 800 Flüchtlinge verteilt auf fünf Züge gezählt. Auch in Rosenheim kamen laut Bundespolizei 190 Flüchtlinge aus Budapest an. Am Dienstag werden weitere Flüchtlingszüge aus Ungarn am Münchner Hauptbahnhof erwartet. Die Bundespolizei rechnet im Laufe des Morgens mit der Ankunft Hunderter Menschen, wie ein Sprecher sagte. Auf dem Weg nach Deutschland haben nach Angaben der Landespolizeidirektion etwa 1600 Flüchtlinge die Nacht am Bahnhof in Salzburg verbracht. Gegen 4 Uhr sei der erste Zug gestartet.
Unterdessen haben am Montagabend in Wien etwa 20.000 Menschen für einen besseren Umgang mit Flüchtlingen demonstriert. Die Teilnehmer einer Kundgebung trafen sich vor dem Westbahnhof und zogen dann weiter durch das Zentrum der österreichischen Hauptstadt, wie die Polizei mitteilte. Der Fund eines Lastwagens mit 71 toten Flüchtlingen auf einer Autobahn im Burgenland hatte in der vergangenen Woche für Entsetzen gesorgt. Im Wiener Stephansdom wurde bei einem Trauergottesdienst der Toten gedacht. "Genug des Sterbens, genug des Leides und der Verfolgung", sagte Kardinal Schönborn während der Messe, an der auch mehrere Regierungsmitglieder teilnahmen.
Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann kritisierte seinen ungarischen Amtskollegen wegen des Umgangs mit den Asylsuchenden. "Dass die in Budapest einfach einsteigen (...), und man schaut, dass die zum Nachbarn fahren - das ist doch keine Politik", sagte Faymann am Montagabend im ORF-Fernsehen. Ministerpräsident Viktor Orban müsse dafür sorgen, dass in seinem Land Gesetze eingehalten würden und es Kontrollen gebe. "Wo ist denn da der starke Regierungschef der immer auffällt durch besonders undemokratische Maßnahmen", sagte Faymann.
Große Hilfsbereitschaft am Bahnhof in Wien
Zugleich ließen viele Bürger den Flüchtlingen am Bahnhof in Wien unmittelbare Hilfe zukommen. Über Twitter verbreiteten sich Meldungen von Dolmetschern, die sich auf den Bahnsteigen organisierten, und hunderten Helfern, die Wasser unter den Asylsuchenden verteilten.
Der erste Zug erreichte am Montag gegen 18.30 Uhr den bayerischen Bahnhof Rosenheim. Die Bundespolizei holte rund 190 Flüchtlinge aus dem Zug, um sie zu registrieren. Die übrigen rund 200 Flüchtlinge konnten nach München weiterreisen. Dort kamen sie gegen 19 Uhr an. Die Polizei nahm sie in Empfang und führte sie zur Registrierung in eine Nebenhalle. Passanten verteilten spontan Wasserflaschen und Süßigkeiten an die Neuankömmlinge.
Zuvor waren zwei völlig überbesetzte Schnellzüge aus Budapest auf dem Weg nach Wien an der Grenze gestoppt worden. Österreichische Beamte seien in Hegyeshalom zugestiegen, sagte ein Polizeisprecher. Ein sicherer Betrieb sei nicht mehr möglich gewesen, hieß es von Seiten der Österreichischen Bundesbahn. Die Beamten sollten die etwa 150 Flüchtlinge an Bord kontrollieren. Wer bereits in Ungarn Asyl beantragt habe, dürfe nicht nach Österreich einreisen, sagte der Polizeisprecher. Die anderen würden mit einem Regionalzug nach Wien gebracht.
Sollten sie in Österreich Asyl beantragen, würden sie auf Aufnahmezentren verteilt. Alle anderen würden nicht daran gehindert, nach Deutschland weiterzureisen. In dem Schnellzug befanden sich insgesamt 300 Reisende.
Die Bahn erwartete auch weiterhin Verspätungen auf der Strecke zwischen Budapest und Wien. Der Einsatz von Ersatzzügen wurde geplant. Auf der Internetseite der Deutschen Bahn hieß es zu dem Nachtzug, der am Montagabend in Richtung Salzburg startete: "Verspätungen möglich, Grund: Polizeieinsatz". Entsprechend galt das auch für die Nachtzugverbindung von Budapest nach Berlin. Schließlich fuhr der Zug mit seinen Kurswagen dann aber doch halbwegs pünktlich ab, mit einigen Dutzend Flüchtlingen an Bord.
Es fehlte an Wasser und Nahrung
Viele der Flüchtlinge stammen aus Syrien. Die Linken-Bundestagsabgeordnete Annette Groth war am Montag nach Budapest gereist und hatte sich ein Bild von den Zuständen im Ostbahnhof gemacht. "Was hier geschieht, ist eine Schande für Europa", sagte Groth dem Tagesspiegel. Kinder lagerten auf kleinen Decken, es fehle an Wasser und Nahrungsmitteln. Die Linken-Politikerin hat in den vergangenen Tagen die Route von Flüchtlingen zwischen Griechenland und Ungarn bereist. "Nirgendwo war es so schlimm wie hier am Budapester Ostbahnhof."
Einheimische Helfer bemühten sich zwar, den Menschen zu helfen, doch dies reiche nicht aus. Andere Organisationen wie das Rote Kreuz oder das UN-Flüchtlingshilfswerk seien nicht präsent. Nach Informationen Groths sei ihr Einsatz von den ungarischen Behörden nicht erwünscht.
Verwirrung um Sonderzüge nach Deutschland
Die stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Eva Högl, begrüßte Überlegungen, syrische Bürgerkriegsflüchtlinge aus Budapest mit dem Zug nach Deutschland zu bringen. "Wir brauchen sichere und legale Wege nach Europa für Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen", sagte sie dem Tagesspiegel. "Wir müssen mit allen Mitteln verhindern, dass Menschen auf der Flucht im Mittelmeer ertrinken oder in Lkws ersticken. Dazu müssen wir auch über neue Wege nachdenken. Wenn jetzt syrische Flüchtlinge mit dem Zug nach Deutschland gebracht werden, ist das eine Idee, die man ernsthaft prüfen sollte."
Zuvor hatte es widersprüchliche Nachrichten zum möglichen Einsatz von Sonderzügen gegeben, die Deutschland einsetzen könnte, um syrische Flüchtlinge aus Ungarn zu holen. Darüber hatte zunächst am späten Sonntagabend die freie Journalistin Marta Orosz auf Twitter berichtet und sich auf lokale Quellen bezogen. Der Bayerische Rundfunk unter Berufung auf das ARD-Studio Wien/Südosteuropa bekannt, "dass Züge gechartert werden, um syrische Flüchtlinge von Ungarn nach Deutschland zu bringen". Später revidierte der Sender seine Angaben. Das Auswärtige Amt nannte Meldungen über Sonderzüge "eine Ente".
Auch der Presseattaché der ungarischen Botschaft in Berlin, Anzelm Barany, erklärte, Berichte über Sonderzüge mit Bürgerkriegsflüchtlingen aus Syrien seien falsch. "Es gibt keine solchen Züge", sagte er dem Tagesspiegel. Er sagte weiter: "Das ist eine sehr gefährliche Nachricht, weil sich auf dem Bahnhof immer mehr Flüchtlinge versammeln. Wenn sie solche Enten hören, werden sie immer ungeduldiger und die Lage spitzt sich zu." Regierungssprecher Steffen Seibert dementierte auf Twitter, dass es Sonderzüge geben könnte.
Bis zum Montag saßen laut der Hilfsorganisation Migration Aid bis zu 2000 Asylbewerber auf Budapester Bahnhöfen fest, weil ihnen das offenbar überforderte Einwanderungsamt keine Lager mehr zuweise. Auch am späten Montagabend versuchten noch Hunderte, Fahrkarten für die Reise Richtung Norden zu bekommen.
Wie der Tagesspiegel aber aus ungarischen Regierungskreisen erfuhr, hatte das ungarische Innenministerium sich gegen Überlegungen gewandt, Sonderzüge einzusetzen, um Bürgerkriegsflüchtlingen die Einreise nach Deutschland zu ermöglichen. Das Ministerium verwies dabei darauf, dass es fast allen der Syrien-Flüchtlinge an den notwendigen Papieren für die Ausreise fehle.
Auch die ungarische Eisenbahngesellschaft hatte argumentiert, es fehle vermutlich an Zügen, das Vorhaben könne deshalb auf Probleme stoßen. Sonderzüge mit syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen nach Deutschland hätten in der Öffentlichkeit als Ohrfeige für die rechtspopulistische Budapester Regierung aufgefasst werden können. Sie steht wegen des Baus des am Wochenende in der ersten Etappe fertiggestellten Grenzzauns zu Serbien ohnehin international unter erheblichem Druck.
Sonderzüge hätten einen hohen Symbolwert
"Wer nach Ungarn kommt, muss sich dort registrieren lassen und das Asylverfahren dort durchführen", erklärte das Bundesinnenministerium. Die Behörde wies ebenfalls Gerüchte zurück, wonach die Bundesrepublik syrische Flüchtlinge mit Sonderzügen nach Deutschland hole. Auch habe Deutschland keineswegs die Regel ausgesetzt, wonach derjenige Mitgliedstaat für ein Asylverfahren zuständig ist, in dem ein Asylbewerber erstmals europäischen Boden betritt.
Die ungarische Regierung hatte zuvor von Deutschland eine "Klärung der juristischen Fragen" zur Weiterreise von in Ungarn gestrandeten Flüchtlingen gefordert. "Während Ungarn sich an die EU-Regeln hält, legt Deutschland ein nachgiebigeres Verhalten an den Tag", sagte ein Regierungssprecher. Ungarn befolge die Regel, dass ein Mitgliedsland Nicht-EU-Bürger nur dann in ein anderes Mitgliedsland reisen lassen dürfe, wenn diese über ein gültiges Visum für dieses Land verfügten.
Sonderzüge aus Osteuropa nach Deutschland, zumal besetzt mit Flüchtlingen, hätten einen hohen Symbolwert, da während der Wendezeit nach Tschechien und Ungarn geflohene DDR-Bürger mit Sonderzügen in die Bundesrepublik gefahren wurden.
Immer wieder war es am Ostbahnhof in Budapest in den vergangenen Wochen zu Auseinandersetzungen mit der Polizei gekommen, die Flüchtlinge am Besteigen von Zügen hinderte. Die ungarischen Behörden wollten diesen Ausnahmezustand am Ostbahnhof in Budapest nicht länger akzeptieren. Ursprünglich hatten sie deshalb vor, die Flüchtlinge auf einem etwa 4000 Quadratmeter großem Grundstück in der Nähe des Bahnhofs unter polizeilicher Bewachung festzuhalten. Diese Pläne haben sich nun möglicherweise erledigt. (mit dpa, AFP, Reuters)
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